Kapitel 11

 

Menolly brummte, weil sie in meinem Jeep mitfahren musste, und ich gab ihr die passende Antwort. Vanzir lachte vom Rücksitz aus. Wir fuhren zuerst zu Doug Smith - er wohnte oben auf dem Queen Anne Hill, einem der höchsten Hügel von Seattle. Die Gegend war recht nobel, und ich stellte fest, dass mich der Gedanke überraschte, ein Werwolf könnte sich hier ein Haus leisten. So viel zu meinen eigenen Vorurteilen.

Während ich durch den strömenden Regen starrte, der meine Scheibenwischer in Hektik versetzte, erzählte Menolly Vanzir, was Trenyth bei uns gewollt hatte. Vanzir schwieg eine Weile, dann räusperte er sich.

»Ich weiß, dass ihr euren Vater liebt, aber das ist wirklich eine beschissene Art. Wenn er es mit der Königin treibt, wie ihr vermutet, dann wette ich zehn zu eins, dass die ihn dazu gebracht hat.« Er beugte sich vor und spähte zwischen den Vordersitzen hindurch. »Camille und ich haben nicht viel gemeinsam, aber sie ist schwer in Ordnung. Und sie tut, was sie tun muss. Wahrscheinlich passt es eurem Daddy einfach nicht, dass sie Trillian geheiratet hat, und als die Königin ihm einen guten Vorwand geliefert hat, Camille eine reinzuwürgen, hat er die Chance genutzt.«

Was er da sagte, klang logisch. Verdammt, ich dachte seit etwa einer Stunde ungefähr dasselbe. »Wir könnten ja Großmutter Kojote fragen, was wir tun sollen.«

Menolly stieß ein scharfes Fauchen aus. »Camille schuldet Großmutter Kojote schon die Bezahlung für ihren letzten

Rat. Schon vergessen? Die Alte hat ihr gesagt, dass ein Opfer gebracht werden müsse. Vielleicht ist es das.«

»Das glaube ich nicht. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Henry das Opfer war, aber von dieser Vermutung würde ich Camille nie erzählen. Sonst fühlt sie sich noch verantwortlich für seinen Tod.« Ich riss das Lenkrad herum, um einem Hund auszuweichen, der plötzlich über die Straße rannte, und da mir auf der einsamen Vorortstraße gerade keine Autos entgegenkamen, schaltete ich das Fernlicht ein.

»Sie fühlt sich sowieso dafür verantwortlich. Die Schuldgefühle wegen dieses alten Knaben wird sie nie überwinden. Aber ihr beiden Hühner überseht das Wichtigste. Und das ist nicht die Frage, was diese Sauerei ausgelöst hat, sondern wie ihr jetzt damit umgeht. Wollt ihr Camille zur Seite stehen oder zulassen, dass die sie in den Staub trampeln?« Vanzir klatschte von hinten an den Beifahrersitz. »Hat eine von euch sich die Mühe gemacht, euren Vater wissen zu lassen, was ihr von der ganzen Sache haltet?«

Ich warf Menolly einen raschen Blick zu, die ihn etwas verblüfft erwiderte. Und es gehörte schon einiges dazu, Menolly zu verblüffen. »Wir haben Trenyth eine Nachricht für ihn mitgegeben ...«

»Nachricht? Was denn, Mensch, Daddy, ich finde es nicht nett, was du meiner Schwester angetan hast? Ihr zwei seid wirklich nicht zu fassen. Wie könnt ihr so tödlich und wunderschön und zugleich solche Feiglinge sein? Pah.« Vanzir lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. Ich schaute in den Rückspiegel, und er warf mir mit hochgezogenen Augenbrauen einen herausfordernden Blick zu.

»Er hat recht«, sagte ich nach ein paar Minuten.

»Ja, aber das wollte ich erst nach einer ganzen Weile zugeben. Lass mir doch einen letzten Rest Würde.« Menolly seufzte tief - natürlich nur um des Effekts willen.

Manchmal musste es schön sein, dachte ich, in der Parfümabteilung oder vor dem Waschmittelregal nicht atmen zu müssen. Kopfschüttelnd lenkte ich meine Gedanken wieder auf das eigentliche Thema.

»Also, wollen wir den Flüsterspiegel anwerfen und Vater die Hölle heißmachen?«, fragte ich vorsichtig.

Menolly stieß einen leisen Pfiff aus und nickte. »Sieht ganz danach aus, nicht?«

Vanzir lachte sanft vom Rücksitz her.

 

Als ich am Straßenrand hielt, überkam mich ein unheimliches Gefühl. Dougs Haus war ein zweigeschossiges Monstrum mit zu vielen kleinen Fenstern. Drinnen brannte kein Licht, und der Garten wirkte überwuchert und ungepflegt. Der einzige Lichtschein kam von der Lampe neben der Haustür, die die Vordertreppe beleuchtete. Oder vielmehr die Steinplatte, die sich als Vordertreppe ausgab.

Wir stiegen aus. Eine Reihe geborstener Steinstufen führte in den Vorgarten, der zum Haus hin anstieg. Ich warf einen Blick auf den Briefkasten vor der Treppe. Die Klappe war halb geöffnet, und als ich sie aufzog, quoll die Post heraus. Stirnrunzelnd sammelte ich die Briefe auf, sah nach dem Adressaten - Doug Smith, wir waren hier also richtig - und stopfte sie wieder in den Briefkasten.

Im wuchernden Unkraut, das sich anstelle von Rasen vor dem Haus ausbreitete, hingen ganze Laubschichten, kupferfarben, braun und gelb. Der gepflasterte Weg war rissig, Un kraut drängte sich durch die Ritzen empor und verschob die

Platten. Farne und Gestrüpp wucherten unter den Fenstern und breiteten sich an den Mauern entlang aus.

Das Haus war alt und verwittert. Die Farbe blätterte von den Wänden, mehr als handtellergroße Stücke waren abgeplatzt. Die Fenster öffneten sich nach innen, und die schützenden Winterfenster waren von außen einfach darangenagelt statt ordentlich eingepasst. Zur Haustür gelangte man über eine weitere Treppe aus steilen Steinstufen - vierzehn insgesamt. Ein schmiedeeisernes Gitter rahmte die Treppe ein, und ich achtete darauf, es nicht zu berühren, während wir die schmalen Stufen emporstiegen. Das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war eine hässliche Brandwunde.

Ich zögerte kurz, dann drückte ich auf die Klingel. Wir konnten es drinnen läuten hören. Als niemand kam, klingelte ich noch einmal und pochte kräftig an die Tür. Nichts.

Ich wechselte einen Blick mit Menolly und holte meinen Satz Picks hervor. Nur wenige Leute wussten, dass ich Schlossknacker-Werkzeug besaß, aber es war sehr praktisch. Nachdem ich mal in einem Nebenraum eingeschlossen gewesen war, während draußen die Ladenbesitzerin von einer Harpyie getötet wurde, hatte ich in aller Stille dafür gesorgt, dass ich nie wieder hilflos in einem Raum festsitzen würde. Jedenfalls nicht, wenn die Tür ein relativ einfach zu knackendes Schloss hatte. Ich machte mich an die Arbeit, und einen Moment später hörte ich ein schwaches Klick. Ich drehte am Türknauf, und die Haustür schwang auf.

Leise drückte ich sie weiter auf und schob mich durch den Spalt. Ich lauschte nach dem kleinsten Geräusch, suchte nach Anzeichen von Bewegung. Aber das Haus fühlte sich kalt und leer an. Ich bedeutete Menolly und Vanzir, mir zu folgen. Menolly schloss leise die Tür hinter sich.

Die Fliesen im Flur waren abgewetzt, die Farbe an den Wänden verblasst. An diesem Haus musste dringend etwas getan werden. Ich schlich mich voran und gab den anderen ein Zeichen, ja leise zu sein. Ein vorsichtiger Blick in das dunkle Wohnzimmer zeigte mir, dass es ebenso leer war, wie es sich anfühlte.

Vanzir tippte mir an den Oberarm und raunte kaum hörbar: »Vielleicht schläft er gerade?«

Ich schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Menolly, geh du nach oben und sieh nach - du bist leiser als wir beide.«

Als sie sich an mir vorbeischob, so lautlos wie ein Schatten, hoffte ich, dass Doug Smith oben in seinem Schlafzimmer lag. Im allerbesten Fall würde er aufwachen und ausrasten, weil wir uns in sein Haus geschlichen hatten. Das wäre mir jedenfalls lieber gewesen als die möglichen Alternativen.

Ich winkte Vanzir näher zu mir heran. »Sieh dich mal im Wohnzimmer um, aber leise. Ich gehe hier durch.« Mit einem Nicken wies ich auf einen Durchgang, der offenbar zu einer großen Wohnküche führte. Der Strukturputz an den Wänden und die gesamte Einrichtung erweckten den Eindruck, als sei das Haus in den Sechzigern oder frühen Siebzigern steckengeblieben.

Ich betrat den Raum, der sich tatsächlich als Küche entpuppte, und sah mich um. Niemand da. Im trüben Lichtschein einer Straßenlaterne hinter dem Garten, das durchs Fenster hereinfiel, konnte ich einen Stapel schmutziges Geschirr in der Spüle erkennen, mit Essensresten verkrustet. Fliegen summten um die Teller.

Neugierig warf ich einen Blick in den Kühlschrank. Mehrere geöffnete Verpackungen bestätigten meine Ahnung. Man hätte unmöglich bestimmen können, was das einmal für

Lebensmittel gewesen waren - ganze Landschaften aus Schimmel gediehen darauf. In einem Fach lag eine Melone, halb zerfallen. Ich schloss die Tür. Menolly würde oben niemanden finden, da war ich sicher. Wo immer er jetzt sein mochte, Doug Smith war schon eine ganze Weile nicht mehr zu Hause gewesen.

Vanzirs Kopf erschien im offenen Durchgang. »Nichts. Menolly sieht noch im Keller nach. Ich glaube, ich habe Spuren eines Kampfes entdeckt, aber das ist schwer zu sagen, wenn ich kein Licht machen kann.«

»Warte noch, bis sie zurückkommt. Ich glaube nicht, dass sie da unten irgendetwas oder irgendjemanden finden wird.« Ich entdeckte eine Rolle Küchenpapier, riss ein Stück ab und wischte mir die Hände. Das Geschirr im Spülbecken hatte ich zwar nur mit den Fingerspitzen berührt, aber ich fühlte mich schmutzig.

Menolly erschien. »Niemand im Haus.«

»Danke.« Ich drückte auf den Schalter, und das Licht ging an. Die Küche sah noch schlimmer aus, als ich sie mir ausgemalt hatte. Verkrustete Töpfe und Pfannen und Geschirr füllten nicht nur die Spüle, sondern auch das Abtropfbrett daneben. Auf der Arbeitsfläche lag ein Schneidebrett mit einer vergammelten Tomate und einem stinkenden Stück Fleisch darauf. Es sah aus, als sei jemand mitten in den Vorbereitungen fürs Abendessen unterbrochen worden.

»Such mal den Lichtschalter im Wohnzimmer«, bat ich Vanzir.

Wir folgten ihm, und als eine trübe Deckenlampe den Raum erhellte, sah ich sofort, wovon er gesprochen hatte. Ein Schreibtisch war in eine Ecke gerückt, ein abgewetztes Sofa stand vor dem Fernseher, und ein Regal an der Wand quoll über von Büchern. Der Raum war aufgeräumt, wenn auch ein wenig schäbig. Bis auf eine Stelle in der Nähe des Schreibtischs. Eine Schreibtischschublade war herausgerissen und umgekippt worden. Der Inhalt hatte sich auf dem Teppich verteilt. Eine Lampe war umgekippt, die Glühbirne zerbrochen. Und eine Ecke des Schreibtischs war leer - davor waren Unterlagen über den Fußboden verstreut.

Ich kniete mich daneben. Der beigefarbene Teppich hatte braune Flecken. »Menolly, sieh dir das mal an. Ist das Tinte oder ...?«

Sie hockte sich neben mich, beugte sich hinab und sog die Luft ein. Ihre Nasenflügel blähten sich. »Blut. Das sind Bluttropfen.«

»Scheiße.« Wir suchten weiter und fanden noch mehr Flecken. »Wir rufen wohl besser Chase an. Das hier sieht nicht gut aus.«

»Er wird wissen wollen, was wir in diesem Haus zu suchen haben. Ob es uns gefällt oder nicht, offiziell sind wir hier eingebrochen«, wandte Vanzir ein. »Aber ... wir könnten wohl behaupten, wir hätten uns Sorgen gemacht. Und auf die Bitte eines Freundes nach dem Rechten sehen wollen. Was im Grunde sogar stimmt. Wenn Nerissas Freundin seinetwegen besorgt ist...«

»Ja. Wir sind vielleicht eingebrochen, aber das spielt keine Rolle. Was immer hier passiert ist ... kann nicht gut sein. Ich frage mich, ob noch Spuren von Wolfsdorn zu finden sind. Ich kann nichts riechen. Die Blutspuren sind älter, der Kampf ist schon eine Weile her.« Ich stand auf und zückte mein Handy. Das AETT-Hauptquartier war nach Camilles und Menollys Handy und dem Telefon zu Hause die vierte Kurzwahlnummer.

Chase nahm ab. »Johnson. Was gibt's?«

»Ich bin's, Delilah. Wir haben ein Problem, Chase. Abgesehen von Amber ist mindestens ein weiterer Werwolf verschwunden, wahrscheinlich sogar drei. Und wir wissen, dass dieser erste sein Haus nicht freiwillig verlassen hat. Wir haben Blut auf dem Teppich gefunden.« Ich nannte ihm die Adresse und wandte mich dann an Vanzir. »Könntest du rausgehen und die Post hereinholen? Vielleicht finden wir darin irgendeinen Hinweis.«

Er nickte und eilte aus dem Haus.

Menolly schüttelte den Kopf. »Also, zwei hätten wir, bleibt noch einer. Was wetten wir, dass Saz Star Walker auch nicht zu Hause ist?«

Wir setzten uns auf die Treppe vor der Haustür und warteten, bis Chase und sein Team vorfuhren. Er runzelte die Stirn, als er die offene Tür und das hellerleuchtete Haus sah. Als er mit seinen Leuten die Stufen hochstieg, hob ich die Hand.

»Spar dir die Vorträge. Wir haben gehört, dass er verschwunden sei, und jemand hat mich gebeten, nach ihm zu sehen. Da Wolfsdorn im Spiel sein könnte, wollten wir der Sache sofort nachgehen. Sieht so aus, als wäre Doug schon seit einer Weile weg.« Ich deutete auf den Stapel Post. »Das haben wir gerade aus dem Briefkasten geholt in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden. Und er ist nicht der Einzige. Franco Paulo, ebenfalls ein Werwolf, ist auch schon viel zu lange weg. Seine Verlobte ist verrückt vor Sorge. Und wir müssen noch heute Nacht nach Saz Star Walker schauen.«

Chase und sein Team durchkämmten das Haus, nahmen Fingerabdrücke, suchten nach Spuren, fotografierten und steckten Zeug in Tütchen. Er reichte mir ein Paar Handschuhe. »Jetzt darfst du uns helfen. Nimm dir mal den Schreibtisch vor. Such nach einem Adressbuch oder Kontaktdaten von Verwandten, damit wir feststellen können, ob es sich vielleicht nur um einen Einbruchsdiebstahl handelt.«

»Diebstahl? Mit Blutspritzern?« Ich neigte den Kopf zur Seite, und er zuckte mit den Schultern.

Während ich in Dougs Schreibtischschubladen herumstöberte, dachte ich über das Leben dieses Werwolfs nach. Das Haus war ziemlich karg. In der Küche lag nur ein Platzset auf dem Tisch. Keine Fotos an den Wänden, nichts, was auf Freunde oder Familie hinwies. Das alles erschien mir irgendwie traurig.

Ich hielt inne, als ich auf ein leinengebundenes Büchlein stieß. Was haben wir denn hier?

Bingo, dachte ich, als ich es aufschlug - ein Adressbuch. Ich setzte mich und blätterte es durch. Zuerst schaute ich unter S. Seine Eltern oder Geschwister müssten hier stehen. Aber da war niemand namens Smith. Allerdings sah ich Saz Star Walkers Namen. Ich zeigte ihn Chase und machte dann beim F weiter, und tatsächlich, da war Paulo Franco samt Telefonnummer. Katrina stand auch in dem Buch. Ansonsten fand ich nur recht wenige Einträge, darunter die Nummer der Loco Lobo Lounge - einem Treffpunkt des Loco-Lobo- Stammes. Das war Exo Reeds Rudel. Hatte Doug auch zu den Loco Lobos gehört? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Ich wählte die Nummer der Loco Lobo Lounge, und obwohl es schon spät war, ging nach dem ersten Klingeln jemand dran.

»Loco Lobo Lounge, Jimmy Trent. Wie hätten Sie's gern?«

Ich räusperte mich. »Ich hätte gern Doug Smith gesprochen. Könnten Sie ihn bitte anpiepen?«

»Könnte ich, aber ich garantiere Ihnen, dass er heute Nacht nicht hier ist. Ich habe ihn schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.« Jimmy klang geistesabwesend, und die Musik im Hintergrund dröhnte so laut durch den Hörer, dass ich mich fragte, wie er mich überhaupt verstehen konnte.

»Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen? Mein Name ist Delilah D'Artigo, ich bin im Vorstand des ÜW-Gemeinderats. Wir müssen Doug dringend erreichen.« Wenn irgendetwas ihm eine Antwort entlocken könnte, dann das. Und ich behielt recht.

»D'Artigo? Die Delilah D'Artigo?«

»Genau die.«

»Doug war vor etwa zwei Wochen hier. Da habe ich ihn und seine Kumpel das letzte Mal gesehen.«

Seine Kumpel? Ich runzelte die Stirn. »Meinen Sie damit zufällig Paulo Franco und Saz Star Walker?«

»Ja. Woher wissen Sie das? He, die Jungs stecken doch nicht etwa in Schwierigkeiten, weil sie irgendwelchen Ärger gemacht haben, oder?« Er klang aufrichtig besorgt.

Ich seufzte. »Nicht dass ich wüsste, nein. Vielen Dank.« Als ich auflegte, dachte ich, dass sie sehr wohl in Schwierigkeiten steckten. Es sei denn, sie hatten plötzlich alles stehen- und liegengelassen, ein bisschen Blut auf Dougs Teppichboden getropft und einen längeren Ausflug gemacht, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen.

Chase tippte mir aufs Knie. Ich starrte einen Moment lang auf seine Finger und erinnerte mich an andere Stellen, die seine Hände berührt hatten. Stellen, die ihn wärmstens empfangen hatten. Aber jetzt ... Ach, scheiß drauf. Am besten gar nicht daran denken.

»Was ist?«

»Den Briefkasten hat er seit drei Wochen nicht geleert.« Er hielt einen Brief hoch. »Dieser Poststempel ist der früheste. Nach Datum und Stadt, wo der Brief aufgegeben wurde ... ja, genau drei Wochen her.« Er blätterte die übrigen Umschläge noch einmal durch. »Sind wohl vor allem Rechnungen. Keine persönlichen Briefe. Ein bisschen Werbung. Eine Penthouse.«

»Drei Wochen. Das passt zu dem, was Katrina gesagt hat - seit wann sie ihre Kumpel nicht mehr gesehen hat. Morgen spreche ich mit Paulos Verlobter. Was ist mit Saz? Sollen wir gleich heute Nacht bei ihm vorbeischauen?«

Chase begann, seinen Kram einzusammeln. »Ja. Ich sage meinen Leuten, dass sie hier den Rest erledigen und sich dann bereithalten sollen, uns nachzufahren, falls Star Walker ebenfalls verschwunden ist.« Er folgte mir nach draußen, und die anderen blieben ein Stückchen zurück.

»Geht's dir gut?«, fragte er leise.

»Oh, phantastisch. Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht, ein Haufen Werwölfe sind verschwunden, meine Schwester wurde von unserem Vater verstoßen, und das alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Es geht mir prächtig, Chase. Ganz prächtig.«

»Verstoßen? Wer? Doch nicht etwa Camille?«

»Ja, Camille. Obendrein wurde sie aus Y'Elestrial verbannt. Aber mach dir deswegen keine Gedanken. Das ist unser Problem, nicht deins.« Ich wusste, dass ich mich gemein und zickig anhörte, aber ich konnte nicht anders - ich fühlte mich auch so.

Chase blieb stehen, drehte sich um und fasste mich bei den Schultern. Er ignorierte die anderen, die diskret an uns vorbeieilten.

»Hör mal, Delilah, das ist auch für mich sehr schwer.« Er ließ den Kopf hängen. »Glaub ja nicht, das wäre mir leichtgefallen. Aber ich muss mir darüber klarwerden, wie zum Teufel mein Leben in Zukunft aussehen soll, und das kann ich nicht, wenn ich mir dabei Sorgen um eine Freundin, eine Geliebte oder sonst jemanden in der Richtung machen muss. Was, wenn ich zu dem Schluss komme, dass ich das hier gar nicht will? Wenn der Nektar des Lebens mich wahnsinnig macht, für immer? Ich hatte nun mal nicht die Chance, die nötigen Rituale zu vollziehen, und ich habe es zurzeit verdammt schwer. Ja, ich bin sehr dankbar dafür, dass ich noch lebe, aber diese Sache hat mich total durcheinandergebracht. Herrgott, Frau, du glaubst doch nicht, ich wäre gestern einfach aufgewacht und hätte beschlossen: He, das wäre ein guter Tag, um Delilahs Leben zu ruinieren?«

Ich hielt den Atem an und begann zu zittern. Mir wurde kalt, und obendrein trafen seine Worte mich wie ein klatschnasses Laken. »Nein«, sagte ich leise. »Nein, das glaube ich nicht. Du hast ja recht. Ich bin nur ... Im Moment ist alles so seltsam, dass ich nicht mehr weiß, was ich davon halten soll. Alle unsere Grundfesten wackeln.«

»Ich bin immer noch für dich da - als dein Freund, dein Bruder ... als jemand, dem du etwas bedeutest. Ich kann es nur nicht riskieren, dich zu lieben. Am Ende tue ich dir womöglich wieder weh, oder Schlimmeres. Und das wäre schrecklich.« Er zog mich in seine Arme, und ich legte die Wange auf seine Schulter.

»Danke«, nuschelte ich. »Ich bin im Moment völlig durcheinander. Und es steht so viel auf dem Spiel.« Er drückte mich an sich, tätschelte mir den Rücken und beruhigte mich, bis ich schließlich sacht von ihm abrückte und ihm in die Augen sah.

Chase erwiderte meinen Blick. In seinen Augen funkelte etwas, was ich noch nie zuvor darin gesehen hatte - ein knisternder Anflug von Magie, die nur darauf wartete, hervorzubrechen. Und wenn das geschah ...

»Du hast recht«, sagte ich und holte langsam und tief Luft. »Du musst dich auf die Veränderungen konzentrieren, die du gerade durchmachst. Ich bin nicht willensschwach. Ich vermisse dich nur. Aber, Chase, ich flehe dich nicht an, zu mir zurückzukommen, und mein Leben ist nicht zu Ende, weil wir nicht mehr zusammen sind. Ich bin ein großes Mädchen. Ich komme mit Veränderungen klar.« Ich lächelte ihn an und ging weiter zu meinem Jeep, wo Menolly und Vanzir auf mich warteten.

Chase folgte mir und holte mich ein, ehe ich die Fahrertür öffnen konnte. »Delilah - du weißt, dass es keine andere Frau gibt, oder? Ich suche nicht nach einer neuen Mieze.«

Das zarte Grinsen auf seinem Gesicht brachte mich zum Lachen.

»Da ist doch das Lächeln, das ich kenne und liebe. Wir sehen uns gleich bei Star Walker. Fahr nicht zu schnell, hörst du?«

»Jawohl, Officer!« Ich sprang auf den Fahrersitz, schnallte mich an und fuhr ohne ein weiteres Wort los. Irgendwie hatte Chases Humor es geschafft, meine Niedergeschlagenheit zu durchdringen, und obwohl ich mich den Tränen nahe fühlte, lächelte ich.

Saz wohnte im Rinnstein der Stadt, in der Junkie-Gosse, am Straßenstrich, wie immer man die Gegend nennen wollte. Wir fuhren durch ein echtes Glasscherbenviertel. Die Adresse, die Yugi ausgegraben hatte, gehörte zu einem Haus mit vier

Wohnungen. Wenn Dougs Haus schon bessere Tage gesehen hatte, dann musste man bei dieser Bruchbude von besseren Jahrhunderten sprechen. Der Carport sah so aus, als würde er bei der nächsten kräftigen Böe zusammenbrechen, und ich parkte weit genug weg davon. Offenbar empfanden die anderen Mieter genauso - keiner der Parkplätze darunter war besetzt, obwohl ich in zwei Wohnungen Licht sah.

Chase stellte sein Auto auch nicht dort ab. Als er ausstieg, winkte er mir zu, und ich lief hinüber. »Wir haben die Nummernschilder der Autos vor Dougs Haus überprüft. Und tatsächlich gehört eines davon ihm. Den Autoschlüssel haben wir auf seinem Schreibtisch gefunden. Keine Brieftasche, aber die hatte er wahrscheinlich in der Tasche. Sieht so aus, als wäre euer Freund tatsächlich entführt worden, aber das ist ein persönlicher Tipp, kein offizieller Bericht.«

Autsch. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, wer ihn entführt haben könnte ... und warum, obwohl mir das Wort Wolfsdorn ständig im Hinterkopf herumgeisterte. Und der wichtigste Inhaltsstoff von Wolfsdorn ...

Ich schüttelte den Kopf, um die unerwünschten Gedanken zu vertreiben, und gab den anderen einen Wink. Wir folgten Chase zur Haustür. Er bedeutete uns, zurückzubleiben - immerhin hatte er eine Dienstmarke -, und klopfte an die Tür der Erdgeschosswohnung. Nichts. Er drückte auf die Klingel. Nichts. Nach ein paar Minuten befahl er einem seiner Männer, sie aufzubrechen, und sie drangen in die Wohnung vor. Chase hielt einen besonderen Revolver in der Hand, von dem ich wusste, dass er ihn mit Silberkugeln lud - die einzige Munition, die bei Werwölfen wirkte.

Kurz darauf ging das Licht an, und Yugi winkte uns herein. Wir schlängelten uns an der aufgebrochenen Tür vorbei durch den Flur und blieben im Wohnzimmer stehen. Die schäbige kleine Wohnung hätte stinknormal gewirkt, wenn hier nicht so offensichtlich ein Kampf stattgefunden hätte.

Bücher waren über den Boden verstreut, Stühle umgeworfen, ein Beistelltisch zertrümmert. Blut war an einer Wand getrocknet und auf den Boden gespritzt. Das Zimmer war gründlich verwüstet worden, und ich blinzelte und schnupperte, als plötzlich eine Wolke über mich hinwegrollte. Auf der Stelle warf ich mich herum und rannte nach draußen.

»Was ist denn?« Chase steckte den Kopf zur Tür hinaus.

»Riechst du das nicht?« Ich verzog das Gesicht, denn mein Kopf schmerzte. »Wolfsdorn. Die Wohnung stinkt danach. Wer auch immer Saz entführt hat, hat Wolfsdorn dazu benutzt. Und ich glaube nicht, dass das schon mehrere Wochen her ist - das Zeug wäre inzwischen verflogen.«

Während ich die offene Tür anstarrte, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Jemand schnappte sich einen Beta-Wolf nach dem anderen in der Gegend, und alles deutete auf Entführung und Mord hin. Ehe ich es verhindern konnte, rollte der Stress der vergangenen vierundzwanzig Stunden wie eine Dampfwalze über mich weg, und ich wandte den Kopf zur Seite und erbrach mich.