Kapitel 5

 

Delilah - was hast du? Warum weinst du? Was ...was riecht hier so?« Chase küsste mich keusch auf die Nasenspitze und schob mich dann von sich, um mir in die Augen zu sehen. Wir waren gleich groß, was sehr schön war, wenn wir aufrichtig und von Herzen miteinander reden wollten. Was wir allerdings im vergangenen Monat herzlich selten getan hatten.

Ich starrte ihn an. Wo sollte ich anfangen? Wie sollte ich sagen Was zum Teufel ist bloß mit dir los?, ohne vorwurfsvoll zu klingen? Ich trat zurück, und er setzte sich ein wenig zimperlich auf die Bettkante.

»Ich rieche nach Stinktier. Ein Skunk hat mich erwischt. Das ist auch der Grund für meine Frisur. Iris hat versucht, mich in meiner Katzengestalt mit Tomatensaft sauber zu bekommen, und der Saft hat mein Haar verfärbt ... scheußlich. Dann haben wir versucht, den Gestank mit Bleichmittel wegzubekommen, davon ist es noch schlimmer geworden. Also habe ich sie gebeten, mir eine rappelkurze Punk-Frisur zu schneiden. So wächst es schnell heraus, und wir brauchen immer nur nachzuschneiden, bis die Farbe weg ist. Findest du sie grässlich?«

Zum ersten Mal seit langer Zeit hörte ich ihn lachen. »Ach, Delilah, das bringst auch nur du fertig. Nein, ich finde deine Frisur nicht grässlich - sie ist anders, aber auch irgendwie süß. Frech, würde ich sagen.« Er brach ab. »Aber was ist mit deinen Armen passiert?«

»Ich hatte heute Nacht meine erste Unterrichtsstunde bei einer anderen Todesmaid. Danach kamen die Tattoos. Sie werden dunkler werden und wachsen, während ich dazulerne.«

»Dann hatte ich also recht«, sagte er leise.

»Womit?«

Chase schüttelte den Kopf. »Schon gut. Das ist jetzt nicht wichtig. Sie sind hübsch. Richtig schön. Du näherst dich immer mehr der väterlichen Seite eurer Familie an, nicht wahr?« Ehe ich antworten konnte, fuhr er fort: »Das mit dem Skunk tut mir leid, aber der Gestank geht doch wieder weg, oder?«

»Luke aus dem Wayfarer hat ein Mittel dagegen. Morgen kann ich es mir abholen, dann dürfte das Problem gelöst sein. Das bringt mir zwar meine Haare nicht zurück, aber was soll's. « Ich lächelte ihn an. Ich hatte ihn zum Lachen gebracht - vielleicht würde die Spannung sich jetzt legen. »Also, rieche ich so schlimm, dass du mich nicht mal berühren willst?«

Er runzelte die Stirn. »Nein ... nein ... allerdings darf dieser Anzug wirklich nichts von dem Gestank abbekommen. Zu teuer.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Ach verdammt. Es tut mir leid, Delilah. Du verdienst eine Erklärung dafür, warum ich in letzter Zeit so reserviert war ...«

Mir schlug das Herz bis zum Hals. Wenn er mich wieder hintergangen hat...

»Ist Erika wieder da?«, flüsterte ich.

Er hob langsam den Blick zu meinem Gesicht und schüttelte dann den Kopf. »Nein, und ich habe auch nicht mit irgendjemand anderem geschlafen. Ich würde dich nicht noch einmal belügen. Aber wir müssen miteinander reden. Wir haben uns doch versprochen, immer ehrlich zu sein.«

Der Ausdruck in seinen Augen brachte mich beinahe zum Weinen. Gequält, allein, nervös - er war ein offenes Buch für mich. Aber da war noch etwas, das ich nicht recht zu fassen bekam. Und ich vermutete stark, dass mir nicht gefallen würde, was er mir zu sagen hatte.

»Was ist? Was hast du?«

Er spielte mit dem Saum seines Jacketts und schüttelte den Kopf. »Du weißt ja, dass ich über vieles nachdenken muss, um zu verstehen, was jetzt mit meinem Leben passiert, oder? Aber was du nicht weißt - und deine Schwestern auch nicht -, ist, dass der Nektar des Lebens mich geöffnet hat. Ich fühle alles Mögliche, spüre die Dinge so intensiv, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Es ist, als hätte sich eine Tür aufgetan und ich wäre in eine völlig neue Welt eingetreten. Sharah sagt, das Elixier hätte meine übersinnlichen Kanäle geöffnet und ich würde irgendwelche Kräfte entwickeln. Sie glaubt, dass ich eines Tages ein ziemlich starker Hellseher sein werde.«

Holla. Damit hatte ich nicht gerechnet, und ein Teil von mir war verletzt, weil Chase damit nicht zuerst zu mir gekommen war, doch ich schob das Gefühl beiseite. Zumindest hatte er sich irgendjemandem anvertraut, statt alles zu verbergen. Ich ging zu ihm, setzte mich neben ihn und nahm seine Hand.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Camille hat fast vermutet, dass so etwas passieren könnte - sie hat im Lauf der Zeit etwas an dir wahrgenommen. Einen Schimmer übersinnlicher Fähigkeiten ... wir wissen nur nicht, woher du die haben könntest. Vielleicht von deinen Eltern oder Großeltern?«

Er nickte. »Ich habe mich auch schon ab und zu gefragt... und ich weiß auch nicht, woher das kommt. Von meiner Mutter garantiert nicht, und ich kenne sonst niemanden von unseren Verwandten - dafür hat sie gesorgt. Kannst du denn verstehen, dass ich einfach ... da ist so viel, was ...«

»Psst - schon gut. Ich verstehe dich. Wirklich. Aber vielleicht könnte ich dir helfen, dich ein bisschen zu entspannen, wenn du mich lässt.« Ich griff nach seinem Hemd und wollte es aufknöpfen, doch er nahm meine Hände und schob sie sanft von seiner Brust.

»Delilah, da ist noch mehr. Ich dachte, es sei noch zu früh, um etwas zu sagen, deshalb habe ich Abstand gehalten, damit ich mir über meine Gefühle klarwerden kann. Ich wollte warten, um herauszufinden, ob ich vielleicht nur Angst habe. Aber ich sollte es dir wohl besser einfach sagen.«

Verblüfft hielt ich still. Noch mehr? Okay, ich hatte ja gewusst, dass er Schwierigkeiten hatte, sich an die Veränderung zu gewöhnen, aber was verbarg sich noch hinter diesen warmen Schokoladenteichen seiner Augen?

»Was ist los, Chase? Hast du ... bist du ... schwul?« Eine andere Erklärung dafür, dass er sich von mir fernhielt, fiel mir nicht mehr ein.

»Schwul?« Er blinzelte verwundert. »Nein, Süße. Glaub mir, ich bin nicht schwul. Die Sache ist die ... also, es ist so ... verstehst du, ich ...«

»Nun spuck es schon aus.« Was immer es sein mochte - Bescheid zu wissen konnte nicht schlimmer sein als diese Ungewissheit.

Er seufzte tief. »In den letzten vier Wochen habe ich über so vieles nachgedacht. Ich brauche ein bisschen Zeit. Ich muss mich selbst ganz neu kennenlernen. Schließlich werde ich jetzt viel länger als noch weitere vierzig, fünfzig Jahre mit mir selbst verbringen. Ich brauche Zeit und Ruhe, um mich, na ja ... in meinem neuen Leben zurechtzufinden.«

Es gefiel mir gar nicht, worauf dieses Gespräch zusteuerte. Ich starrte ihn entgeistert an. »Du willst Schluss machen? Und es gibt wirklich keine andere?«

Er strich mir über die Wange und lächelte traurig. »Ich habe dich nicht betrogen, und ich habe dich nicht hintergangen. Es gibt keine andere. Ich glaube nur, dass ich zurzeit neben alledem nicht genug Kraft für irgendeine Beziehung habe. Im Moment brauche ich Abstand.«

Wumm. Godzilla hatte einen Volltreffer gelandet, und ich wankte wie ein Wolkenkratzer.

Ich zwang mich, auf den Boden zu starren. Wenn ich nur weiter auf den Boden starrte, würde ich es schaffen. »Und mit zurzeit meinst du ...?«

»Ich meine zurzeit. So lange ich eben brauche, um damit klarzukommen. Vielleicht wache ich morgen auf, und alles ist in Ordnung. Vielleicht dauert es zwanzig Jahre. Oder vierzig. Ich weiß es nicht. Ich bin so durcheinander. Ich liebe dich, bitte glaub mir, aber da ist so vieles ...« Er verstummte, und ich hob die Hand.

»Nein. Sag es nicht. Versuch gar nicht erst, mir das jetzt zu erklären. Ich muss das erst einmal verdauen.« Ich ging zu meinem Kleiderschrank und holte meinen flauschigsten Frotteebademantel heraus. Ohne mich um den Skunk-Gestank zu scheren, zog ich ihn über das zarte Nachthemd, weil ich mich auf einmal nackt fühlte. Als ich mich umdrehte, sagte mir der Ausdruck in Chases Augen, wie kurz er davor stand, richtig Angst zu bekommen. Ich sah es in seinem Gesicht und spürte es in seinem stummen Flehen um Verständnis.

»Delilah, bitte wende dich nicht von mir ab. Hasse mich nicht, bitte?« Er ließ sich aufs Bett sinken und starrte an die Decke, und er sah so verloren aus, dass ich mich am liebsten an ihn gekuschelt und ihn getröstet hätte. Aber er wollte mich ja nicht. Oder - vielleicht wollte er mich, fühlte sich aber zu schuldig, weil er Abstand vom emotionalen Teil unserer Beziehung brauchte.

»Weißt du«, sagte ich langsam, »du hast meine Erlaubnis, mit anderen Frauen zu schlafen, falls es das ist, was du brauchst.« Er hatte sich mit einer offenen Beziehung einverstanden erklärt. Vielleicht fanden wir doch noch einen Weg, wie das mit uns funktionieren konnte.

Doch als er sich langsam aufsetzte, sah ich die Röte, die ihm in die Wangen stieg. »Kannst du das denn nicht verstehen? Ich will gar nicht mit einer anderen Frau schlafen. Ich kann nur nicht an die Gefühle irgendeines anderen Menschen denken, ehe ich mir über meine eigenen Gefühle klargeworden bin.«

Sag es nicht ... sag nicht, dass du dich von mir trennen willst. Bitte lass mir die Chance, mich an die Möglichkeit zu klammern, dass noch alles gut ist, nur noch einen Tag ... Aber bin ich bereit, auf dich zu warten ? Ich liebe dich, aber ist das wirklich Liebe? Das dachte ich bisher ... aber habe ich mich vielleicht getäuscht?

Er wandte mir sein trauriges Gesicht zu und breitete die Arme aus. Ich ließ mich an ihn sinken und küsste ihn zärtlich auf die Augen, die Nase, den Mund. Er nahm mich in die Arme, zog mich an sich und teilte meine Lippen mit der Zunge, um mich tief und lang und finster zu küssen.

Ich strich mit den Händen über seine Brust, und er erlaubte mir, ihm das Hemd aufzuknöpfen. Während er aus seinem Jackett, dann aus Anzughose und Hemd schlüpfte, genoss ich den Anblick. Chase war meine erste Liebe, aber es war an der Zeit, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln, zu erkunden, was die Zukunft für mich bereithielt. Und wenn ich eines Tages dem Herbstkönig ein Kind gebären sollte und Chase dann noch mit mir zusammen wäre, wie würde er damit klarkommen? Wie könnte irgendein Mann damit fertig werden, der nicht in meiner Welt aufgewachsen war?

Chase schob mir den Bademantel von den Schultern, und ich ließ ihn zu Boden gleiten. Der Skunk-Gestank schien zu verfliegen, aber vielleicht hatte ich mich auch nur daran gewöhnt. Chase erwähnte ihn jedenfalls nicht, und als ich aus meinem Hemdchen stieg und nackt im Schein einer einzelnen Kerze vor ihm stand, streckte er die Hände nach mir aus. Seine Fingerspitzen strichen über meinen ganzen Körper, meine Brüste, meinen Bauch. Ich erschauerte, erregt von seinen Berührungen.

Sein Körper trug noch die Narben seiner schweren Verletzungen. Sie sahen wüst aus und waren noch dunkelrot, und die langen Risse zeigten, wo die Treggarts ihn verwundet hatten. Ich kniete mich neben ihn, küsste die roten Spuren und ließ den Tränen freien Lauf, die seine Narben benetzten.

Ich konnte nicht anders, ich platzte heraus: »Wenn wir dir den Nektar des Lebens nur hätten geben können, bevor du verwundet wurdest. Wenn wir das Ritual hätten vollziehen können - wäre es dann anders gekommen?«

Chase kniete sich neben mich und zog mich wieder in seine Arme. »Delilah, ich liebe dich - wirklich. Aber es ist so viel passiert, und es kommt mir so vor, als wäre alles, was ich geglaubt oder gewusst habe, auf den Kopf gestellt worden. Jetzt habe ich tausend Jahre Zeit, über meine Fehler nachzudenken. Ich glaube, selbst mit den rituellen Vorbereitungen wäre es zu diesem Augenblick gekommen und wir hätten vor demselben Problem gestanden.«

Ich schob mich auf seinen Schoß und spürte seinen Druck. Er wollte mich, so viel war sicher, doch auf seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle. Ich fühlte sie auch aus der Art heraus, wie er mich berührte.

»Du hast nie darüber gesprochen, aber - als Karvanak dich gefangen gehalten hat, was ist da mit dir passiert, Chase? Könnte das etwas mit all dem hier zu tun haben?« Ich hatte das Thema noch nie zur Sprache gebracht, aber ich fand, es sei an der Zeit, dieses Tabu zu brechen.

Chase antwortete langsam: »Karvanak hat mich gefoltert, ja. Er weiß genau, wie man das tut, ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn jemand meinen Körper untersuchen würde, könnte er keinen Hinweis darauf finden. Und ich werde niemals irgendjemandem alles erzählen, was damals passiert ist. Nicht einmal dir. Aber er hat es nicht geschafft, mich zu brechen. Und weißt du, warum?«

»Warum?«

»Der Gedanke daran, dass du und deine Schwestern euch so tapfer dem Bösen entgegenstellt - einem Übel wie ihm, und noch viel Schlimmerem -, hat mir Kraft gegeben. Ich habe immer wieder gedacht: Wenn die Mädchen das durchstehen können, kann ich es auch. Aber mein Bedürfnis nach Zeit und Abstand kommt nicht nur vom Nektar des Lebens. Nicht nur von Karvanak. Nicht einmal nur daher, dass ich die Vorstellung nicht ertragen kann, du könntest verwundet werden. Oder gefangen genommen. Oder getötet. Das Mal, das du auf der Stirn trägst...«

Er hob die Hand und strich zärtlich über die Tätowierung auf meiner Stirn. Dann zeichnete er die Ranken auf meinen Armen nach. »Diese Male bedeuten, dass du einem anderen gehörst - jemandem, der immer und jederzeit an erster Stelle stehen wird. Jemandem, mit dem ich mich niemals werde messen können. Und jetzt, da meine hellseherische Seite erwacht, kann ich ihn spüren. Ich spüre ihn in deiner Aura, und damit kann ich nicht konkurrieren. Du gehörst den Göttern, Delilah. Mir hast du nie gehört. Ich hatte dich nur ausgeliehen.«

Seine Ehrlichkeit - seine brutale, zärtliche Ehrlichkeit - überwältigte mich, und ich brach in Tränen aus. »Ich will dich nicht loslassen, aber ich kann es in deiner Stimme hören. Du willst mich verlassen.«

»Ich verlasse dich, ehe du mich verlassen musst. Ich glaube, so ist es leichter.« Und dann küsste er mich, küsste meine Tränen fort, küsste mich, bis ich den Schmerz vergaß, bis ich es nicht mehr aushielt, auf seinen Schoß rutschte und mich auf ihn setzte. Wir liebten uns in inniger Verzweiflung, doch obwohl ich ihn warm in mir spürte, noch während ich versuchte, jedes einzelne Gefühl aufzufangen und festzuhalten, fühlte ich, wie er mir entglitt.

Ich ritt ihn erst liebevoll, dann zornig, weil es mit uns vorbei war, und ich legte all meinen Kummer und meine Tränen in diesen Akt. Mir brach das Herz, und doch wusste ich, dass es so sein musste. Voller Wut auf mein unvermeidliches, unausweichliches Schicksal kam ich im selben Moment wie er, unter Tränen statt voller Jubel. Ich schluchzte dabei seinen Namen, während er stöhnend meine Hüfte umklammerte.

Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Stumm starrte ich ihn an und fragte mich, was wir jetzt tun sollten. Chase löste dieses Problem für mich.

»Ich muss zurück ins Hauptquartier. Muss unbedingt mal schlafen. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben, aber ...« Seine Worte klangen befangen, aber zärtlich.

»Nicht«, sagte ich und fuhr mit dem großen Zeh über den Boden. Ich wollte duschen, ich wollte die Erinnerung an diese Nacht abwaschen. »Sag es nicht.«

Er rieb sich den Kopf und presste zwei Finger an die Nasenwurzel. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Hasst du mich jetzt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich dich hassen? Diesmal hast du keinen Mist gebaut, Johnson. Du hast mir gesagt, was du brauchst. Du warst ehrlich zu mir. Ich hasse das, was hier passiert, aber ich kann ... ich kann dich nicht hassen. Du bist Chase. «

Er zog sich an, und ich wickelte mich in ein Handtuch. »Delilah - vielleicht kommt das wieder in Ordnung, auf irgendeine Weise, die wir gar nicht erwarten. Vielleicht irgendwann ... wenn ich wieder klar im Kopf bin ... « Er unterbrach sich. »Ich mache mir etwas vor. Ich werde dich nicht bitten, auf mich zu warten. Das ist einfach nicht richtig, wenn keiner von uns weiß, was passieren wird.«

Ich zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich gehöre dem Herbstkönig. Du hast recht: Irgendwann wird er mich zu sich rufen und mich schwängern. Solange du damit nicht leben kannst, haben wir keine Chance. Aber wenn du damit leben könntest ...«

Er biss sich auf die Lippe und stieß dann ein langes Seufzen aus. »Das kann ich nicht. Ich kenne mich. Es tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich hätte immer das Gefühl, die zweite Geige zu spielen.«

Ich senkte den Kopf und nickte. »Ja, und ob das wahr ist oder nicht - und ich sehe das nicht so -, es ist dir gegenüber nicht fair. Dann ist es wohl aus.«

Mit einem leisen Schniefen bat er: »Normalerweise sagt das ja immer die Frau, aber ... können wir gute Freunde bleiben? Und, Delilah ... wenn du jemand anderen findest..., werde ich mich für dich freuen.«

Seine Stimme klang so kläglich, und sein Gesichtsausdruck war so hoffnungsvoll, dass ich unter Tränen lächeln musste. »Glaub ja nicht, dass du mich als gute Freundin je wieder loswirst. Johnson, ich liebe dich, und auf ihre eigene Art haben auch Camille und Menolly dich ins Herz geschlossen. Du gehörst praktisch zur Familie. Natürlich bleiben wir Freunde. Und vielleicht ... Ich meine, ohne den Druck, der durch eine Beziehung entsteht, können wir uns vielleicht sogar noch vertrauter werden.«

Und dann rauschte ein Gefühl durch meinen Körper, das aus meinem Herzen direkt über meine Lippen sprudelte. »Chase, willst du mein Blutsbruder werden? Ich will die Gewissheit haben, dass wir immer füreinander da sein werden. Ich will dich nicht als Partner und Liebhaber an mich binden, nur als Freund, und dann kannst du sicher sein, dass ich immer für dich da sein werde.«

Chase senkte errötend den Kopf. »Meinst du das ernst? Tust du das nicht nur, damit ich mich besser fühle?«

Ich nickte. Ich meinte es absolut ernst, mit jeder Faser meines Wesens. »Einen solchen Schwur würde ich niemals aus Mitleid ablegen, oder weil ich mich schuldig fühle.«

Ich suchte nach meinem Dolch und wusch Lysanthra sorgfältig ab. Dann bedeutete ich Chase, sich aufs Bett zu setzen, hob meine Hand und ritzte einen kurzen, sauberen Schnitt in die Handfläche. Chase hielt mir seine Hand hin, und ich schlitzte auch ihm die Handfläche auf. Dann ließ ich den Dolch aufs Bett fallen, nahm seine Hand, und wir drückten unsere Schnittwunden aneinander.

»Johnson, ich schwöre dir meine ewige Treue, Freundschaft und Liebe. Ich werde dir immer den Rücken decken, solange es meine älteren Eide erlauben.«

Er erschauerte. »Delilah, du bist meine Schwester, meine Blutsfreundin, und ich werde immer für dich da sein. Ich biete dir meine Treue, Freundschaft... und meine Liebe an.«

Während wir unsere Hände aneinanderpressten, rann ihm eine Träne über die Wange, und ich beugte mich vor und küsste sie weg. Das Salz kitzelte meine Zunge.

»Ich gehe dann wohl besser.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist schon fast zwei, und ich muss um sieben Uhr aufstehen.«

»Möchtest du hier übernachten? Dann könntest du mindestens eine Stunde länger schlafen, als wenn du erst in die Stadt fährst.« Ich wollte ihn nicht gehen sehen. Es war aus und vorbei, ja, aber ich wollte nicht zuschauen, wie er sich abwandte und zur Tür hinausging.

Er zögerte. »Wäre dir das nicht unangenehm?«

»Nein, nein. Bleib und übernachte hier, noch ein letztes Mal.« Ich warf einen Blick auf mein Bett. »Da ich immer noch nach Skunk stinke, kannst du das Bett haben, und ich schlafe in einem von meinen Katzenkörbchen. Das ist viel leichter zu ersetzen als eine Matratze.«

Wieder knöpfte er sein Hemd auf und schlüpfte aus der Hose. »Danke, Delilah. Einfach nur ... danke.«

Ich ging ins Bad, zog mein Negligé aus, duschte noch einmal kurz, trocknete mich ab, und dann verwandelte ich mich in das Tigerkätzchen. Als ich ins Schlafzimmer tapste, sah ich, dass Chase schon eingeschlafen war. Er atmete tief, und er hatte das Katzenkörbchen auf meiner Seite der Matratze aufs Bett gestellt. Ich stieß ein leises Maunzen aus, weil mir schon wieder das Herz brach. Ich sprang aufs Bett, stieg in das weiche Nest, drehte mich dreimal im Kreis herum und schlief ein.

Als ich aufwachte, war er schon weg. Ich nahm wieder meine zweibeinige Gestalt an und sah, dass er mir einen Zettel mit einer Nachricht hinterlassen hatte. Sie lautete schlicht Bis später ... Schwesterherz ..., doch sie traf mich wie ein Tiefschlag, und ich sank zu Boden und weinte leise.

Kurz darauf ging nach einem leisen Klopfen die Tür auf, und Camille lugte herein. »Delilah, du musst aufstehen ... Delilah? Süße? Was hast du?« Sie eilte herein und kniete sich neben mich. »Fehlt dir was? Ist es wegen deiner Haare? Wurdest du bei dem Kampf doch verletzt? Hast du Schmerzen?«

»Nein, nein ... nichts von alledem.« Ich ließ mich von ihr knuddeln, löste mich aber gleich wieder aus ihrer Umarmung, damit ihr schönes Kleid nichts von dem Gestank abbekam. »Chase ist gestern Nacht noch vorbeigekommen. Wir haben geredet. Es ist aus. Wir haben uns getrennt.«

»Getrennt? Was ist denn passiert?« Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie mich hochzog, in den Bademantel hüllte und dann die Treppe hinunterführte. »Du brauchst etwas zu essen. Komm mit, du kannst mir beim Frühstück alles erzählen. Die Jungs sind nicht mehr da, also sind wir unter uns, nur du, ich und Iris.«

In der Küche hing der köstliche Dampf von Pfannkuchen, Sirup, Eiern und Speck. Camille reichte mir einen Teller, nahm sich selbst einen, und wir luden sie mit Essen voll, während Iris Kaffee kochte.

»Mädchen, du siehst grauenhaft aus«, bemerkte sie.

»Ich fühle mich auch so. Setz dich zu uns - ich muss euch beiden etwas erzählen.« Als sie am Tisch saßen und wir mit dem Frühstück anfingen, erzählte ich ihnen von meiner Nacht mit Chase. Alles.

Da drang ein Sonnenstrahl durch die Wolken und fiel durchs Fenster auf den Tisch, und das herbstliche Licht tauchte die Küche in goldenen Glanz. Ich schloss einen Moment lang die Augen und genoss den plötzlichen Frieden, den das Licht vermittelte. Aber allzu schnell erlosch es wieder, als sich eine Wolke vor die Sonne schob.

»Wow. Also ... ich ... o Mann.« Camille legte ihre Gabel weg und starrte mich an. »Der Nektar des Lebens macht ihm schwer zu schaffen. Der Mann tut mir richtig leid.«

Iris lächelte sanft. »Das ist nur natürlich, Liebes. Stell dir vor, du würdest mit weiteren dreißig oder vierzig Jahren Lebenszeit rechnen, und dann wirst du tödlich verwundet. Und das Einzige, was dir das Leben retten kann, wirft dich ins kalte Wasser, und du siehst auf einmal tausend oder mehr Jahre, die sich jetzt vor dir erstrecken. So etwas muss Geist und Seele überfordern, vor allem, weil er nicht richtig darauf vorbereitet wurde.«

Ich senkte den Kopf. »Warum komme ich mir dann vor wie eine Versagerin?«

Camille nahm meine Hand. »Nein, sag das nicht. Es kann nun mal nicht jede Beziehung funktionieren. Und du ... Delilah, du bist großartig. Chase braucht jetzt nur Zeit, um sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden.«

Ich starrte sie an. Das klang zwar vernünftig, aber das machte es mir nicht leichter, es von ihr zu hören.

»Ja, du hast wahrscheinlich recht«, sagte ich. »Und ich mache es ihm wahrscheinlich nur schwerer, weil wir ohnehin schon unsere Probleme hatten.«

»Ich glaube, Chase muss sein Leben jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Und seien wir doch mal ehrlich: Du wirst nie die kleine Hausfrau sein, die ihn abends mit warmem Essen und seinen Lieblingspantoffeln empfängt. Du bist nicht bloß was fürs Auge - du bist nicht dazu da, seinem Ego zu schmeicheln«, erklärte Iris. »Und im Moment wäre wahrscheinlich sogar das zu viel für ihn.«

»Danke ...« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Ich schaffe das schon. Es tut weh, aber wenn ich es so betrachte, erscheint es mir ganz logisch.« Mit einem Knoten im Magen blickte ich auf. »Dann ist meine Tanzkarte wohl wieder frei.«

In diesem Moment ging die Tür auf, und Vanzir und Roz schlenderten herein. Sie sahen müde aus, bekamen aber große Augen, als sie den schwer beladenen Tisch sahen.

»Wascht euch die Hände«, mahnte Iris automatisch.

Roz gehorchte und stellte dann zwei weitere Teller auf den Tisch, während Vanzir Besteck aus der Schublade holte. Sie ließen sich neben uns nieder.

»Wart ihr zufällig noch auf, als Menolly nach Hause gekommen ist?«, fragte Roz.

Camille schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, da waren wir alle schon im Bett. Was ist denn aus dem Treggart geworden, den ihr in den Wayfarer gebracht habt?«

Vanzir schüttelte den Kopf. »Das willst du lieber nicht wissen. Es war ein ziemlicher Kampf, aber die Information, die wir schließlich aus ihm herausbekommen haben, könnte nützlich sein.«

»Zum Beispiel?« Ich reichte ihnen die Platte mit Rührei und Speck.

Roz spießte mit der Gabel vier Würstchen auf, löffelte sich Rührei auf den Teller und bot den Rest Vanzir an. Es waren noch reichlich Pfannkuchen übrig, und als sie sich die Teller voll genug geschaufelt hatten, lehnten sie sich zurück und beäugten uns drei.

»Stacia Knochenbrecherin ist so gründlich untergetaucht, dass ich nicht weiß, wie wir sie finden sollen. Aber offenbar machen Gerüchte die Runde, dass sie ein Ausbildungslager für Rekruten leitet. Und ihr könnt darauf wetten, dass auch Trytians Rekruten dort trainieren.« Vanzir biss in einen Pfannkuchen, den er ohne Sirup aß, und kaute nachdenklich.

»Wo soll es liegen?« Die Chance war sehr gering, aber ich musste einfach fragen.

Roz schluckte einen Bissen Rührei hinunter und schüttelte den Kopf. »Machst du Witze? Sie ist nicht dumm. Ich habe keine Ahnung, und der Treggart, den wir gestern Nacht gefangen genommen haben, wusste auch nichts Näheres. Er gehörte nicht zu Stacias Armee ... er hat es nur geschafft, das Dämonentor zu passieren, als Stacia in die Erdwelt gereist ist. Er und sein Kumpel haben sich aus den Unterirdischen Reichen abgesetzt. Also, wir fangen wohl am besten gleich an, nach diesem Lager zu suchen.«

»Ist das wirklich eine gute Idee?«, fragte ich.

Camille schob ihren leeren Teller beiseite und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Äh, und warum sollte das keine gute Idee sein, Kätzchen?«

Ich runzelte die Stirn. »Na ja, wenn wir jetzt unsere Zeit darauf verschwenden, nach ihrem Trainingslager zu suchen, fehlt uns diese Zeit bei der Suche nach dem sechsten Geistsiegel. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass Stacia sich praktisch unauffindbar machen kann. Und abgesehen davon, was wäre denn, wenn wir dieses Lager tatsächlich finden? Wir werden eine Menge Verstärkung brauchen, wenn wir es mit einem

Lager voller Dämonen aufnehmen wollen. Stacia hat es darauf abgesehen, Schattenschwinge zu vernichten, also ist sie im Moment vollkommen darauf konzentriert und beachtet uns kaum. Sollten wir nicht versuchen, in aller Stille das sechste Geistsiegel zu finden? Sie sucht vielleicht auch nach den Siegeln, aber ich garantiere euch, dass ihre ganze Aufmerksamkeit dem Aufbau einer Armee gegen ihren Boss gilt.«

Camille runzelte die Stirn, nickte jedoch. Roz und Vanzir wechselten einen Blick, als wäre mir soeben ein zweiter Kopf gewachsen.

»Tut nicht so überrascht. Ich habe auch ein Gehirn, wisst ihr?«

Roz lachte und lehnte sich zurück. »Scharf beobachtet, Miss Kitty. Und darf ich anmerken, dass du heute Morgen nicht mehr ganz so übel stinkst?«

»Bleib schön bei der Sache, Bursche.« Ich rümpfte die Nase. »Nachher hole ich mir dieses magische Deo bei Luke ab. Aber jetzt mal im Ernst, was haltet ihr Jungs davon, wenn wir uns zuerst um das nächste Geistsiegel kümmern?«

Camille sog an ihrer Unterlippe. »Das ist eine verlockende Vorstellung. Aber wenn wir es finden, können wir es nicht mehr Königin Asteria übergeben, und bei ihrer neuen Idee, sie zusammen mit den Keraastar-Rittern einzusetzen, wird mir angst und bange.«

»Was glaubst du, was sie mit den Siegeln anstellt?«, fragte ich. Camille war die Einzige, der Königin Asteria von ihrem Plan erzählt hatte, während er mir noch lange nicht klar war.

»Sie hat irgendetwas vor. Ich habe euch ja schon erzählt, dass sie Venus Mondkind, Tarn Lin und Benjamin zu sich geholt hat, die ihre ersten Keraastar-Ritter werden sollen. Soweit ich weiß, gibt sie ihnen die Siegel wieder und versucht eine Art magische Kriegertruppe gegen Schattenschwinge aufzustellen. Ich weiß nicht, was sie dazu getrieben hat, aber es muss eine Riesensache gewesen sein. Ich fürchte mich beinahe davor, das herauszufinden.«

»Stimmt.« Beinahe wünschte ich, ich hätte nicht gefragt. Die Idee war der reinste Irrsinn, aber man sagt einer Elfenkönigin nicht, dass sie durchgeknallt ist.

Camille schüttelte den Kopf. »Genau genommen macht mir die ganze Sache Angst. Aber zurück um Thema. Vanzir und Roz, würdet ihr heute ein bisschen recherchieren, wo wir mit der Suche nach dem nächsten Geistsiegel anfangen sollen?«

Sie zögerte und sah dem Dämonischen Duo fest in die Augen. »Was ist übrigens aus dem Treggart geworden, den wir gefangen genommen haben?«

Vanzir hielt ihrem Blick stand. »Er ist tot.«

Sie nickte. Ich schwieg. Zu dieser Sache gab es nichts mehr zu sagen. Wir alle wussten, dass uns nicht anderes übrigblieb.

Ich rückte meinen Stuhl vom Tisch ab. »Hört sich gut an. Okay, Roz, Vanzir, ihr macht euch auf den Weg, wenn ihr aufgegessen habt. Seid vorsichtig - niemand darf wissen, wonach ihr sucht. Camille, wir sollten uns anziehen und in die Bar fahren, damit ich mich endlich entskunken kann. Denk daran, dass wir Luke fragen wollen, ob er ein Bild von Ambers Mann Rice hat.«

Camille und die anderen standen auf. Als ich Iris zuwinkte und die Küche verließ, konnte ich spüren, wie das Leben sich verschob und verdrehte. Von einer Achterbahn direkt zur nächsten.