Kapitel 17

 

Als wir zu Hause ankamen, waren die anderen schon da und in der Küche versammelt. Die war zu unserem üblichen Treffpunkt geworden, wo wir Planung und Strategien besprachen. Nerissa war nicht da — sie hatte nach ihrem Mini-Urlaub mit Menolly wieder nach Hause gehen müssen. Aber alle anderen saßen herum, tranken Tee, aßen Kekse und Chips und was Iris sonst noch an Snacks hervorgezaubert hatte.

Mit einem leisen Lächeln im Gesicht warf ich Smoky einen Blick zu, als Camille sich zwischen ihm und Trillian niederließ.

»Was ist?« Smoky räusperte sich und neigte den Kopf zur Seite. »Warum schaust du mich so an?«

»Ich habe Wind davon bekommen, dass ein gewisser Zauberladen zertrümmert wurde. Gründlich.« Ich begegnete seinem starren Blick. »Hast du irgendwelche Spuren hinterlassen?«

Er schnaubte. »Sehe ich vielleicht dumm aus?«

Darauf würde ich nicht antworten. Erstens sah er überhaupt nicht dumm aus, er war einer der schärfsten Drachen, die ich so kannte. Zweitens - selbst wenn, man sagte nicht einfach zu einem Drachen, dass er dumm aussähe.

Camille blickte von mir zu ihm. »Was meint ihr damit?«

»Dein Mann hat den Zauberladen zerlegt. Van und Jaycee werden stinksauer sein. Ich habe das Gefühl, dass sie das Geschäft nicht nur für Stacia eröffnet haben, um uns in die Falle zu locken. So ein Laden scheint mir eine geschickte Möglichkeit zu sein, sich hier zu etablieren. Jetzt ist nicht mehr viel davon übrig, nur ein Trümmerhaufen aus Regalen, Flaschen und verdorbener Ware.«

Camille wandte sich Smoky zu. »Verflixt, was soll ich nur mit dir machen? Die können sich doch denken, dass wir das waren - und damit hat Stacia einen Grund mehr, unseren Steckbrief um den Hinweis tot oder lebendig zu erweitern.«

»Wo wir gerade davon sprechen«, warf Iris ein, »habt ihr schon mal daran gedacht, Wachen für das Haus anzuheuern? Wenn ihr alle da seid, ist ja alles in Ordnung, aber tagsüber, wenn ihr unterwegs seid und ich hier mit Maggie allein bin - und Menolly schläft -, geben wir ein leichtes Ziel ab. Es macht mir nichts aus, euch zu helfen und euch in diesem Krieg beizustehen, aber das wäre doch eine kluge Vorsichtsmaßnahme.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Camille und machte sich eine Notiz auf ihrem Stenoblock.

Ich hielt mir die Ohren zu und ließ die Stirn auf den Tisch sinken. Ich wollte nicht mehr über den ganzen Mist nachdenken, mit dem wir fertig werden mussten. Nach ein paar Augenblicken strich eine Hand über meinen Rücken und tätschelte mich dann leicht. Ich blickte gereizt auf und sah, dass Roz mit einem sanften Lächeln auf mich herabschaute.

»Zu viel?«

Ich nickte. »Alles zu viel. Die letzten paar Tage waren der reine Irrsinn. Das einzig Gute war Camilles Hochzeit.« Als ich zu ihr hinüberschaute und sie mit ihren Ehemännern da sitzen sah, kam mir ein Gedanke.

»Smoky! Du könntest eines unserer kleineren Probleme für uns lösen.« Ich strahlte ihn an. »Möchtest du deine Schwägerin glücklich machen?«

»Wie denn?« Er wirkte besorgt. »Du willst doch nicht etwa, dass ich Wild jage oder so? Von Drachenfeuer angekokeltes Fleisch schmeckt Menschen und dergleichen nämlich nicht besonders.«

»Das Steak, das du mir gefangen hast, als ich zum ersten Mal in deinem Hügel zu Gast war, hat köstlich geschmeckt, Liebster.« Camille tätschelte seine Hand. »Er lügt. Sein Wildbret ist immer vom Allerfeinsten ...«

»Ach, um Himmels willen ... nein, ich bitte dich nicht, den großen Jäger zu spielen. Aber ich habe einer Dryade versprochen, eine neue Heimat für sie zu finden - ein Stückchen unberührte Natur, wo sie sich ausbreiten kann. Was würdest du dazu sagen, wenn wir sie auf deinem Land ansiedeln?«

Camille starrte mich an. »Du hast recht - das wäre perfekt!«

»Augenblick mal, ihr beiden. Was habt ihr jetzt schon wieder angestellt, und was für ein Geschöpf wollt ihr auf meinem Land ansiedeln? Ich bin gerade erst Titania und diese unerträgliche Morgana losgeworden.« Smoky machte ganz den Eindruck, als wollte er sich in dieser Sache stur stellen.

»Sie ist keine Feenkönigin, sondern nur eine Dryade, die sich eine freiere, wildere Umgebung wünscht als den Rodgers Park. Du könntest sie damit glücklich machen - und uns helfen, unser Versprechen zu erfüllen.« Ich musste kichern, als Camille zu grinsen begann und mit einer Hand seinen Arm hinaufstrich.

»Smoky, mein Schatz, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das für uns tun würdest«, sagte sie.

Smoky stieß ein dumpfes Grollen aus, das allzu sehr wie ein Knurren klang, und blickte auf ihre Hand hinab. »Du empfindest es nicht als unter deiner Würde, mich zu bestechen, ja?«, fragte er mit etwas heiserer Stimme. In seinen gletscherkalten Augen wirbelten Strudel von Eisschollen und Nebel. Camille beugte sich vor und küsste ihn zärtlich. Doch sie richtete sich schnell wieder auf und verzog das zerschrammte Gesicht.

»Verdammt, das tut weh ...«

»Meine Liebste, du brauchst niemals Schmerzen auf dich zu nehmen, um mich um einen Gefallen zu bitten«, erklärte er, führte ihre Hand an seine Schulter und legte seine darauf. Dann wandte er sich mir zu. »Ich werde deinen Wunsch erfüllen, sofern diese Elfe begreift, dass sie auf meinem Land und mein Gast ist. Ihr könnt sie hinbringen, wo ihr wollt. Aber ich habe dafür gesorgt, dass ... Freunde von mir sich um Georgio und Estelle kümmern. Sagt der Dryade, dass sie dem Haus lieber nicht zu nahe kommen soll.«

»Glaub mir, Hyacintha ist nicht wie Wisteria. Dieser Krautkopf war völlig irre.« Wisteria, eine Floreade - Verwandte der Dryaden, gewissermaßen - hatte versucht, jeden umzubringen, der ihrem Plan im Weg stand: die Menschheit auszulöschen, damit die Welt wieder den Pflanzen gehörte.

Was mich an die Dämonen und die Geistsiegel erinnerte. Wieder einmal. »Trillian, Vanzir, Morio - was habt ihr über die Adresse herausgefunden, die Marion euch genannt hat?«

Morio zog eine Digitalkamera aus seinem Beutel und gab sie mir. »Kannst du diese Bilder auf deinen Laptop laden? Wir dachten, das wäre besser, als euch alles nur zu beschreiben.«

Ich lächelte ihn an. »Ich mache dich noch zum Technik- Freak.«

Ich holte meinen Laptop hervor und fuhr ihn hoch. Während die anderen sich unterhielten, verband ich die Kamera per USB-Kabel mit dem Laptop und schaltete sie ein. Wir hatten dieselbe Digitalkamera gleich mehrfach gekauft, damit wir uns nur mit einem Programm befassen mussten. Eine hatten wir zu Hause, und eine in jedem Auto, auch in Morios SUV. Ich bestand darauf, dass wir lernten, neben unserer angeborenen Magie auch die moderne Technik zu benutzen - nur so würden wir in dieser Gesellschaft überleben können.

Während die Bilder übertragen wurden, fragte ich Iris: »Wie lange noch bis Sonnenuntergang?«

Sie warf einen Blick auf die Tabelle, die wir an die Wand geheftet hatten. »Noch zwei Stunden - bis kurz nach fünf. Wenn in einer guten Woche die Sommerzeit endet, kann sie wieder eine Stunde früher aufstehen.«

»Dann sollten wir uns vielleicht noch ein bisschen ausruhen. Sobald die Fotos geladen sind, machen wir ein Nickerchen, bis Menolly aufgestanden ist. Dann schauen wir sie uns zusammen an.«

Ich sah mir den Ordner an, in dem die importierten Bilder abgelegt worden waren. Die JPEG-Dateien waren riesig, aber ich hatte den Laptop aufgerüstet, so dass er auch damit fertig wurde. Dann verband ich ihn über ein weiteres USB-Kabel mit dem großen Bildschirm, den wir an der Wand befestigt hatten. So würden die Fotos nicht nur auf meinem kleinen Laptop-Bildschirm erscheinen, sondern auf dem großen Monitor, damit alle sie sehen konnten.

»Okay, ich habe alles eingerichtet, damit wir nachher gleich anfangen können. Niemand rührt meinen Laptop an, verstanden?« Alle nickten, und ich fuhr fort: »Also legen wir uns ein paar Stunden aufs Ohr. Weck uns bitte um sieben, Iris. Camille, du brauchst Schlaf, also ruh dich richtig aus.«

Erstaunlicherweise hörten sie auf mich, und wir stiegen die Treppe hinauf, um ein Nickerchen zu machen.

Ich blickte mich um und stellte fest, dass ich durch die Straßen von Seattle streifte. Es war schon spät, und ein kalter Wind heulte von der Bucht herein. Ich zog die Lederjacke fester um meinen Hals. Die Sterne glitzerten über mir, und ich wünschte, ich hätte Menolly gebeten mitzukommen.

Ich ging auf ein Gebäude zu - warum, wusste ich nicht, und ich konnte mich auch nicht erinnern, es je zuvor gesehen zu haben. Aber ich wusste, dass dort etwas auf mich wartete, und ich hatte keine andere Wahl.

»Hallo. Du weißt, dass du gerade deinen Körper verlassen hast, oder?« Die Stimme neben mir klang vertraut, und als ich den Kopf zur Seite wandte, sah ich Greta neben mir hergehen. Sie nickte mir zu.

»Wir machen deine Ausbildung zu einem Crash-Kurs. Nach dem Vorfall heute Vormittag können wir uns nicht mehr allzu viel Zeit lassen, denn sonst wirst du nicht in der Lage sein, deine Kräfte zu beherrschen. Der Pantheris phir hilft dir zu lernen, wie du die Verwandlung in deine Panther-Gestalt kontrollieren kannst, aber er wird nicht verhindern, dass du die Beherrschung verlierst und die Macht der Todesmaid gebrauchst, ehe du in den entsprechenden Ritualen unterwiesen wurdest.«

Ich starrte zu Boden, während wir nebeneinanderher gingen. In den Rissen im Pflaster wuchsen kleine Gräser und Unkraut. Die Natur fand immer einen Weg. Irgendwann durchbrach sie alle von Menschen geschaffenen Strukturen und Bauten, eroberte etwas zurück, während sie zugleich zerstört wurde in diesem endlosen Krieg.

»Er hat diese Frau und ihr Baby ermordet. Er musste sterben.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Mörders stand mir immer noch vor Augen. Ich bedauerte seinen Tod keineswegs.

Wie Menolly gesagt hätte: »Wieder ein bisschen weniger Schlamm im Genpool.«

»Ja, aber deine Macht als Todesmaid darfst du nur auf Anweisung gebrauchen. Entweder von unserem Gebieter oder von mir.« Sie sah mir in die Augen. »Oder hat Seine Hoheit es dir erlaubt, und ich weiß nichts davon?«

Ich starrte wieder geradeaus und schwieg. Es war ja nicht so, dass ich bockig gewesen wäre, aber über meine Beziehung zu Hi'ran wollte ich mit ihr nicht reden. Ich war seine einzige lebende Abgesandte, ich war diejenige, die ihm ein Kind gebären sollte, und ich wollte nicht daran denken, dass er die anderen auch nur berührte, obwohl ich wusste, dass ich bloß eine in einem ganzen Harem von Frauen war.

Doch offenbar standen mir diese Gedanken ins Gesicht geschrieben. »Du wirst ihn niemals ganz für dich allein haben, und er kann dich nicht berühren, solange du noch lebst. Finde dich damit ab. Er ist einer der Schnitter, ein Unsterblicher. Nicht einmal die Götter können ihm gebieten.«

»Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich bin nur so einsam. Und bei ihm fühle ich mich ...«

»Bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass du etwas ganz Besonderes für ihn bist. Du bist seine Auserwählte. Er wird dafür sorgen, dass du nicht allein bist. Wunderbare Dinge erwarten dich, lange bevor du ins Reich der Toten übergehst. Missgönne uns anderen nicht das Glück, das für uns bleibt. Wir werden nie die Chance erhalten, die er dir anbietet.«

Da blieb ich stehen und wandte mich ihr zu. In ihren Augen waren keinerlei Falschheit oder Wut zu erkennen - nur Sehnsucht. »Du liebst ihn, nicht wahr?«

»Ich liebe ihn. Wie wir alle. Eine Todesmaid zu werden, dazu auserwählt zu sein, ihm zu dienen, ist das Beste, was mir je passiert ist. Ich bin bereitwillig in den Tod gegangen, weil ich wusste, dass er mich erwartet. Mein Leben war grauenhaft, aber jetzt ... Und jede von uns wird dir bestätigen, dass es ein Segen ist, seine Dienerin zu sein, kein Fluch. Da gehen wir übrigens hin. Du musst begreifen, dass du nicht allein bist oder auf eigene Faust handelst.«

»Ich werde jetzt die anderen kennenlernen, oder?«

Sie nickte, und ein schwaches Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. »Ja, heute Nacht lernst du deine Schwestern kennen.« Und dann hielt sie mich fest, und in einem Wirbel aus Schall und Rauch flogen wir dahin, nur ein verschwommener Schemen in der Nacht, Schatten, die im Mondlicht durch die Welt huschten.

Wir hätten uns im Palast eines Scheichs befinden können, einem Harem aus Tausendundeine Nacht oder einem Monumentalfilm von Cecil B. DeMille aus den Fünfzigern. Der Raum war schummrig beleuchtet, opulent und luxuriös, und ich erkannte, dass wir nicht mehr in Seattle waren, sondern an irgendeinem fernen Ort wie der Lichtung, auf der ich Greta zum ersten Mal begegnet war. Mächtige Säulen stützten die hohe, kuppelförmige Decke des Saals.

Die Wände waren nicht zu sehen, verborgen hinter glitzernden Vorhängen, die üppig davor drapiert waren. Ich stand in einem seidigen Paradies, gehüllt in Gelb und Rot, Rosa und Elfenbein, mit Goldfäden bestickt.

An einer Wand war ein erhöhtes Podest mit Dutzenden von Kissen in den Stoffen der Wandbehänge bedeckt. Sie luden mich ein, in ihre weiche Pracht zu sinken, zu ruhen, müßig zu sein. Hier und da standen auf geschnitzten Tischchen Schalen voller Obst und Krüge, aus denen es nach gutem Wein und Met duftete. Schälchen mit Honig, Platten voller Käse und frisch gebackenes Brot gab es auch.

Ich drehte mich um und sah eine Wand, an der in Gestellen alle erdenklichen Waffen bereitstanden. Sie waren sauber poliert, aber gebraucht - also nicht zur Dekoration da. In Vasen, die so hoch waren wie ich, standen gigantische Schilfgrasbüschel und herbstliche Zweige, und in einem mannshohen offenen Kamin knisterte ein Feuer, das den großen Raum wärmte.

Die Einrichtung war schon umwerfend, aber mein Blick wurde vor allem von den Frauen angezogen. Ich zählte sie - einundzwanzig, mich eingeschlossen. Blondinen, Rothaarige, Brünette, manche mit hellem Teint, andere mit Haut wie poliertes Ebenholz, groß und klein, schlank und füllig ... die meisten waren Menschen, aber ein paar sahen auch wie Feen aus. Jede war einzigartig, und doch hatten alle eines gemeinsam: Sie wirkten samt und sonders gelassen und zufrieden.

Ein paar von ihnen lasen, an einem der Tische wurde in kleiner Runde diskutiert, und zwei straffe, muskulöse Frauen trainierten miteinander mit Dolch und Schwert. Doch als Greta mich in die Mitte des Raums führte, richteten sich alle Augen auf mich. Ich hielt den Mund. Das hier war ihr Zuhause, ihre Residenz. Ich war ihr Gast und würde mich ganz nach ihrer Reaktion richten. Binnen Sekunden versammelten sie sich um mich und schwatzten fröhlich auf mich ein.

»Du hast sie mitgebracht!«

»Schön, dich hier zu sehen. Wurde auch Zeit...«

»Du bist Delilah, richtig? Delilah aus dem Feenreich?«

»Endlich lernen wir dich kennen!«

Die Fragen und Begrüßungen prasselten auf mich ein, aber ich spürte keinerlei Feindseligkeit und entspannte mich allmählich. Und dann begann ich mit diesen Hüterinnen des Grabes zu sprechen, diesen Frauen, die nun meine Schwestern im Geiste waren.

»Ja, ich bin Delilah. Ich komme aus der Anderwelt, aber meine Abstammung ist halb menschlich.«

»Du lebst noch, nicht wahr?« Eine besonders schlanke, zierliche junge Frau, dem Anschein nach Japanerin mit prachtvollem, knöchellangem Haar, neigte den Kopf zur Seite und lachte. »Was für eine ulkige Frisur du trägst. Aber sie gefällt mir.«

Ich grinste. »Ich hatte einen kleinen Zusammenstoß mit einem Stinktier - ist eine lange Geschichte. Und ja, ich lebe noch.«

Sie kamen immer näher, und es war merkwürdig, mir bewusst zu machen, dass sie alle - alle diese scheinbar so körperlich anwesenden Frauen - Geister waren. Doch ehe ich länger darüber nachdenken konnte, wurde ich sanft zu dem Lager mit den üppigen Kissen geschoben und gedrängt, Platz zu nehmen, und sie setzten sich um mich herum.

Greta hob die Hand, und alle verstummten. Sie musste mehr Macht besitzen, als ich gedacht hatte.

»Ich habe Delilah aus mehreren Gründen heute Abend hierher gebracht. Erstens, damit sie euch kennenlernt - und erkennt, dass sie nicht allein ist. Den Weg, den sie jetzt geht, sind wir alle schon gegangen, und nach unserem Tod hat unser Herr uns hierher gebracht, nach Haseofon. So nennt man diesen Ort, Delilah, Haseofon, Wohnsitz der Todesmaiden. «

Ich rollte den Namen im Geiste auf meiner Zunge herum, um mich damit vertraut zu machen. »Ist der Name geheim? Darf ich ihn außerhalb dieser Mauern nennen?«

»Das ist nicht weiter wichtig. Wir werden dich nicht drängen, allzu viele Geheimnisse vor deiner lebenden Familie zu bewahren.« Und dann lächelte sie. »Stellt euch bitte vor. Sie wird sich wahrscheinlich nicht alle eure Namen auf einmal merken können, doch im Lauf ihrer Ausbildung wird sie mit jeder von euch interagieren und von allen lernen.«

Und so stand eine nach der anderen auf und stellte sich mir vor. Die meisten Namen vergaß ich gleich wieder, aber ein paar ragten aus der Gruppe hervor. Eloise, die große, dunkelhäutige Kriegerin; Lissel, die Schönheit mit dem roten Haar, die einen kleinen Knicks machte, ehe sie sprach; Fiona, eine dunkelhaarige Irin; und Mizuki, die Japanerin, die so leichtfüßig zu sein schien wie ich in meiner Katzengestalt. Und alle trugen die gleichen Zeichnungen auf den Unterarmen wie Greta und jetzt auch ich. Leuchtende, lebendige Blätter und Ranken in Schwarz, Orange, Rostbraun und Rot schmückten das Gefolge des Herbstkönigs.

Greta wandte sich mir zu. »Es gibt noch jemanden, den du kennenlernen musst. Sie gehört zu deiner Familie, ist jedoch keine Todesmaid. Du wirst sie gewiss erkennen.«

Das erregte natürlich meine Neugier. Ich drehte mich in die Richtung um, in die Greta deutete, und wartete. Aus dem Schatten einer riesigen Vase trat eine Kopie meiner selbst, nur dass ihr Haar die Farbe von Zobelpelz hatte, ein sattes Braun. Sie lächelte und streckte mir die Arme entgegen, und in diesem Augenblick erkannte ich sie. Arial. Meine Zwillingsschwester. Meine Leopardenschwester.

»Arial! O Große Mutter Bast - meine Arial!« Schluchzend stürzte ich mich in ihre Arme und klammerte mich an ihr fest. »Ich kann gar nicht glauben, dass du es bist.«

»Ja, ich bin deine Schwester«, flüsterte sie, und auch ihre Stimme klang wie meine. »Ich lebe hier, wenn ich nicht durch den Astralraum schweife und dich im Auge behalte. Der Herbstkönig hat mich nach meinem Tod aufgenommen, und ich bin hier groß geworden, zwar nicht körperlich, aber geistig.«

»Aber warum bist du nicht bei unseren Ahnen im Land der Silbernen Wasserfälle?« Ich zwang mich dazu, einen Schritt zurückzutreten und sie bei den Schultern zu fassen. »Warum bist du nicht bei unserer Mutter?«

»Das hat Zeit bis später - die Geschichte ist lang und hat viel mit deiner Bestimmung zu tun. Fürs Erste freue ich mich nur, dass wir wieder zusammen sind. Wann immer du uns hier besuchst, können wir uns unterhalten. Außerhalb dieser Mauern kann ich nur in meiner Leopardengestalt erscheinen.« Sie lachte und warf sich das lange Haar über eine Schulter zurück. Es fiel ihr bis auf die Hüfte in Locken, die mich an Camilles Haar erinnerten, obwohl es längst nicht so dunkel und kräftig war. Doch auf ihren Unterarmen sah ich keine Tätowierungen. Sie war keine Todesmaid, das war offenkundig.

Ich wollte sie nicht loslassen, also schlang ich einen Arm um ihre Taille und wandte mich zu Greta um. »Die Götter segnen dich ... dieses Geschenk kann ich dir niemals vergelten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Versprich mir nur, dass du dich nächstes Mal beherrschen und meine Anweisungen abwarten wirst. Auf Leben und Tod gegen einen Feind zu kämpfen, ist die eine Sache, aber du hast seine Seele ausgelöscht, Delilah. Dir ist anscheinend nicht klar, dass du ihn schnurstracks in den Abgrund geschickt hast, ohne den Befehl dazu erhalten zu haben. Das könnte irgendwann in der Zukunft schwerwiegende Folgen haben. Achte ab jetzt gewissenhaft darauf, deine Macht als Todesmaid nicht zu gebrauchen, um deine Feinde zu besiegen, sofern es dir nicht ausdrücklich erlaubt wurde.«

Da verstand ich. Sie bat mich nicht, zukünftig Kämpfe zu meiden, sondern war besorgt wegen der Art, wie ich kämpfte. »Ich verstehe ... und ich verspreche es. Darf ich mich noch ein bisschen unter vier Augen mit Arial unterhalten?«

Greta lachte. »Ihr habt alle Zeit der Welt. Und du darfst jederzeit hierherkommen, wenngleich das vorerst nur außerkörperlich möglich ist. Aber jetzt musst du dich für heute von deiner Schwester verabschieden, denn wir müssen deine Ausbildung fortsetzen.«

Widerstrebend sagte ich meiner Schwester auf Wiedersehen. Arial drehte sich um und winkte mir noch einmal zu, ehe sie den Saal durch eine Seitentür verließ. Ich warf Greta einen fragenden Blick zu. »Was tut meine Schwester hier? Warum ist sie an den Herbstkönig gebunden?«

»Sie ist ihm noch nie begegnet, außer bei ihrer Geburt. Er hat sie zu uns gebracht, und sie ist als entzückender Leopardenwelpe hier eingezogen, sicher und geborgen und von allen Todesmaiden verwöhnt. Wir haben sie sehr liebgewonnen. Wir haben ihr dabei geholfen, zu lernen, wie sie ihre zweibeinige Gestalt annehmen kann. Wir haben sie Sprechen, Lesen und Schreiben gelehrt, sie im Cembalospielen unterrichtet ...«

»Cembalo?«

»Ich habe keine Ahnung, weshalb sie sich gerade dieses Instrument ausgesucht hat, aber es hat sie am meisten angezogen. Sie singt wunderschön und schreibt Gedichte. Außerdem wartet sie uns auf und hilft uns, wo es nötig ist. Sie gehört zu unserer Familie, obwohl sie keine Todesmaid ist.« Sie brach ab. »Alles Weitere wirst du noch erfahren, aber jetzt...«

»Jetzt ist Unterricht angesagt?«

»Ja. Folge mir.« Sie stand auf, und ich folgte ihr durch eine Tür und einen langen Flur entlang. Wir betraten einen weiteren Raum, der schlicht, aber dennoch sehr schön war. In der Mitte stand eine Bank mit einem dicken Polster darauf. »Bitte, setz dich.«

»Was wirst du mir heute beibringen?«, fragte ich und ließ mich auf dem Polster nieder.

Greta lächelte verschlagen. »Oh, Mädchen, es geht nicht um etwas, das ich dich lehren könnte. Was auch immer du tust, steh unter keinen Umständen von der Bank auf. Das ist die einzige Vorschrift, die ich dir mache, und sieh ja zu, dass du sie befolgst. Sonst könntest du sterben. Ich hole dich in einer Weile wieder ab. Bis dann ... « Ihre Stimme erstarb, sie klopfte mir mit ernster Miene auf die Schulter und verließ dann den Raum. Ich hörte das leise Klicken des Schlosses.

Nervös blickte ich mich um und fragte mich, was jetzt passieren würde. Das Licht erlosch allmählich, nur der Bereich um die Bank herum wurde von einem schwachen Glühen erhellt. Alles andere versank in Dunkelheit. Ich holte tief Luft und wartete.

Ein Scharren erregte meine Aufmerksamkeit, und ich fuhr zusammen, erinnerte mich aber rechtzeitig an Gretas Mahnung, die Bank nicht zu verlassen, also zwang ich mich, sitzen zu bleiben. Die Geräusche waren mir unheimlich: Sie klangen nach Füßchen, die im Raum umherhuschten. Ein Schatten hier, eine plötzliche Bewegung da, und auf einmal war ich sicher, ein Gliederbein gesehen zu haben, das kurz aus der Dunkelheit herausragte.

Verflucht. Doch nicht etwa Vierspinnen? Sofort standen mir die Biester wieder vor Augen, gegen die wir vor einem Jahr gekämpft hatten. Kyoka und seine gruseligen Spinnlinge. Konnten die tatsächlich hier sein? Als die Laute näher kamen, glaubte ich plötzlich, hinter mir Atemgeräusche zu hören, und ich begann zu zittern. Jedes Härchen an meinem Körper sträubte sich, und das rasselnde Atmen wurde lauter.

Scheiße! Mein Instinkt kreischte: Lauf, du Idiotin! Aber wenn ich mich vom Fleck bewegte, würde ich wirklich sterben? War das eine Prüfung meiner körperlichen Fähigkeiten? Meiner Kraft? Oder ging es darum, ob ich Anweisungen befolgen konnte? Die Luft blieb mir beinahe im Hals stecken, so stark spannte ich mich an, um sofort aufzuspringen, falls mir irgendetwas zu nahe kam.

Bleib ruhig. Bewege dich nicht. Lauf nicht davon. Die Angst ist dein ärgster Feind. Die Angst kann dich vernichten.

Die Worte hallten durch meinen Kopf, aber das war nicht meine Stimme. Wieder spürte ich Hi'ran, doch die Stimme war weicher und glatter als seine, besänftigend und lieblich wie Honig.

Ich setzte mich auf meine Hände und bemühte mich, nicht zu weinen und nicht auf die Dunkelheit zu achten, die sich enger um mich zusammenzog. Der Lichtkreis um die Bank wurde immer kleiner, das schwache Leuchten erlosch allmählich. Etwas streifte meine Schulter, und ich fuhr herum, sah aber nichts. Ein Stups gegen meine andere Schulter, und ich warf mich nach rechts herum. Aber da war niemand. Nichts, wogegen ich kämpfen, nichts, was ich hätte sehen können.

Atme langsam ein und wieder aus. Schließe die Augen. Greife mit deinen anderen Sinnen aus.

Wieder diese beruhigende Stimme, fest und tief, die meine blankliegenden Nerven in weiche, kühle Seide hüllte. Ich gehorchte ihr und atmete langsam ein und aus. Ein Atemzug nach dem anderen. Bewusst, konzentriert, bemühte ich mich, die Angst zu überwinden.

Die Bewegungen um mich her wurden hastiger, und ich riss die Füße vom Boden und zog die Beine unter mich auf die Bank. Ich wollte nichts so sehr wie mich verwandeln, zum Panther werden und den unbekannten Feind angreifen, der im Dunkeln lauerte. Das Geräusch von tausend krabbelnden Insekten, die über den Dielenboden huschten, machte mir schreckliche Angst, verlockte mich aber zugleich, sie zu fangen.

Hör mir zu. Überwinde die Angst, geh über deinen Instinkt hinaus. Mach in Gedanken einen großen Schritt über die Angst hinweg, und fürchte dich nicht davor, in die Dunkelheit zu gehen. Folge meiner Stimme, folge dem Klang meiner Worte, der Spur meiner Gedanken.

Seine Stimme wurde zu einem baden, und ich folgte ihm. Die Worte verstummten, doch die Energie blieb, und plötzlich konnte ich die Signatur erkennen. Ich hatte so oft gehört, wie Camille genau das beschrieben hatte, aber nie verstanden, wovon sie sprach. Seine Stimme hinterließ eine Spur aus glitzerndem Rauhreif, und ich folgte ihr im Geiste, während ich meinen Körper stillhielt und mich zwang, mich nicht zu verwandeln.

Jetzt stell dir ein Licht vor, ein strahlendes Licht in deinem Inneren. Es leuchtet aus dir und verscheucht Nebel, Staub und Spinnweben.

Ich konzentrierte mich darauf, ein Licht zu erschaffen - darauf, irgendwo in mir einen Schalter zu finden. Zunächst geschah nichts, also strengte ich mich noch mehr an und drängte das Licht, in meinem Bauch zu erscheinen und zu leuchten.

Sofort wurde ich von Erinnerungen an Chase und meine Einsamkeit überflutet, und ich hatte das Gefühl, gefährlich zu schwanken.

Lass ihn los. Lass ihn sein, wer er jetzt ist. Geh durch den Verlust hindurch und lass ihn hinter dir. Was fesselt dich an den Schmerz?

Alle möglichen Gedanken schössen mir durch den Kopf, aber eine klare Stimme aus meinem tiefsten Inneren flüsterte: »Ich habe Angst davor, niemandem etwas zu bedeuten.« Sobald ich das ausgesprochen hatte, erkannte ich das kleine Mädchen, das seine Mutter vermisste, das sich in Gesellschaft von Tieren immer wohler fühlte als unter Menschen und das Gefühl hatte, stets im Hintergrund unsichtbar zu werden.

Das bin nicht mehr ich, dachte ich. Dieses kleine Mädchen habe ich vor langer Zeit hinter mir gelassen, aber ich trage immer noch sein Päckchen. Erinnerungen aus meiner Kindheit, Erinnerungen an Hohn und das ständige Gefühl, minderwertig zu sein, zogen an mir vorüber und kreischten Windwandler, Windwandler! Die Kinder, die mich umzingelten und mich reizten und ängstigten, damit ich mich in das Tigerkätzchen verwandelte, die verächtlichen Blicke unserer Verwandten ...

Du bist kein verängstigtes kleines Mädchen mehr. Du bist eine starke, fähige Frau. Die satte, samtige Stimme streichelte mich, und ich wusste, dass sie die Wahrheit sagte.

Lächelnd wischte ich die Erinnerungen wie Spinnweben beiseite. Sie bedeuteten nichts mehr. Ich hatte die Schüchternheit meiner frühen Kindheit überwunden.

Sobald ich diese Angst losließ, stürmten die schrecklichen Bilder von Werspinnen, Karvanak und den Dämonen auf mich ein. Aber ich wusste, dass ich mich in einem Kampf behaupten konnte. So beängstigend diese Wesen auch sein mochten, ich war sicher, dass ich ihnen gegenübertreten und sie besiegen konnte - oder sie zumindest mit in den Tod reißen würde, wenn es sein musste. Ich konnte mich selbst verteidigen und brauchte niemanden, der meine Kämpfe für mich ausfocht. Diese Bilder verscheuchte ich ohne Ermunterung der Stimme aus meinem Herzen, indem ich ihnen befahl, daraus zu weichen.

Plötzlich war es still im Raum, das Scharren und Huschen war verstummt. Ein heller Strahl schimmerte in der Dunkelheit auf und erleuchtete die düsteren Winkel meines Herzens. Die tintenschwarze Leere verschwand.

Öffne die Augen. Du hast gelernt, heil durch die Angst hindurchzugehen. Du hast dein inneres Licht gefunden, Delilah, den Teil deiner selbst, der jede Finsternis durchdringen kann. Alle Todesmaiden müssen ihr Licht finden, denn sie arbeiten in der Dunkelheit, und die Energie muss im Gleichgewicht bleiben. Für dich ist es schwerer, weil du noch lebst, aber du hast es geschafft. Sei stolz auf dich und wisse, dass du dieses Licht nie wieder verlieren wirst.

Langsam öffnete ich die Augen. Der Raum war hell, und ich sah nichts als ein leeres Zimmer, von schimmerndem Licht erfüllt. Ich saß in der Mitte auf der Bank. Ich stieß den Atem aus, schaute an mir hinab und schnappte nach Luft. Die Tätowierungen an meinen Armen hatten sich verändert. Die schwarzen Schatten waren lebendiger, und in den Blättern schimmerte ein Hauch von Kupferrot und Rostbraun. Die Zeichen wurden kräftiger, und ich vermutete, dass meine Tätowierungen mit jeder weiteren Lektion dunkler werden würden. Ich war stolz darauf, dass ich die Prüfung bestanden hatte, und zufrieden mit mir, weil ich mich der Herausforderung gestellt und gesiegt hatte. Ich blickte wieder auf und entdeckte einen schemenhaften Schatten in der Ecke.

»Delilah?« Die Stimme hallte aus dieser Richtung.

Ich kenne dich. Du warst schon ein paarmal hei mir. »Du bist nicht Hi'ran, aber du trägst seine Energie in dir. Du hast mich jetzt schon mehrmals besucht. Ich will sehen, wer du bist.« Mein Puls begann zu rasen, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich musste herausfinden, wer er war. Ich wollte ihn unbedingt kennenlernen. Er erschien mir so vertraut und doch ... so fremdartig.

Und dann trat er aus der schattigen Ecke hervor. Seine Lippen waren das Erste, was mir an ihm auffiel. Sie verzogen sich zu einem leichten Bogen, einem unglaublich feinsinnigen Lächeln. Ich sah ihm an, dass er kurz davor stand, in Lachen auszubrechen, und das machte dieses gelassene Lächeln umso spannender. Ich trat zurück, und wir sahen einander in die Augen.

Hi'ran?

Nein ... nicht Hi'ran. Aber der Herbst war da, in seiner Aura, in seiner Energie. Ich konnte ihn sehen, spüren, beinahe schmecken - kandierte Apfel und Schmorbraten und Kürbissuppe.

»Ich kenne dich ...«, flüsterte ich.

Der Mann war groß, aber nur zwei Finger breit größer als ich. Soweit ich sehen konnte, war er muskulös, mit schmaler Taille und breiten Schultern. Seine Züge und der warme, karamellbraune Teint deuteten auf eine halb japanische, halb afroamerikanische Abstammung hin, aber auch das war unmöglich zu sagen, denn ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt menschlich war oder nicht. Ein VBM war er jedenfalls nicht, denn er strahlte Energie aus wie ein Leuchtturm.

Seine Augen schimmerten wie glänzender Obsidian oder feine Tinte. Sie glühten, und Sterne blinkten darin. Mehrere schroffe Narben an einer Wange und auf der Stirn entstellten ihn keineswegs, sondern trugen noch zu seinem guten Aussehen bei. Sein Haar schimmerte in hellen und dunkleren Strähnen von Honig, Bernstein und Weizen, und er trug es zum Pferdeschwanz zurückgebunden.

»Du bist so wunderschön«, flüsterte ich, ohne mich darum zu scheren, dass er mich hören konnte. Er war das prachtvollste Geschöpf, das ich je im Leben gesehen hatte, mitsamt seinen Narben und seltsamen Augen.

Da lachte er und schlüpfte aus seinem wadenlangen Ledermantel. Unter dem sattbraunen Leder trug er eine braune Cargo-Hose, einen schwarzen Rollkragenpulli, und um den Hals eine Kette mit einem Anhänger aus rauchig schimmerndem Bergkristall. Seine Füße steckten in Motorradstiefeln, aber da war noch etwas ... und dann bemerkte ich es.

Rauhreif fällt von den Fersen. Frost wie von Hi'rans Stiefeln. Und als der Mann zu mir aufschaute, erhaschte ich einen duftenden Hauch von Herbstfeuern, Holzrauch und dem ersten frischen, scharfen Frost im Herbst.

Automatisch, ohne darüber nachzudenken, trat ich vor ihn hin, und Hi'rans Worte hallten mir durch den Kopf: »Halte die Augen offen, meine Schöne. Und deinen Geist. Denke an die Form meiner Lippen, den Duft von altem Leder und Erntefesten, an den Hauch von Rauhreif in meinem Atem. Lausche auf das Lied, das dein Mal singt, wenn ich in der Nähe bin.«

»Du kannst doch ... Bist du vielleicht ...?« Aber weiter kam ich nicht, denn das Mal auf meiner Stirn begann zu singen, schlug einen Akkord nach dem anderen in mir an, als der Mann die Arme nach mir ausstreckte.

»Wie ...? Wer ...?«

»Psst... lass es einfach sein, was es ist, Delilah. Er ist auch mein Herr und Meister. Und wir sind beide seine Auserwählten.« Er zog mich an sich, und ich schlang die Arme um seinen Nacken, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Als ich in seine Augen schaute, konnte ich längst vergangene Zeitalter sehen, die Äonen, die für diesen Mann schon vorübergegangen waren - wer und was auch immer er sein mochte. Ich wollte mich in seine Arme kuscheln und ausruhen, geborgen und sicher vor den Stürmen meines Lebens.

Er schlang die Arme um meine Taille und drückte mich an sich. Als er die Lippen auf meine herabsenkte, konnte ich gerade noch klar genug denken, um zu fragen: »Wie heißt du?«

Seine Hände strichen über meine Oberschenkel, und er schaute mir unverwandt ins Gesicht, während er flüsterte: »Shade. Nenn mich einfach Shade.« Und dann berührten seine Lippen die meinen, und alles entglitt mir außer der Macht seines Kusses.