Kapitel 8

 

Als wir vor dem Haus hielten, fiel mir sofort ein fremder Wagen auf. Ein fünftüriger Volvo ... er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich schob Camille, die sich aufs Geländer stützen musste, die Treppe hinauf. Da drangen von drinnen streitende Stimmen zu uns heraus.

»Was ist denn da los?« Ich öffnete die Tür und wurde von schallendem Gebrüll aus dem Wohnzimmer empfangen. Iris eilte herbei, und ich schob ihr Camille zu. »Bitte mach es ihr irgendwo gemütlich, und lass sie ja nicht aufstehen, außer wenn sie auf die Toilette muss. Was zum Teufel ist denn hier los? Wer schreit da so?«

Iris wirkte genervt. »Ich wollte gerade dazwischengehen. Nerissa zofft sich fürchterlich mit...« Sie unterbrach sich und starrte an mir vorbei auf die Wand.

»Du weichst meinem Blick aus. Also schön, wer ist da? Sag es mir, ehe ich da reingehe und es selbst herausfinde.« Ich war nicht in der Stimmung für Gebrüll, Streitereien und Gejammer.

»Andy Gambit.« Iris blinzelte.

»Gambit? Gambit? Dieses kleine Wiesel ist hier?« Camille wollte sich an uns vorbeidrängeln, aber ich versperrte ihr den Weg zum Wohnzimmer.

»Ich kümmere mich darum. Du gehst in die Küche und setzt dich in den Schaukelstuhl. Iris, bitte mach ihr einen Tee und fessele sie an den Stuhl, wenn es sein muss. Dann komm rüber ins Wohnzimmer. Was auch immer da drin los ist, ich regle das.«

Ohne ein weiteres Wort platzte ich ins Wohnzimmer. Andy Gambit stand mitten im Raum, und ich starrte einen Moment lang auf seinen Rücken. Der Mann war die Boulevardpresse in Person, eine Dreckschleuder, ein Meister im Verbreiten von Klatsch und Andeutungen. Seinen Mangel an Persönlichkeit versuchte dieser unscheinbare kleine Sack mit Frontalangriffen gegen die gesamte ÜW-Gemeinde wettzumachen.

Ich vermutete, dass wir die Schwarzen, Hispanoamerikaner und Asiaten als seine bevorzugten Ziele abgelöst hatten. Außerdem unterstützte er Taggart Jones, einen rechtsextremen Lokalpolitiker, der mit Nerissa um den Sitz im Stadtrat konkurrierte. Jones wollte sämtliche Rechte wieder einkassieren, die den ÜWs und Feen inzwischen zugestanden worden waren, und - in seinen Worten - »diese Missgeburten dahin zurückjagen, wo sie hergekrochen kommen. Unter einen Stein«.

Und wenn Gambit mit Nerissa stritt, konnte das nur bedeuten ...

»Du beschissene, abartige Fotze«, sagte Gambit gerade, als ich den Raum betrat. Er bemerkte mich nicht. »Wusste ich doch, dass ich dich irgendwann erwischen würde. Du bist nicht nur eines von diesen verfluchten Werbiestern, sondern obendrein eine Lesbe und Nekrophile. Kadaver-Schlampe. Und, bist du auch die Bluthure von dieser D'Artigo-Missgeburt? Gib es lieber gleich zu ...«

Ich packte ihn an der Schulter und riss ihn herum. Stotternd und prustend wich er ein paar Schritte zurück. Ich baute mich vor ihm auf und beugte mich vor, um ihm in die Augen zu starren.

»Wie kannst du es wagen, in unser Haus einzudringen und unsere Gäste zu beleidigen! Suchst du vielleicht Ärger? Das hoffe ich, Freundchen, denn den kriegst du jetzt. Du hast zehn Sekunden, um durch die Tür da zu verschwinden, ehe ich dich mit dem Kopf voran durchs Holz ramme. Raus hier, sonst rufe ich die Polizei und lasse dich wegen Hausfriedensbruchs festnehmen.«

Er hatte mehr Mumm, als ich ihm zugetraut hätte. Ehe ich wusste, wie mir geschah, spuckte er mir mitten ins Gesicht. »Dreckstück. Missgeburten - ihr seid abartig, ihr alle. Ihr macht Männer wild und benutzt sie dann, um die Macht in unserer Gesellschaft zu übernehmen! Ich werde euch zeigen, wer hier das Sagen hat - Männer nämlich. Erdgeborene Männer!«

Aha. Ich warf einen Blick auf seine Hose. Da zeichnete sich eine Latte ab wie die Mittelstange eines Zirkuszelts. Gambit war scharf auf uns, und er fürchtete sich vor seiner eigenen Begierde. Ich wischte mir die Spucke aus dem Gesicht und bemerkte, dass Nerissa mit funkelnden Augen zurückgewichen war. Sie wollte sich verwandeln, und ich ebenfalls - in den Panther. Und wenn das passierte, würden wir ihn am Ende gemeinsam in Stücke reißen.

Ich entschied mich für das geringere Übel und gab ihm ohne ein weiteres Wort eins auf die Zwölf. Ich traf haargenau seine Nase. Er ging zu Boden, und ich konnte nicht anders - ich legte noch einen hübschen kleinen Tritt in die Eier obendrauf.

»Delilah ...« Nerissa sah aus, als könnte sie sich kaum mehr halten.

»Hol Iris. Und gib mir das Telefon.«

Sie beeilte sich, und ich wählte Chases Nummer. Er saß offenbar am Schreibtisch, denn er nahm beim ersten Klingeln ab. »Johnson.«

»Chase, ich hab hier ein Problem in meinem Wohnzimmer liegen.«

»O-oh«, sagte er mit bebender Stimme. »Das wird mir gar nicht gefallen, richtig?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich habe gerade Andy Gambit k. o. geschlagen. Ich will eine einstweilige Verfügung, die es ihm untersagt, sich unserem Haus zu nähern, und - Moment mal«, sagte ich über sein Stöhnen hinweg. Iris war eben hereingekommen.

»Iris«, sagte ich und hielt die Hand vor den Hörer. »Hast du Andy hereingelassen? Oder Nerissa?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bist du von Sinnen? Ich würde diesen erbärmlichen Idioten ebenso wenig hereinbitten wie die Knochenbrecherin. Die Tür war nicht abgeschlossen, und er ist einfach hereingeplatzt, kurz bevor du gekommen bist. Ich wollte ihn gerade hinauswerfen, als du mit Camille zur Tür hereinkamst.«

»Danke. Würdest du bitte dafür sorgen, dass er nirgendwo hingeht? Ich telefoniere mit der Polizei.« Ich nahm die Hand vom Hörer. »Chase, ich will ihn außerdem anzeigen wegen Einbruchs oder Hausfriedensbruchs. Oder wie man das sonst nennt, wenn jemand einfach dein Haus betritt, ohne zu fragen. Er ist ungebeten hier hereingestürmt und hat sich mit Nerissa angelegt.«

»Ich schicke sofort einen meiner Männer zu euch raus. Aber ist dir klar, dass er möglicherweise auch dich anzeigen kann? Hat er euch irgendwie bedroht? Hat er irgendetwas gesagt oder getan, das man so interpretieren könnte, dass du um deine Sicherheit fürchten musstest?« Seinem Tonfall nach wusste er bereits, dass ich keine Angst gehabt hatte.

Aber ... vielleicht ... »Na ja, er hat mich als Dreckstück und Missgeburt bezeichnet und erklärt, er werde mir schon zeigen, wer in dieser Gesellschaft das Sagen habe - erdgeborene Männer. Das betrachte ich durchaus als Drohung.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Er hatte einen Ständer, den man unmöglich übersehen konnte ...«

Chase hüstelte erstickt. »Wunderbar. Ein beispielhafter Vertreter des männlichen Geschlechts, der mich mit Stolz erfüllt, ebenfalls ein Mann zu sein, und so weiter. Okay, mal sehen, ob wir ihm klarmachen können, dass es für ihn übel aussähe, falls er versuchen sollte, dich zu verklagen. Erzähl mir alles noch einmal von vorn. Und lass ja nichts aus.«

Während ich jeden Moment beschrieb, seit Camille und ich das Haus betreten hatten, klingelte es an der Tür und Nerissa führte Officer Yugi, den schwedischen Empathen, ins Wohnzimmer. Iris hielt Andy Gambit mit ihrem Zauberstab in Schach. Er lag immer noch auf dem Boden und spähte argwöhnisch zu dem Aqualin-Kristall hoch. Der summte leise, als Iris Gambit damit vor dem Gesicht herumwedelte.

»Chase, ich muss Schluss machen. Yugi ist da.« Ich legte auf und berichtete ein weiteres Mal, was passiert war. Nerissa schilderte uns die vorangegangene Szene, in der Andy Gambit ihr unter anderem in den Po gekniffen hatte. Sie wollte ihn wegen sexueller Belästigung anzeigen, und ich blieb bei meiner Anzeige wegen Einbruchs. Außerdem sagte ich Yugi, dass ich mich von diesem Perversen in meinem eigenen Haus bedroht gefühlt und ihn deshalb bewusstlos geschlagen hätte. Yugi schleifte Gambit in Handschellen aus dem Haus. Der Klatschreporter hatte nichts mehr gesagt, seit er einen Anwalt verlangt hatte.

Ich schloss die Tür hinter den beiden, lehnte mich an die

Wand und schüttelte den Kopf. »Dieser Mann hat ernsthafte Probleme.«

»Dieser Mann wird sich eines Tages um Kopf und Kragen reden.« Nerissa stieß ein tiefes Knurren aus. »Irgendwann wird irgendein ÜW sich Gambits Beleidigungen nicht gefallen lassen und den Kerl umbringen. Und ich werde bestimmt nicht weinend an seinem Grab stehen.« Sie ließ sich mit einem leisen Stöhnen aufs Sofa sinken. »Wart's nur ab, bis die nächste Ausgabe des Seattle Tattier erscheint. Ich werde auf der Titelseite prangen: ›Lesbischer nekrophiler Werpuma - Stadträtin der Abartigen‹.«

Das sagte sie mit gedehntem, breitem Akzent, und es klang so lustig, dass ich vor Lachen schnaubte. »Ha! Der träumt doch davon, dass du mal mit ihm zusammen abartig wirst. Hast du die Erektion von dem Kerl gesehen? Erschreckend - und dabei war er so wütend. Noch erschreckender.«

Nerissa schauderte. »Ja, die habe ich gesehen, und mir ist ganz schlecht geworden davon. Warum kapieren diese Perversen nicht endlich, dass wir uns nicht für sie interessieren? Dass sie uns mit ihrem Gesabber und Gegeifer und ihren peinlichen Sprüchen, die längst in Rente gehören, kein bisschen anmachen? Wir sind keine Wichsvorlagen, sosehr die sich das vielleicht wünschen. Ich will nicht mal wissen, was der für Phantasien hat, aber ich wette zehn zu eins, dass wir die Stars in seinem persönlichen Pornofilmchen sind. Der Widerling ist mir nicht geheuer. Ich sage dir, eines Tages wird Andy Gambit noch jemanden vergewaltigen. Ehrlich, ich will nicht, dass Männer wie der auch nur an mich denken - egal, in welcher Gestalt oder Situation.«

»Ich auch nicht«, stimmte ich leise zu. »Die Vorstellung, dass so jemand sich an Phantasien von mir aufgeilt oder mich sogar anfasst - da könnte ich sofort einen Haarballen auskotzen.«

»Ja, geht mir genauso.« Nerissa löste ihr goldblondes Haar aus dem Pferdeschwanz und schüttelte es. Es war bräunlicher als meines, aber wunderschön, wie eine Löwenmähne. »Was ist denn Camille passiert? Geht es ihr nicht gut? Sie schaut irgendwie so grimmig drein.«

»Sie hat einen üblen Zauber abbekommen. Ich erzähle euch beim Mittagessen davon - ich würde lieber warten, bis Luke auch da ist.«

»Gut, dann habe ich noch genug Zeit, um schnell zu duschen. Menolly und ich haben zwei herrliche Tage vor uns, die wir zusammen verbringen können.« Ihre Augen strahlten. »Ich hoffe, es macht euch nichts aus, dass wir hier bei euch bleiben. Ich weiß, das Haus ist ziemlich voll.«

»Natürlich macht uns das nichts aus - wir haben dich gern hier.« Spielerisch schnappte ich mir ihre Hand und deutete auf den Ring. »Den habe ich gestern Abend bemerkt und Menolly gezwungen, mit der Wahrheit herauszurücken. Ihr zwei seid wirklich süß.«

Mit einem zärtlichen Lächeln rieb Nerissa an dem Ring. »Es geht wohl in Ordnung, wenn ich dir das sage, denn jetzt tragen wir ja die hier. Letzte Woche ist das L-Wort zum ersten Mal gefallen.«

Ich blinzelte. »Tatsächlich?«

Sie nickte. »Ja. Wir wissen noch nicht, wo das mit uns hinführt. Wir beide spielen nebenbei noch mit Männern herum. Männern, die es geschnallt haben und sich nicht benehmen wie ein gewisser irrer, widerlicher Klatschreporter, den wir beide kennen und hassen. Aber was das Herz angeht, gibt es nur uns beide. Menolly ist eine phantastische Frau, und ich habe mich noch nie im Leben jemandem so nahe gefühlt wie ihr. Sie kennt mich in- und auswendig.« Ihr Gesichtsausdruck unterstrich jedes einzelne Wort.

»Hör mal ... lass mich ihr das mit Gambit erzählen. Sie wird es früher oder später herausfinden, aber wenn du es ihr sagst, wird sie auf der Stelle losstürmen und den Kerl vom Angesicht der Erde fegen. Und das wäre nicht gut, sosehr wir uns das alle wünschen würden.«

»Natürlich«, sagte sie mit sehnsüchtigem Blick. »Aber davon träumen darf ich doch, oder?« Lachend stand sie auf und ging durch den Flur zum Bad. Nerissa hatte genug Zeit hier verbracht, um zu wissen, wo die Handtücher waren.

Während ich dastand und dem Rücken der Amazone nachschaute, der sich den Flur entlang entfernte, konnte ich nur hoffen, dass es bei den beiden besser laufen würde als bei Chase und mir. Ein Klopfen an der Haustür unterbrach meine Gedanken. Iris öffnete und ließ Luke herein.

»Habt ihr etwas über Amber herausgefunden?«, fragte er, und sein Blick huschte hastig durch den Raum.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir haben Neuigkeiten, aber auch neue Fragen. Iris, könntest du Camille helfen, ihren müden Hintern ins Wohnzimmer zu schaffen?«

Ich winkte Luke zu mir ins Wohnzimmer. Er ließ sich auf einem Sessel nieder, schlug ein Bein über und trommelte mit den Fingern auf dem Beistelltisch herum. Nervös. Trotz seiner rauhen Erscheinung sah ich deutlich den bekümmerten Glanz in seinen Augen. Sein langer Pferdeschwanz war säuberlich zurückgebunden, und er sah aus, als hätte er Mühe, die Fassung zu wahren.

Camille tappte langsam zum Sofa. Sie sah immer noch erschöpft aus. Iris brachte ihr eine Decke und verschwand dann rasch, nachdem sie uns Tee und Kekse versprochen hatte.

Luke musterte Camille und schnupperte. »Was ist denn mit dir passiert? Ich rieche da etwas ...« Er brach abrupt ab und knurrte.

»Wolfsdorn«, sagte ich, so sanft und schonend ich konnte, doch er riss mit ängstlicher Miene den Kopf hoch.

»Nein ... nein. Wo zum Teufel seid ihr denn auf Wolfsdorn gestoßen? Ich wusste gar nicht, dass das Scheißzeug auch auf andere wirkt - die keine Werwesen sind, meine ich. Es sei denn, ihr habt mir bisher irgendetwas über Camille verschwiegen.« Er biss sich auf die Lippe und seufzte dann leise, als ihm die volle Bedeutung klarwurde. »Doch nicht ... Amber?«

»Als wir in Ambers Hotelzimmer waren, haben wir eine Falle ausgelöst. Sie ist Camille direkt ins Gesicht explodiert. Eindeutig Wolfsdorn. Anscheinend verträgt sich das Zeug gar nicht gut mit magischer Energie wie ihrer. Hat sie gelähmt. Ich musste einen Krankenwagen rufen.«

»Und meine Schwester?«

Ich sah ihm an, dass er den Atem anhielt, und schüttelte den Kopf. »Von ihr wissen wir nichts. Sie ist weg. Ihre Kleidung ist da, ihre Handtasche, die Schlüssel. Aber Amber ist weg. In dem Raum hing noch eine seltsame magische Signatur. Wir haben keine Ahnung, was da los ist.« Ich zögerte kurz. »Glaubst du, dass Rice Wolfsdorn benutzen würde, um sie gefügig zu machen?«

Luke verzog das Gesicht. »Ich würde zu gern ja sagen, weil diesem Dreckskerl so ziemlich jeder miese Trick zuzutrauen ist... aber Wolfsdorn ... « Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Werwolf das je gegen einen anderen Werwolf einsetzen würde. Derjenige müsste schon ein Psychopath sein, und Rice ist zwar ein sadistisches Arschloch ...« Er wischte sich die Handflächen an den Knien ab und blickte endlich zu mir auf. »Ich weiß es nicht, aber ich glaube eher nicht.«

»Kannst du irgendwie feststellen, ob Rice sich im Moment in Arizona aufhält? Wenn ja, kann er es nicht gewesen sein, obwohl er natürlich jemanden hätte anheuern können.«

Luke runzelte die Stirn. »Ich habe keine Verbindung mehr nach Hause. Amber ist die Einzige aus dem Rudel, die überhaupt noch mit mir spricht. Außer ...« Er runzelte die Stirn, stand auf und ging hinüber zum Fenster. »Ich hatte einen guten Freund. Er wurde auch aus dem Rudel verstoßen, aber er ist dort unten in der Wüste geblieben. Ich habe schon ewig nichts von ihm gehört, aber ich kann versuchen, ihn zu erreichen. Vielleicht könnte er das herausfinden.«

Als er sein Handy zückte und seine Kontakte durchsuchte, fiel mir auf, dass Luke uns recht ähnlich war. Er war ein Windwandler, ein Nomade ohne Wurzeln. Ausgestoßen. Wir lebten zwischen den Welten. Ich hatte zunehmend den Eindruck, dass zu viele Leute keinen Anker im Leben hatten außer der Familie, die sie sich aus ihren Freunden aufbauten.

»Sag mal, was hast du eigentlich an Thanksgiving vor? Wir tischen hier ein riesiges Festessen auf, und du wärst uns herzlich willkommen. Deine Schwester auch, wenn wir sie erst gefunden haben.« Ich wollte die Einladung nicht ruinieren, indem ich andeutete, dass ich Amber für tot hielt.

»Das ist eine gute Idee.« Camille drehte sich ein wenig auf dem Sofa herum. So müde hatte ich sie lange nicht mehr gesehen. »Verfluchtes Mistzeug. Ich kann nicht einmal Trillian,

Morio und Smoky spüren - der Wolfsdorn hat die Verbindung vernebelt.«

Luke blickte über sein Handy hinweg zu uns auf, und sein Blick wurde weicher. »Danke - ich weiß die Einladung zu schätzen. Menolly hat auch schon so was angedeutet, aber ich wollte bei einer Familienfeier nicht stören.« Er hielt inne. »Da ist sie. Jasons Nummer. Ich rufe ihn gleich an ... wir haben uns seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen.«

Er zog sich auf die andere Seite des Wohnzimmers zurück, um zu telefonieren, und ich wandte mich an Iris. »Hast du vielleicht irgendetwas zum Mittagessen? Nerissa kommt sicher auch bald aus dem Bad.«

»Steht schon auf dem Herd. Ich habe gleich etwas aufgesetzt, als Camille angerufen hat.« Der Hausgeist biss sich auf die Unterlippe und setzte sich neben Camille. »Ich werde diesen Winter eine Weile freinehmen müssen. Und ich hatte mich gefragt ... Camille, meinst du, Smoky, Roz und du könntet mich begleiten, sofern ihr euch hier irgendwie loseisen könnt?«

Camille blinzelte und sog dann scharf den Atem ein. »Geht es um ...« Sie unterbrach sich und starrte Iris an. Offensichtlich wusste sie irgendetwas, das ich nicht wusste.

»Ja. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, aber sie ist gefährlich, und ich brauche Hilfe.«

»Augenblick mal, ihr zwei. Was ist los?«, fragte ich. »Wovon sprecht ihr?«

Iris warf Camille einen Blick zu, und meine Schwester nickte. »Du wirst es Menolly und Delilah irgendwann sagen müssen, vor allem, wenn die Jungs und ich dich in die Nordlande begleiten sollen.«

»In die Nordlande? Du willst bis in die Nordlande reisen?

Warum?« Ein Blick auf Iris' Gesicht verriet mir, dass sie sich nicht gerade auf diesen Ausflug freute. Es sah eher so aus, als graute ihr davor. Nein, als hätte sie eine Scheißangst.

»Ich erkläre es dir und Menolly später, wenn die Jungs wieder da sind. Ich denke, es ist wohl an der Zeit, meine Geheimnisse nicht nur Camille zu offenbaren. Und mach ihr ja keine Vorwürfe deswegen - ich habe sie darum gebeten, das für sich zu behalten, weil es mit dem Krieg gegen Schattenschwinge nichts zu tun hat. Ich habe nur erst etwas Zeit gebraucht, um mich selbst damit abzufinden, was ich tun muss.«

Obwohl ich nichts lieber getan hätte, als ihr alles aus der Nase zu ziehen, zügelte ich meine Neugier auf ein erträgliches Maß und sah vornehm davon ab, meine Freundin zu bedrängen. »Sicher, kein Problem«, sagte ich und drückte sie kurz an mich. »Mach du, wie es dir recht ist. Ich kann warten.«

»Das ist gelogen, aber sehr lieb von dir. Du platzt doch gleich vor Neugier. Aber die wird sich noch eine Weile halten. Jetzt lasst mich erst einmal das Essen auf den Tisch bringen. Ich höre Nerissa im Flur - würdest du nachsehen, ob sie den Fön gefunden hat?« Und ehe ich noch ein Wort sagen konnte, verschwand sie in der Küche.

Camille schüttelte den Kopf, als ich mich ihr zuwandte. »Versuch es gar nicht erst. Das erzählt Iris dir besser selbst. Aber mach dich auf was gefasst. Erinnerst du dich an den Zauber, den sie hinter Stacias Haus gewirkt hat? Den Spruch, der den Treggarts das Innere nach außen gestülpt hat?«

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen, aber ich nickte. »Ja, daran erinnere ich mich. Nur zu lebhaft.«

»Der hat etwas mit ihrer Magie zu tun, und mit ihrer Vergangenheit.«

Nun trat Luke wieder zu uns. »Ich habe mit Jason gesprochen. Er lebt noch, das ist immerhin etwas. Einsame Werwölfe, die getrennt von ihrem Rudel leben, haben es sehr schwer. Jedenfalls hat er mir versprochen, sich mal umzuhören. Er wurde erst exkommuniziert, nachdem er selbst das Rudel verlassen hatte, deshalb gilt er bei weitem nicht so sehr als Paria wie ich.«

»Mittagessen!«, rief Iris von der Küche her.

Ich machte einen kleinen Umweg und schaute erst im Gästebad nach Nerissa, doch sie hatte den Fön schon gefunden und war quietschsauber und fidel.

»Hast du Hunger? Iris ist mit dem Mittagessen fertig.« Ich bedeutete ihr, mir zu folgen. Wir gingen in die Küche, und ich sah auf die Wanduhr. Drei Uhr nachmittags, ein bisschen spät fürs Mittagessen, aber viel zu früh fürs Abendessen.

Iris hatte selbstgekochte Tomatensuppe und getoastete Käsesandwiches aufgetischt, dazu Obstsalat und ein atemberaubendes Tablett voller Kekse. Ich klatschte in die Hände. »Kekse!«

Camille schnaubte. »Du und deine Kekse.«

»Ich kann nun mal nicht anders. Ich liebe Süßigkeiten.« Ich rutschte auf meinen Stuhl, biss brav in meinen Käsetoast und löffelte meine Suppe. Beides schmeckte köstlich, aber mein Blick blieb auf das Allerbeste fixiert: Kekse mit Hagelzucker ... o ja.

Während wir aßen, ging die Tür auf, und das Dämonische Duo kam hereingestapft. Roz und Vanzir hatten ihre Mäntel und matschigen Stiefel auf der hinteren Veranda ausgezogen und sahen durchgefroren aus. Sie ließen sich am Tisch nieder, und Roz griff nach einem Keks. Iris gab ihm einen Klaps auf die Finger.

»Erst Mittagessen, dann Nachtisch. Wascht euch, ich mache euch etwas zurecht.« Sie eilte geschäftig zum Herd, während die beiden reuig an die Spüle traten und sich die Hände wuschen. Iris stellte zwei Teller Suppe und mehr Käsetoast auf den Tisch.

Roz biss in seinen Toast und lehnte sich seufzend zurück. »Ehe ihr fragt«, nuschelte er, »nichts. Nada. Wir haben absolut keinen Schimmer, wo die anderen vier Geistsiegel versteckt sein könnten.«

»Mist. Na ja, ihr habt es versucht.« Ich nahm meinen Suppenteller in beide Hände, hob ihn trotz Iris' mahnenden Kopfschütteins zum Mund und trank den Rest Suppe aus. »Mm, das war so lecker, dass ich gern noch einen Teller davon hätte, und noch einen Käsetoast.« Um mich bis dahin über Wasser zu halten, schnappte ich mir einen Keks.

Iris warf Camille einen Blick zu. »Du auch?«

»Ja, bitte. Ich würde dir gern helfen, aber ich fühle mich wie durchgekaut und ausgespuckt.« Sie sah mich stirnrunzelnd an, und ich brauchte eine Sekunde, um zu kapieren, was sie meinte.

Ich sprang auf. »Schon gut, Iris, ich mache das. Setz dich und iss.« Ich übernahm den Dienst am Herd, während Iris sich dankbar auf ihrem hohen Barhocker an den Tisch setzte und zu essen begann. Als ich gerade die Suppenkelle hochhielt und in die Runde fragte »Sonst noch jemand?«, ging die Haustür auf.

»Sonst noch jemand was? Und was riecht hier so gut?« Smokys Kopf erschien im Türspalt. »Essen?« Seine gletscherblauen Augen leuchteten auf.

»Essen, ja. Jede Menge Suppe, und ich überbacke noch mehr Toast. « Ich werkelte herum, während Morio, Smoky und

Trillian in die Küche schlenderten. Sie hängten ihre Jacken auf und setzten sich an den Tisch. Aber ein einziger Blick auf Camille, und ihre joviale Stimmung war wie weggeblasen.

»Camille ... zum Teufel, wie siehst du denn aus?« Morio war unverblümt direkt, und kaum hatte er zu Ende gesprochen, drängten sich alle drei um sie wie Bienen um eine Blüte.

»Das wird schon wieder«, sagte sie und schickte sie mit einem Wink zurück zu ihren Stühlen. »Setzt euch einfach, dann erzählen wir euch, was passiert ist.«

»Jemand muss Menolly auf dem Laufenden halten, sobald sie aufgestanden ist«, sagte ich und wendete die Toastscheiben in der Pfanne. Der Duft von schmelzendem Käse, heißer Butter und geröstetem Brot stieg mir in die Nase, und ich merkte, dass ich immer noch riesigen Hunger hatte. Wir hatten einen schnelleren Stoffwechsel als die meisten VBMs und konnten scheinbar ständig essen. Allerdings war das Essen zu Hause in der Anderwelt meist gehaltvoller, so dass wir dort eher satt wurden.

Camille und ich erzählten, was wir erlebt hatten und was Carter uns über seine Herkunft enthüllt hatte. Währenddessen streckte ich mich nach der Brottüte.

Trillian kam herüber, nahm sie mir ab und griff sich das Buttermesser. Er bestrich die Scheiben mit Butter und reichte sie mir an, und ich lächelte ihm ein wenig schüchtern zu.

Tatsache. Er war so arrogant und eingebildet wie immer, aber irgendetwas hatte sich verändert. Er war freundlicher zu uns anderen und ließ uns nicht mehr völlig links liegen, sobald Camille im Raum war. Ob es daran lag, dass wir jetzt eine Familie waren, oder ob er im Krieg irgendetwas hatte durchmachen müssen, das ihn verändert hatte, wusste ich nicht, und ich würde auch nicht danach fragen. Was immer der Grund dafür sein mochte, diese neue Art war angenehm. Sogar Menolly erwärmte sich ein wenig für ihn.

Als wir mit unserem Bericht fertig waren, stieß Morio ein langes Seufzen aus. »Wolfsdorn. Ich weiß einiges darüber - und wer immer das Zeug benutzt, wir müssen ihn unbedingt aufhalten. Niemand, der auch nur einen Funken Anstand besitzt, würde es anrühren. Verflucht, so etwas Widerliches würden nur die Merés durchziehen.« Er wandte sich an Luke. »Gab es in letzter Zeit Berichte über verschwundene Werwölfe?«

Luke runzelte die Stirn. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich bin bei vielen Rudeln geächtet, weil sie wissen, dass ich zu Hause ein Paria bin. Sie wollen es sich nicht mit meinem alten Alpha verderben.«

Nerissa meldete sich zu Wort. »Eine Freundin von mir gehört zum Olympic-Wolfsrudel. Die sind in dieser Hinsicht ungewöhnlich, sie sind matriarchal organisiert und deshalb bei anderen Werwölfen nicht wohlgelitten. Ich rufe sie mal an und frage sie, ob wir mit ihr sprechen könnten. Vielleicht weiß sie etwas.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Menolly steht erst in ein paar Stunden auf. Luke, möchtest du mitkommen, falls Nerissas Freundin einverstanden ist, sich mit uns zu treffen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ihr das nichts ausmacht. Meine Aura trägt eine Markierung, die besagt, dass ich aus dem Rudel exkommuniziert wurde. Die meisten Werwölfe erkennen sie schon, wenn sie nur in meine Nähe kommen.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich und fragte mich, wie genau diese Energiesignatur aussehen mochte. Ich wollte gerade Camille bitten, danach zu suchen, aber ich brauchte sie nur anzuschauen, um zu erkennen, dass sie im Moment zu nichts mehr fähig war außer einem langen Nickerchen. »Könnte einer von euch großen, starken Eseln bitte meine Schwester nach oben in ihr Bett tragen? Und es wird nicht herumgespielt. Sie muss sich erholen. Der Wolfsdorn hat ihr ziemlich zugesetzt.«

Ich ging einfach über ihren Protest hinweg, als Smoky sie vorsichtig auf die Arme nahm und in Richtung Treppe trug. »Ich bleibe bei ihr und passe auf sie auf«, sagte er. »Würde mir bitte jemand ein Tablett raufbringen, wenn das Essen fertig ist?«

Trillian nickte. »Mache ich. Dann fangen der Fuchs und ich schon mal mit unserem Projekt an, während du auf unsere Frau aufpasst.«

»Projekt?« Irgendwie hörte sich das gefährlich an.

»Wir arbeiten am Gästehaus.« Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.

»Katrina hat heute Nachmittag Zeit«, sagte Nerissa und legte ihr Handy beiseite. »Wir können fahren, sobald ihr mit dem Essen fertig seid. Und, Luke, sie hat gesagt, du wärst ihr willkommen. Sie wohnt hier in der Stadt, obwohl ihr Rudel auf der Olympic-Halbinsel lebt.«

Während ich Käsetoast wendete, fragte ich mich, wohin das alles führen mochte. Viel hatten wir über Amber nicht in Erfahrung gebracht. Wir wussten nicht, wo sie war. Wir wussten nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebte. Frustriert machte ich ein Tablett für Smoky zurecht, und Trillian ging damit hinaus. Als ich in meinen zweiten Käsetoast biss, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass das Universum direkt über unseren Köpfen ein Wettpinkeln veranstaltete. Und ich hatte allmählich genug davon.