Kapitel 14

 

Als ich ihr Blut von seiner Brust geleckt hatte, vermischt mit seinem, kam Camille zu mir. Vorsichtig  näherte sie sich mit ausgestreckter Hand.

»Delilah? Delilah, hör auf. Wir müssen ihn identifizieren. Wir müssen Chase anrufen, wegen Mary Mae. Komm jetzt zurück, Delilah.« Ihre Stimme klang besänftigend und berückend, und unwillkürlich hörte ich auf sie.

Ich schnaubte und wollte diese Missgeburt noch ein bisschen mehr verstümmeln, doch dann wich ich zurück und nahm - diesmal langsam - meine menschliche Gestalt an. Ich hatte immer noch Blut im Gesicht und den Geschmack auf der Zunge, aber inzwischen gehörte so etwas einfach zu mir. Mir wurde immer noch ein bisschen anders, wenn ich an Menolly dachte und daran, wie sie Blut trank, aber ich wurde immer weniger zimperlich.

Ich starrte auf den Leichnam hinab und räusperte mich. »Er hat sie umgebracht. Ich weiß es. Ich habe es gespürt - als Todesmaid.« Und obwohl ich das sagte, um mich besser zu fühlen, war ich mir tief im Herzen sicher, dass das die Wahrheit war. »Sein Atem hat nach Tod gestunken. Er hat sie getötet und es genossen.«

Camille starrte mich einen Moment lang an, dann nickte sie. »Bleib hier. Ich habe Chase schon angerufen. Ich gehe zurück und warte bei Mary Mae.« Sie wandte sich ab.

»Warum hat dich der Wolfsdorn nicht erwischt?«

»Dank deiner Warnung konnte ich noch beiseitehechten, damit das Zeug mich nicht trifft. Du hast mich gerettet. Eine so hohe Dosis hätte mich für lange Zeit lahmgelegt. Ich werde wohl sehr vorsichtig sein müssen, wenn wir irgendwann gegen diese Gruppe vorgehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Oder bereit sein, die Folgen zu ertragen. Vielleicht kennt Wilbur ja eine Impfung oder so dagegen.«

Als sie zum Haus zurückging, hörte ich leises Sirenengeheul in der Ferne.

Chase kniete neben dem toten Gestaltwandler. »Was muss ich wissen?« Beinahe demonstrativ fragte er mich nicht, was passiert war.

»Er hat Mary Mae attackiert. Da sind wir sicher. Ihr Blut klebt an seinen Händen, und ich bin ziemlich sicher, dass ihr auf der Mordwaffe seine Fingerabdrücke finden werdet. Er muss sie irgendwo im Haus fallen gelassen haben. Und dann hat er uns mit Wolfsdorn angegriffen, als wir ihn stellen wollten. Er ist ein Kojote-Wandler, Chase. Kein Mensch.«

»Gibt es eine Möglichkeit, das zu beweisen?« Chase blickte zu mir auf.

»Bitte Sharah, einen Gentest zu machen. Damit kann sie es beweisen. Ich habe ihn verfolgt, und er hat sich umgedreht und uns angegriffen. Ich habe mich in den Panther verwandelt, und ...« Ich hielt inne, als mir aufging, dass ich in großen Schwierigkeiten stecken könnte, falls es uns nicht gelang, dem Kojoten den Mord an Mary Mae nachzuweisen. Denn im Grunde hatte ich ihn niedergemetzelt.

In diesem Moment trat Yugi zu uns in die schmale Gasse zwischen den Gärten. Er hielt eine Papiertüte hoch. »Ich habe die Mordwaffe. Lag gleich neben der Hintertür. Sind blutige Fingerabdrücke drauf. Es sieht so aus, als hätte der Kerl irgendetwas mit ihrem Blut gemacht, bis Camille und Delilah ihn gestört haben.«

»Wahrscheinlich wollte er es ernten, wofür auch immer.« Ich seufzte tief. »Diese Kojote-Wandler ... Chase, die sind nicht wie andere Werwesen. Nicht wie Marion und ihre Leute. Sie sind gefährlich und mörderisch und völlig skrupellos. Sie scheren sich einen feuchten Dreck um irgendjemand anderen, und machtgierig sind sie obendrein.«

»Was glaubst du, warum er sie ermordet hat? Welches Motiv könnte er gehabt haben?«

»Wir sind hergekommen, weil wir mit ihr über Paulos Verschwinden sprechen wollten. Das muss er herausgefunden haben, also hat er beschlossen, sie zu töten, ehe sie mit uns reden konnte. Immerhin wissen wir inzwischen, warum sie Amber entführt haben, und was sie wollen - glauben wir jedenfalls.«

Ich gab ihm einen Wink, ein Stück von Yugi abzurücken. Chase wies sein Team an, die Leiche wegzubringen, und wir kehrten zum Grundstück zurück. Unterwegs erzählte ich ihm von den Koyanni, eine etwas verkürzte Version, aber doch das Wesentliche.

»Und warum haben sie es auf Amber abgesehen?«

»Weil ... also, Camille hat es mit Weitsehen versucht, und als Ambers Bild erschien, haben wir beide erkannt, was sie um den Hals trägt. Eines der Geistsiegel - es muss das Schmuckstück sein, das der Trickster Nukpanas Volk geschenkt und später wieder weggenommen hat. Irgendwie ist es Amber in den Schoß gefallen, und die wollen es zurückhaben.«

»Scheiße. Du meinst, ein Haufen durchgeknallter Kojoten-Gestaltwandler hat jetzt eines der Geistsiegel? Das ist ja genauso schlimm, als hätten die Dämonen es in die Finger bekommen.« Er lehnte sich seufzend an den Gartenzaun. »Was zum Teufel machen wir jetzt?«

»Wir sehen uns diesen Zauberladen an. Inzwischen könntest du etwas für mich tun, nämlich beweisen, dass dieser Kerl Mary Mae getötet hat. Ich weiß, dass er es war ... aber ich möchte deine Art von Beweisen.«

»Gut. Aber sag mir eines: Warum ist Amber noch am Leben, wenn die jetzt haben, was sie wollen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir auch nicht sagen. Wir haben keine Ahnung. Aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Wir müssen sie finden, ehe sie beschließen, dass sie sie nun doch nicht mehr brauchen, und sie umbringen. Und wenn sie das Geistsiegel tatsächlich noch um den Hals trägt, bedeutet das, dass die Kojoten es im Augenblick nicht einsetzen können. Hoffe ich.«

Ich trottete zum Haus zurück, wobei ich den letzten Spuren von Wolfsdorn in der Luft auswich, während Chase zu Yugi und seinem Tatort-Team zurückkehrte.

Camille war im Wohnzimmer und sah die Unterlagen auf Mary Maes Schreibtisch durch. Sie blickte auf, als ich eintrat, und hielt ein großes, in Leder gebundenes Buch hoch. »Paulos Kalender. Der Bursche hatte ganz gut zu tun. Er war Handwerker und hat seine ganzen Aufträge und Termine hier drin vermerkt. Und er war gut organisiert. Er hat alles abgehakt, womit er fertig war.« Sie lächelte mich erwartungsvoll an.

Ich runzelte die Stirn. »Und was nützt uns das?«

»Er hat sie abgehakt, wenn er damit fertig war - sowohl Aufträge als auch persönliche Termine.« Wieder wartete sie, dann sagte sie: »Herrgott ... Delilah, wir schauen uns den letzten Termin an, den er abgehakt hat, und finden heraus, wo er als Nächstes hinwollte!«

Autsch! Ich schlug mir die Hand vor die Stirn. »Entschuldigung, bin noch ein bisschen berauscht von dem Kojoten. Ja, das wäre tatsächlich sehr hilfreich. Wir können mit den Leuten reden, für die er vor seinem Verschwinden gearbeitet hat, und seiner Spur von dort aus folgen. Wo war er denn zuletzt?«

»Hmm ... er hat einen Auftrag in der Elm Street erledigt ... und dann ...« Sie blickte auf. »Der nächste Termin ist eine Verabredung zum Joggen im Rodgers Park. Den hat er nicht abgehakt. Hmm ...« Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Ich wollte schon fragen, wenn sie anrief, als sie sagte: »Katrina, hier ist Camille. Weißt du, mit wem Paulo so Joggen gegangen ist?« Kurze Pause. »Tatsächlich? Danke.«

Sie legte auf, wartete eine Sekunde, griff dann wieder nach dem Telefon und wählte. »Hallo, spricht da Mrs. Davis? Franco Repairs, guten Tag. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Paulo Franco den Auftrag bei Ihnen erledigt hat. Sie hatten einen Termin vor ... Augenblick ... vor zehn Tagen ... Hat er? Gut, und war alles zu Ihrer Zufriedenheit?... Oh, sehr schön. Ich habe noch eine Frage an Sie, und das kommt Ihnen jetzt vielleicht komisch vor, aber ich versichere Ihnen, ich würde Sie nicht danach fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Kam Paulo Ihnen irgendwie seltsam vor?... Na ja, ich will das wissen, weil er vermisst wird, und wir versuchen nachzuvollziehen, wo er an diesem Tag gewesen ist. Wir wissen, dass er nach der Arbeit kurz zu Hause war, aber wir hatten gehofft, dass er vielleicht irgendetwas gesagt ... Nicht? Sie waren ... Gut, also dann, vielen Dank.«

»Lass mich raten: Er war da, hat den Auftrag erledigt, nichts Ungewöhnliches, und sie wollte dich schnell wieder loswerden.« Ich lächelte. »Deshalb überfällt man die Leute mit so etwas persönlich. Glaub mir, du bekommst eine Menge mehr Hinweise darauf, was passiert sein könnte, wenn du ihnen ins Gesicht schaust. Aber ich glaube, in diesem Fall ist alles klar. Er hätte den Auftrag nicht abgehakt, wenn ihm auf dem Heimweg von dort etwas passiert wäre.«

»Dann ... sehen wir uns also im Rodgers Park um? Vielleicht kann ich von dort aus einen Findezauber versuchen.« Sie sammelte ihre Sachen ein, und wir gingen hinaus zum Auto. Ich klappte mein Netbook auf und startete Google Maps.

»Da ist der Park - nicht weit weg. Fahren wir erst dorthin und dann zu dem Zauberladen.« Ich seufzte tief. »Ich überlege die ganze Zeit, was diese Irren wohl mit einem Geistsiegel anfangen wollen. Und dass sie bereit sind zu morden, um ihre Spuren zu verwischen, ist ein schlechtes Zeichen. Ein ganz schlechtes Zeichen.«

Bis wir den Park erreichten, hatte ich es allmählich satt, Spuren zu verfolgen, die ein ums andere Mal ins Leere führten. Wir standen an der Straße und starrten auf den dicht bewaldeten Park vor uns. Wie sollten wir hier irgendetwas finden? Ich schüttelte den Kopf und wollte schon aufgeben und kehrtmachen, als Camille die Hand hob.

»Warte. Ich rieche etwas. Da ist ein Hauch von ... beinahe wie ...« Sie rannte los, und ich folgte ihr den Weg entlang. Als wir um eine Kurve kamen, witterte ich selbst etwas, aber ich kam beim besten Willen nicht darauf, was das war. Es erinnerte an Honig oder Blumen oder sonst etwas Verlockendes. Jedenfalls nicht an Wolfsdorn.

Wir verlangsamten den Schritt, als wir das Wäldchen betraten und nun von Zeder und Ahorn, Kiefer und der einen oder anderen Eiche umgeben waren. Der blumige Duft hing auch hier in der Luft und lockte uns an, nicht so unwiderstehlich wie ein Zauber, aber eindeutig anziehend.

In der nächsten Kurve führte ein Trampelpfad nach links vom Weg ab, und ich übernahm die Führung. Ich deutete auf mein Stilett, und Camille nickte und blieb hinter mir.

Der Pfad wand sich eine kleine Schlucht entlang, und dann sahen wir vor uns offenen Himmel - allerdings schien die Fläche nicht groß genug zu sein für einen Baseballplatz oder sonst eine von Menschen angelegte Lichtung. Wir erreichten den Waldrand und spähten zwischen den letzten Bäumen hindurch, und da, inmitten einer kleinen Lichtung, stand ein großer Felsbrocken. Und auf dem Felsen saß ein Geschöpf, das ätherisch aussah, aber dennoch einen Hauch von Gefahr ausstrahlte.

Ihr Haar war golden und schimmerte in einem Strahl kalten Sonnenlichts, der durch das Blätterdach fiel. Sie war sehr dünn und groß und wirkte zerbrechlich. Aber als sie den Kopf hob und uns mit verweinten Augen anblickte, sah ich ein kaltes Glitzern in ihren Augen, ein eisiges, erbarmungsloses Feuer. Doch sie bedeutete uns nur, ihre Lichtung zu betreten, und wies auf einen umgestürzten Baumstamm.

Wir setzten uns darauf und warteten.

Nach ein paar Augenblicken sprach sie. »Ihr seid nicht ganz menschlich. Gehört ihr zum Stamm-der-fortging?«

Camille und ich wechselten einen Blick. So konnte man es auch ausdrücken. »Ja, wir stammen aus der Anderwelt«, sagte ich. »Unsere Mutter war menschlich, unser Vater vom Volk der Sidhe. Und du bist...?«

»Dryade. Erdgeboren. An diesen Wald gebunden. Oder das, was davon übrig ist.« Sie seufzte theatralisch und wischte sich die Augen. »Jeden Tag komme ich hierher und trauere um den Verlust des Landes. Und jeden Tag wache ich über dieses Fleckchen - diesen Park, wie sie das nennen. Ich beobachte.«

»Wir haben dein Parfüm gerochen«, sagte ich sanft. »Wir wollten dich nicht in deiner Trauer stören.«

»Ihr habt meinen Duft gerochen? Dann haben wir eine Verbindung. Nur jene, die auf irgendeine Weise mit mir verbunden sind, können meine Veilchen und das frisch gemähte Gras riechen. Was führt euch hierher?« Grazil zog sie ein Bein unter sich, umschlang das andere Knie und balancierte so auf ihrem Granitfelsen.

Ich wusste es besser, als sie nach ihrem Namen zu fragen. Dryaden waren ebenso gefährlich und unberechenbar wie Floreaden. Aber sie konnten auch ungeheuer hilfreich sein, wenn ihnen danach war. »Wir versuchen etwas über einen Mann zu erfahren, der vor zwei Wochen in diesem Park gewesen sein könnte. Er war ein Werwolf. Seine letzte Spur führt hierher, und er ist nie nach Hause gekommen. Er hat den Termin in seinem Kalender nicht abgehakt, deshalb haben wir uns gefragt, ob er überhaupt bis hierher gekommen ist.«

»Er war hier zum Joggen verabredet, wahrscheinlich mit einem Freund«, fügte Camille hinzu. »Wir fürchten, ein Kojote-Wandler könnte ihn entführt haben.«

»Kojote-Wandler?« Die Dryade machte schmale Augen. »Mit diesem Abschaum gebt ihr euch ab? Dann verschwindet aus meinem Garten, sonst wird es euch leidtun.« Sie sprang auf, und eine mächtige Dornenranke schoss aus dem Dickicht hinter ihr direkt auf uns zu. Sie sah gemein und gefährlich aus, und die Dornen waren gut zehn Zentimeter lang.

»Warte! Bitte!« Wir rappelten uns hastig von dem Baumstamm auf, und ich schob Camille hinter mich. »Wir suchen nur nach Informationen. Wir sind keine Freunde der dunklen Gestaltwandler!«

Die Ranke verharrte zögerlich. Die Dryade wippte mit einem Fuß auf dem Felsen. »Ein Werwolf, sagt ihr?«

»Ja«, bestätigte ich und wich langsam einen weiteren Schritt zurück. Die zaudernd in der Luft hängende Ranke machte mich nervös, und ich traute der Dryade zu, das Ding jederzeit wieder auf uns loszulassen. »Er war ein Beta-Wolf und wäre leichte Beute für Feinde gewesen, die Wolfsdorn gebrauchen.«

Die Dornenranke zog sich allmählich zurück, aber nur bis zum Waldrand. Wir konnten sie noch gut sehen. Die Dryade hockte sich auf ihrem Felsen nieder und schlang die Arme um die Knie. Ich fragte mich beiläufig, wie ihr hauchzartes Fähnchen von einem Kleid - so dünn, dass es durchsichtig war - sie bei diesem Wetter warm halten konnte. Die Kälte schien sie überhaupt nicht zu stören, aber ich wollte es nicht riskieren, sie mit einer weiteren Frage zu beleidigen.

»Wolfsdorn.« Ihre Stimme war leise. »Jemand benutzt Wolfsdorn. Ich habe ihn gerochen - um die Zeit, von der ihr gesprochen habt. Er hat die Luft meiner Bäume verpestet. Ich weiß noch, dass ich denjenigen verfolgt habe, der diesen Gestank hinterließ, aber er war schnell und nicht leicht aufzuspüren. Am Waldrand habe ich die Jagd aufgegeben.«

»Wir glauben, dass die Kojoten es dazu benutzt haben, unseren Freund zu überfallen. Er hatte eine schwangere Verlobte. Sie wurde heute ermordet, ehe sie mit uns sprechen konnte. Wir wissen, dass einer der Kojote-Wandler - Koyanni nennen sie sich - sie getötet hat, um sie zum Schweigen zu bringen. Die wollten verhindern, dass sie uns etwas erzählt, das ihre Pläne gefährden könnte.« Ich beschloss, es zu versuchen. »Würdest du uns helfen? Würdest du uns zeigen, wo der Wolfsdorn freigesetzt wurde, den du gerochen hast?«

Sie starrte uns einen Moment lang stumm an. Dann nickte sie einmal, sprang von dem Felsen und bedeutete uns, ihr zu folgen. Das dichte Unterholz vor ihr teilte sich und enthüllte einen verborgenen Pfad.

Die Dryade führte uns auf verschlungenen Wegen durch den Wald, bis wir eine Wiese mit einer Laufbahn erreichten. Sie zeigte darauf. »Dort war er. Ich habe ihn beobachtet, weil er mir seltsam vorkam, nicht menschlich, und ich beobachte alle auf diesen Pfaden. Er war übrigens allein. Es war kein Freund bei ihm.«

»Niemand?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wollte ihn schon weiter seine Runden drehen lassen, als eine Gruppe Gestaltwandler von diesem Weg dort drüben kam.« Sie deutete auf einen der Parkwege. »Sie rannten zu ihm hin, ich hörte ein lautes Geräusch und roch den Wolfsdorn. Da habe ich mich versteckt, deshalb habe ich nicht gesehen, was passiert ist. Als ich eine Weile später zurückkam, war von dem Werwolf und den Gestaltwandlern keine Spur mehr zu sehen. Nur der Wolfsdorn trieb noch durch die Luft.«

Camille und ich gingen zu der Laufbahn hinüber. Sie sah nicht so aus, als würde sie viel genutzt. Das lag wahrscheinlich daran, dass es seit zwei Wochen fast ununterbrochen regnete und die Laufbahn aus sandiger Erde bestand. Die meisten Jogger bevorzugten die Gehwege an den Straßen oder befestigte Parkwege, wenn sie im Regen liefen, und in Seattle ließen sich die Jogger von ein paar heftigen Regengüssen nicht daran hindern, ihre Runden zu drehen.

 

Wir gingen die vierhundert Meter lange Bahn ab. An der Stelle, wo sie dem Fußweg am nächsten kam, den die Dryade uns gezeigt hatte, blieb ich stehen. Etwas Glänzendes lag im Gras. Wir gingen hin und knieten uns neben den Gegenstand.

»Eine Armbanduhr«, sagte Camille und hob sie auf. Sie drehte sie um. »Nicht teuer, aber schau mal - eine Gravur. Für Paulo, die Liebe meines Lebens.« Sie wurde bleich. »Das war Paulos Uhr.« Sie richtete sich auf, beschattete die Augen mit der Hand und starrte zu den gegenüberliegenden Bäumen hinüber. Ich folgte ihrem Blick.

»Jemand muss da auf ihn gewartet haben, um ihn dann zu überfallen und zu verschleppen. Was ist da drüben?« Ich wandte mich der Dryade zu, die uns auf die Wiese gefolgt war.

Sie runzelte die Stirn. »Parkplatz«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Verfluchte Maschinen. Reißen den Boden auf, wühlen die Erde auf und legen Pflaster und Asphalt. Menschen müssen das Laufen wieder lernen.«

Ich sagte nichts, um sie nicht zu einer Brandrede gegen Autos zu ermuntern. Ehrlich gesagt, mochte ich meinen Jeep, obwohl er nicht gerade umweltfreundlich war, und Autos waren längst ein fester Bestandteil der menschlichen Gesellschaft geworden. Allerdings eroberten diese neuen Hybridautos gerade mein Herz, weil sie einen Versuch darstellten, die Welt nicht gar so zu verschmutzen.

»Kojote-Wandler haben ihn hier erwischt. Sie haben ihn zum Parkplatz geschleppt ... Ich wette, für Paulo war der Weg hier zu Ende.« Camille senkte den Kopf. »Der arme Kerl. Und die arme Mary Mae und ihr Baby.«

Mein Handy klingelte, und die Dryade machte einen Satz zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ich ging beiseite und nahm das Gespräch an. »Ja?«

»Hier Chase. Wir haben etwas gefunden, das ihr euch anschauen müsst. Es ist nicht hübsch.«

»Was ist es denn?« Von nicht hübsch hatte ich allmählich die Nase voll. Ich hatte mal wieder richtig Lust auf etwas Nettes. Vielleicht sogar etwas, das geradezu Spaß machte.

»Die Frage müsste lauten, wer war es. Wir glauben, es könnte sich um die Überreste eines eurer gesuchten Werwölfe handeln. Ich sage glauben, weil das, was wir hier haben, nicht mehr besonders gut zu erkennen ist. Kommt so schnell wie möglich aufs Revier.« Damit legte er auf.

Ich schloss das Handy und drehte mich zu Camille um. »Wir müssen los. Chases Leute haben etwas gefunden.« Ich wandte mich der Dryade zu. »Vielen Dank für deine Hilfe - wir wissen das sehr zu schätzen. Wenn du jemals irgendetwas brauchst, lass es uns wissen, und wir werden sehen, was wir für dich tun können.«

Sie blinzelte. »Ist das dein Ernst?«

Na wunderbar. Erdwelt-Feen waren berüchtigt dafür, dass sie das Wort »danke« als Blanko-Schuldschein verbuchten. Wenn wir so ein Versprechen gaben, dauerte es normalerweise ein, zwei Monate, bis die Leute es einlösen wollten, und wenn wir Glück hatten, sagten sie irgendwann einfach »Vergesst es« und betrachteten das Ganze als Gefälligkeit. Aber die hier meinte es ernst.

»Ja. Woran denkst du?«

Sie blinzelte erneut, dann breitete sich ein verschlagenes Lächeln über ihr Gesicht. »Ich könnte einen neuen Garten zum Hegen gebrauchen. Ich habe es satt, dass es hier immer enger für mich wird. Finde einen Ort für mich, wo die Bäume noch wild und frei sind, dann ziehe ich um.«

Oha. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich verbiss mir die ersten Worte, die mir dazu einfielen, nämlich Na klar, wir sind ja auch der Weihnachtsmann, und zwang mich zu lächeln. »Wir werden uns bemühen. Es könnte ein bisschen dauern. Machen dir kalte Winter etwas aus?«

Die Dryade bedachte mich mit einem Blick, als hätte ich sie gerade gefragt, ob sie Brandrodung befürworten würde. »Nein ... sieht es so aus, als störte ich mich an der Kälte? Du darfst mich Hyacintha nennen. Ich warte hier auf dich. Lass mich nicht zu lange warten. Bitte.« Und damit verschwand sie im Unterholz.

Camille warnte mich mit einem Kopfschütteln, jetzt ja nichts zu sagen. Wir liefen hinüber zum Parkplatz, und sie hielt noch immer Paulos Armbanduhr in der Hand. Sobald wir im Auto waren, berichtete ich Camille, was Chase gesagt hatte. »Ich fürchte, nach einem unserer vermissten Werwölfe brauchen wir nicht mehr zu suchen.«

Sie verzog das Gesicht. »Großartig. Na los, fahren wir. Dieser Tag wird ja immer schlimmer.«

Da war ich ganz ihrer Meinung. Aber um ehrlich zu sein, glaubte ich, dass nicht mehr viel Schlimmeres kommen konnte als die tote Mary Mae, die wir vorhin gefunden hatten. Zumindest betete ich darum, dass ich mich da nicht täuschte.