Kapitel 4

 

Scheiße, verdammte.« Ich fuhr in eine zerrissene Jeans und suchte ein altes T-Shirt heraus. »So, wie ich stinke, wird mich alles wittern, was auch nur eine halbe Nase hat.«

Ich wackelte ein wenig herum, um die Jeans über meine Oberschenkel zu bekommen, und schlüpfte dann in das T-Shirt. Kopfschüttelnd drehte ich mich zum Spiegel um, und mir stockte der Atem. Mit dem dunkelgrünen Shirt und der schwarzen Jeans ließ mein frisch gestutztes, strubbelig abstehendes, fleckiges Haar das Grün meiner Augen leuchten, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Im ersten Moment erkannte ich mich kaum wieder.

»Wow.« Ich drehte mich hin und her. Ich sah geradezu tough aus. Knallhart, als müsste ich nie wieder weinen. Und das stand mir gut.

»Nun macht schon!«, hallte Menollys Stimme von unten die Treppe herauf, und ich riss mich aus meiner Betrachtung, schnappte mir Lysanthra, meinen Dolch, und steckte sie sorgfältig in das Futteral an meinem Stiefel. Sie und ich hatten eine großartige Beziehung, und ich zog nie mehr ohne sie in einen Kampf.

Ich hetzte die Stufen hinunter und begegnete Camille und den Jungs, die gerade aus ihrem Zimmer kamen. Überraschung Nummer zwei in puncto Styling: kein Rock. Camille trug einen Catsuit aus schwarzem Samt mit ausgestellten Hosenbeinen. Ein silberner Gürtel saß tief auf ihrer Hüfte, und Schnürstiefel vervollständigten das Retro-Outfit. Sie sah aus wie Catwoman oder Emma Peel, nur mit mehr Oberweite. Ihre Männer trugen Jeans und T-Shirts, in denen sich gut kämpfen ließ, und wir polterten gemeinsam die Treppe hinunter.

Menolly hatte ebenfalls ihr Kleid ausgezogen und war in Jeans, Rollkragenpulli und Lederjacke geschlüpft. Roz war wie üblich mit seinem Staubmantel ausgerüstet, in dem ein ganzes Arsenal Platz hatte. Vanzir trug natürlich Rocker-Chic. Wortlos gingen wir hinaus zu den Autos, und Iris verriegelte die Tür hinter uns.

Wir teilten uns in drei Gruppen auf. Camille und ihre Männer nahmen ihren Lexus, Roz fuhr in Menollys Jaguar mit, und Vanzir hüpfte auf den Beifahrersitz meines Jeeps. Camille fuhr voran, und wir folgten ihr hinaus auf die Straße und in Richtung Halcyon Hotel.

Exo Reed war ein Werwolf und gehörte zum Rat des Loco-Lobo-Rudels. Außerdem war er ein verlässliches Mitglied der UW-Gemeinde und ein engagierter Stadtbürger. Er war im Grunde ein herzensguter, geschäftstüchtiger Prolo, der auf Psychedelic Country stand und sein Hotel auf ÜWs aller Art ausgerichtet hatte.

Allerdings hatte er strengere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, nachdem Dredge - der meine Schwester verwandelt hatte - sich in seinem Hotel eingenistet hatte. Bei unserem Versuch, ihn zu vernichten, war eine Suite völlig verwüstet worden. Nachdem wir Dredge erledigt und beinahe Exos Hotel niedergebrannt hatten, hatte Exo eine Seherin angestellt, die Unruhestifter im Vorfeld erkennen konnte. Seitdem war das Hotel praktisch immer ausgebucht, weil viele ÜWs den zusätzlichen Schutz während ihres Aufenthalts zu schätzen wussten.

Die Straßen von Belles-Faire glitten im Dunkeln an uns vorüber. In diesem Vorort gab es noch recht viel unbebautes Land, und einige Feen kauften so viel wie möglich davon auf, um es zu bewahren. Die meisten Leute, die hier wohnten, bekamen das nicht mit, doch in den Versammlungen unserer ÜW-Gemeinde war dieser stille Coup ein häufiges Thema. Abgesehen davon suchten wir in unseren Sitzungen hauptsächlich nach Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen unseren Leuten und den VBMs zu verbessern.

Ich warf einen Blick zu Vanzir hinüber, der aus dem Fenster starrte. »Alles in Ordnung? Du kommst mir heute Nacht so still vor.« Normalerweise hatte der Dämon kein Problem damit, zu allem, von Rockmusik bis Politik, seine Meinung zu äußern.

Er zuckte mit den Schultern. »Ja. Mir geht's bestens.«

»Sieht aber nicht so aus.«

Er schnaubte. »Das musst du gerade sagen.« Dann seufzte er genervt und meinte: »Hör mal, es tut mir leid, dass ich vorhin auf der Party so begriffsstutzig war. Ich weiß, dass du eine schwere Zeit durchmachst. Und falls ich das sagen darf: Ich finde, du gehst mit Johnsons Situation sehr gut um.«

Ich blinzelte und wäre beinahe einen heftigen Schlenker gefahren. Ein Kompliment von unserem Rocker-Dämon? So gut wie einmalig. Aber ich wollte keine große Sache daraus machen, weil er aufrichtig besorgt klang. Und Vanzir in einem sarkasmusfreien Augenblick zu erleben, war etwa so, als erwischte man den Weihnachtsmann auf Diät.

»Danke«, entgegnete ich und überlegte, was ich noch sagen könnte. »Es ist schwierig - wir hatten es von Anfang an nicht leicht.«

»Er ist nicht dein Typ.«

Ich warf Vanzir aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Warum?«

»Auch wenn er jetzt den Nektar des Lebens getrunken hat, er ist trotzdem nicht der Richtige für dich. Im Lauf der Zeit wird er dich immer mehr ablehnen. Ich zweifle gar nicht daran, dass er dich liebt«, sagte er und hob die Hand. »Ich bezweifle allerdings, ob eine Beziehung mit jemandem, der nicht in deine Welt hineingeboren wurde, wirklich lange halten kann. Ich glaube, ihr seid viel zu verschieden. Du bist einfach nicht menschlich genug, als dass eine Beziehung mit einem VBM funktionieren könnte, egal, wie lange er leben wird.«

»Glaubst du, dass Smoky es irgendwann bereuen wird, mit Camille zusammen zu sein? Er ist ein Drache, und die sind mindestens so anders, wie wir uns von VBMs unterscheiden.« Seine Antwort interessierte mich wirklich.

Er runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich nicht. Sie sind seelenverbunden, und das macht einen gewaltigen Unterschied. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass ein VBM keine Seelenverbindung mit irgendjemandem aus anderen Welten eingehen kann. Sie können sich nur untereinander binden. Du und deine Schwestern seid nur durch das Feenblut eures Vaters dazu in der Lage.«

Ich presste die Lippen zusammen. Dieser Gedanke nagte schon an mir, seit meine Affäre mit Chase begonnen hatte. Ich liebte ihn auf vielerlei Weise, aber als ich mit Zachary geschlafen hatte, war in mir das Bedürfnis entfesselt worden, mich mit jemandem zusammenzutun, der meine Raubtiernatur verstand.

Ich war nicht nur eine Frau, die hin und wieder in ein Katzenkostüm schlüpfte. Ich war teils Fee, teils Mensch, teils Katze und ganz und gar Todesmaid. Ich war als Panther oder Kätzchen ebenso sehr ich selbst, wie wenn ich auf zwei Beinen ging.

Jetzt erreichten wir Exo Reeds Hotel, und ich stieg schweigend aus. Vanzir ließ das Thema fallen, und wir eilten zum Eingang. Camille und ihre Männer stießen zu uns, und Menolly und Roz folgten ihnen auf dem Fuße.

Camille zupfte an meinem Ärmel. Sie sah fix und fertig aus. »Kätzchen, ich fühle mich wie der Tod auf Latschen und kann kaum noch geradeaus schauen. Übernimmst du die Führung?«

Ich grinste sie an. »Du würdest dich in Latschen nicht mal begraben lassen. Klar übernehme ich, das macht mir nichts aus.« Ich setzte mich an den Kopf unserer kleinen Truppe und ging den anderen voran ins Hotel.

Chase und eine Gruppe Officers des Anderwelt-Erdwelt-Tatort-Teams warteten gleich hinter der Tür. Ich blieb stehen und wartete, bis er uns bemerkte. Während wir da herumstanden, war von der Treppe und aus dem Stockwerk über uns lautes Krachen und Poltern zu hören. Verdammt, das klang wie ein ganzer randalierender Mob.

Chase schaute herüber, sah uns und winkte uns herbei. Als ich ins Licht des Foyers trat, blinzelte er. »Dein Haar.« Er stutzte, und dann sah er meine Tattoos, als ich mir die Jacke auszog. »Deine Arme ...« Er schüttelte den Kopf und sagte: »Dafür haben wir später noch Zeit. Gott sei Dank, dass ihr endlich da seid. Da oben herrscht das reinste Chaos, und es gab schon Verletzte.«

Ich blickte mich nach Camille und Menolly um, und die beiden strafften die Schultern. Uns stand ein Kampf bevor, also war es an der Zeit, zur Hochform aufzulaufen. Camille nahm einen Schokoriegel von Morio entgegen, der mir auch einen reichte. Wir schlangen die Süßigkeit hinunter, die uns ein bisschen zusätzliche Energie geben würde.

»Was haben wir denn?«, fragte Trillian, die Hand an seinem Kurzschwert.

Chase runzelte die Stirn. »Hauptsächlich Goblins. Sie schlagen das Hotel kurz und klein.« Er wies auf Exo, der neben ihm stand.

»Vor etwa einer halben Stunde kam ein Haufen Goblins hier reingeplatzt und hat es sich gemütlich gemacht«, erzählte Exo. »Ich habe dem Sicherheitsdienst gesagt, dass sie die Kerle im Auge behalten sollen, und das war auch gut so. Die haben sich betrunken und versucht, ein paar von den Beta-Werwölfen zu entführen - und zwar nicht die Weibchen.«

»Sie haben versucht, Beta-Männchen zu entführen? Was zum ...?« Das war merkwürdig. Goblins holten sich für gewöhnlich Frauen, die sie dann auf dem Sklavenmarkt drüben in der Anderwelt verkauften.

»Ja - komisch, was? Meine Rausschmeißer sind dazwischengegangen, und da haben die Schläger angefangen zu randalieren. Eine ganze Gruppe ist nach oben gegangen, und der Rest ist in der Lounge. Die werfen Tische durch die Gegend, schlagen alles kaputt, was ihnen in die Finger kommt, und trinken meine Bar leer. Meine Sicherheitsleute werden nicht mit ihnen fertig. Einer meiner Männer ist schon zu Boden gegangen. Ich glaube, er ist tot.«

»Verdammt«, flüsterte ich.

»Es kommt noch schlimmer.« Ich erstarrte, als ich Chases Gesichtsausdruck sah. »Exo sagt, die Anführer seien zwei Treggarts - die Dämonen sind nach oben gegangen.«

Er schloss ganz kurz die Augen, doch ich sah die Sorge in seinem Gesichtsausdruck. Treggarts hatten ihn beinahe umgebracht und waren letztendlich dafür verantwortlich, dass wir ihm den Nektar des Lebens eingeflößt hatten. Einer dieser menschenähnlichen Dämonen hatte Chase mit einem Blutdolch übel zugerichtet, einer Klinge mit einem Zauber, der verhinderte, dass das Blut des Opfers gerann. Wir wären damals beinahe zu spät gekommen.

Und dann traf es mich wie ein Schlag: Chase hatte Angst. Was bedeutete, dass er uns im Kampf hinderlich sein würde. Ich tippte ihm auf die Schulter.

»Würdest du die Einsatzkräfte koordinieren? Schafft so viele Leute wie möglich aus dem Hotel. Nimm ein paar der weniger erfahrenen Officer mit und evakuiert erst mal die Räume, die man noch sicher erreichen kann.«

»Schwachsinn. Du willst mich nur irgendwie beschäftigen.« Chase zögerte und neigte den Kopf zur Seite. »Ich bin wohl tatsächlich eine Belastung«, sagte er dann leise. »Ich werde tun, worum du mich bittest. Aber, Delilah, pack mich ja nicht in Watte. Ich bin vielleicht ziemlich durch den Wind, aber behandele mich nie wieder so von oben herab.« Er warf mir einen finsteren Blick zu.

Ich biss mir auf die Lippe und bohrte mir dabei einen Fangzahn durch die Haut. Mist. Aber wir hatten jetzt keine Zeit, uns zu streiten. Ich fuhr wieder zu den anderen herum.

»Wir teilen uns auf. Camille, du, Morio und Smoky kommt mit mir. Wir nehmen uns die Lounge vor. Trillian, du, Roz und Vanzir geht mit Menolly nach oben.« Ich wollte Camille und Morio nicht trennen - ihre Magie verband sie immer enger miteinander, und gemeinsam waren sie unglaublich stark.

Die anderen nickten, lösten sich von der Gruppe und folgten Menolly zur Treppe. Ich wandte mich der Doppeltür zur neu gestalteten Lounge zu. Als wir zuletzt hier gewesen waren, war der Raum ein psychedelischer Alptraum gewesen.

»Alles klar? Ich bezweifle, dass sie uns bei all dem Geschrei und Gepolter da drin schon gehört haben.«

»Bereit«, sagte Camille, und während ich sie ansah, konnte ich die Energie spüren, die sich auf sie herabsenkte und sie einhüllte. Die kam aber nicht vom Horn des Schwarzen Tiers - das hatte sie in der Anderwelt so gründlich entladen, dass es diesmal zwei volle Neumonde brauchte, um sich wieder aufzuladen.

Morio legte ihr die Hände auf die Schultern und stützte sie. Er schob seine Umhängetasche aus dem Weg, in der er seinen Talisman, einen Totenkopf, ständig mit sich herumtrug. Ohne das Ding konnte er seine menschliche Gestalt nicht wieder annehmen, wenn er sich erst in einen Fuchs verwandelt hatte. Dann nickte er mir zu. Smoky ließ die Fingerknöchel knacken und lächelte dünn.

»Also los. Und denkt daran: kein Erbarmen, kein Mitleid, denn die Goblins hätten auch keines mit uns.« Ich zog Lysanthra aus dem Futteral an meinem Stiefel, warf den dreien einen letzten Blick zu und stieß energisch die Tür auf.

Als wir in den Raum platzten, sah ich mich rasch um. Er war voller dunkler Gestalten, nur trübe erhellt von den Überresten der Decken- und Wandbeleuchtung. Soweit ich erkennen konnte, hatten wir es mit gut zwanzig Goblins zu tun. Betrunkenen Goblins. Na, hurra. Nüchtern waren Goblins schon schlimm genug, aber im Suff drehten sie erst richtig auf. Goblins, die der Hafer stach: nicht schön.

Die Lounge war ein Trümmerfeld - umgekippte Tische und Stühle überall, Glasscherben, vor allem um die Bar, Löcher in den Wänden, und es stank, als hätte jemand einen Brand auf die widerlichste Weise gelöscht, die man sich vorstellen konnte - strenger Uringeruch hing in der Luft. Vor lauter üblen Gerüchen nahm ich mein Stinktier-Parfüm kaum mehr wahr.

Das Gebrüll verstummte schlagartig, als sich alle Augen auf uns richteten. Ich hielt den Atem an und wartete auf diesen besonderen Moment, in dem ein innerer Drang mich losstürmen ließ. Vor jedem großen Kampf gab es diesen entscheidenden Impuls, den einen Augenblick, in dem die Hölle losbrach. Und er kam stets, bevor ich mich dafür bereit fühlte.

Doch als ich diesmal den Blick über unsere Gegner schweifen ließ, empfand ich eine ruhige Selbstsicherheit. Auch Angst, ja, aber hauptsächlich Selbstvertrauen. Lysanthra summte in meiner Hand und zitterte leicht vor Erregung. Sie liebte einen ordentlichen Kampf, und wenn ihre Klinge in unsere Feinde drang und sie Blut schmeckte, sang Lysanthra. Und ihr Gesang gab mir noch mehr Kraft.

Dann machte irgendjemand - vielleicht ein Goblin, vielleicht einer von uns - eine kleine Bewegung, die Starre löste sich, und der Kampf brach los.

Ich stürmte vor, direkt auf einen der größten Goblins zu, den ich sehen konnte. Unsere Strategie war es, immer erst die härtesten Gegner auszuschalten, was die schwächeren meist so einschüchterte, dass sie aufgaben oder die Flucht ergriffen.

Der Schläger war mindestens so groß wie ich, aber gut fünfundzwanzig Kilo schwerer. Adrenalin flutete meinen Körper. Goblins waren potthässlich, und ihre ledrige Haut schützte sie wie eine gute Rüstung. Das Haar hing ihm in kruden Dreadlocks vom Kopf, und als ich ihm gegenübertrat, zog er eine Augenbraue hoch, und ein widerlich freudiger Ausdruck stand in seinem Gesicht.

Camille stieß einen schrillen Schrei aus - eine Art Schlacht ruf - und nahm Morios Hand. Die beiden woben ein magisches Netz, das man unmöglich ignorieren konnte. Smoky schoss an ihnen vorbei, grollend wie ein Erdbeben, und als er einen der Goblins attackierte, wurden seine Fingernägel plötzlich zu langen, rasiermesserscharfen Krallen. Sein Haar schnellte vor wie eine Bullenpeitsche und klatschte der Bestie mit einem scharfen Knall ins Gesicht. Smoky schlitzte dem Dämon mit einem Hieb seiner Klauen den Oberkörper auf und sprang dann zurück, ehe das Geschöpf ihn zu fassen bekam.

Mein Gegner griff mich an, und wir umkreisten einander. Ich bemerkte eine Chance - er hatte seine Deckung einen Moment lang vernachlässigt, und das reichte mir, um vorzuspringen und zuzustoßen. Ich machte einen Ausfallschritt, Lysanthra begann in meiner Hand zu singen und fuhr in seinen Unterleib. Er brüllte vor Schmerz, als ich mich mit blutiger Klinge zurückzog.

Der Goblin hob die Hände und führte sie über dem Kopf zusammen. Ich suchte nach seiner Waffe und begriff zu spät, dass er einen Zauber wirkte. Ach du Scheiße - ein Goblin- Magier, und Magie hatte ich rein gar nichts entgegenzusetzen!

Ich sprang beiseite, als er die Handflächen in meine Richtung streckte und eine Flamme auf mich zuschoss. Ich entkam dem Feuer um Haaresbreite und wurde nur ein wenig angesengt, als der Flammenstrahl an mir vorbeiraste. Jetzt war ich im Vorteil. Ich nutzte seine Haltung aus und ließ Lysanthra auf seine ausgestreckten Arme herabsausen. Er kreischte, als ich ihm tiefe Wunden in beide Unterarme schlug, und wich zurück. Ich setzte nach und rammte ihm Lysanthra durch eine Lücke in seinem Lederwams in die Brust.

Der Goblin kippte rücklings und zog mich mit sich, weil ich meinen Dolch festhielt. Ich landete auf ihm und zog rasch die Klinge heraus. Sein Blick flackerte - es war noch Leben in ihm. Grimmig schlitzte ich ihm die Kehle auf, von einer Seite des Halses bis zur anderen. Ich war mir sicher, dass er tot war, also sprang ich auf und orientierte mich.

Camille und Morio ließen irgendetwas durch eine ganze Gruppe Goblins gleiten - das sah ich, aber ich wusste nicht genau, was sie da taten. Eine Art Netz aus Schatten schob sich über fünf Goblins auf einmal, dunkel und zäh, als triefe es vor schwarzem Gift. Die Goblins starrten meine Schwester und ihren Mann wie versteinert an.

Ihre entsetzten Mienen erschreckten mich, und ich fragte mich, was zum Teufel Camille und Morio vorhaben mochten. Aber mir blieb keine Zeit für mehr als einen flüchtigen Gedanken. Smoky hatte zwei weitere Goblins niedergemacht und nahm sich gerade den dritten vor.

Ich wandte mich dem nächststehenden Biest zu und tippte mir mit der Klinge herausfordernd an den Oberschenkel. »Na komm schon, Kleiner.«

Er sagte etwas auf Calouk, aber ich sparte mir die Mühe, mir die Übersetzung zu überlegen. Ich stürmte in vollem Lauf und laut kreischend auf ihn zu. Der Goblin wirbelte halb herum und parierte meinen Angriff mit seinem Kurzschwert.

Unsere Klingen pfiffen durch die Luft und prallten klirrend aufeinander. Es gelang mir, jeden seiner Hiebe abzuwehren, doch er war mir überlegen.

Ein Geräusch erschreckte mich, und ich wandte den Kopf und sah einen Goblin, der sich hinter einem umgekippten Tisch versteckt hatte. Er donnerte auf mich zu, eine gezahnte Klinge vor sich ausgestreckt. Ich schleuderte ihm Lysanthra entgegen und hechtete beiseite. Als er an mir vorbeitaumelte, ragte mein Dolch aus seinem Bauch.

Ich wirbelte herum und versetzte ihm einen gewaltigen Tritt in den Hintern. Er fiel vornüber und trieb sich meinen Dolch ganz durch den Leib.

Hastig drehte ich ihn mit einem Tritt herum. Es stank widerlich süßlich nach Blut, als ich den Griff meines Dolchs packte und ihn aus seinem Bauch riss. Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um einen weiteren Goblin zu sehen, dessen Klinge schon auf mich herabsauste. Als ich mich duckte und seitlich wegzurollen versuchte, hörte ich das Scheppern von Metall auf Metall, und einen Moment lang starrte ich plötzlich in ein glimmendes Augenpaar, das mich aus einem dunklen Schatten heraus anstarrte. Die Klinge des Goblins war abgelenkt worden, ehe sie mich treffen konnte. Mit einem lauten Ächzen fiel er um, offensichtlich ins Herz getroffen.

Ich rappelte mich erschrocken auf und spürte eine kühle Brise an mir vorbeistreichen, die nach Friedhof und Herbstfeuern roch. Hi'ran? Seine Energie umwehte mich wie eine tröstliche Umarmung, und doch ... und doch ... war das nicht er. Ich wirbelte zu der dunklen Wolke herum, die sich aber in diesem Moment auflöste.

»Was zum ... wer bist du?«, rief ich dem verblassenden Schatten nach, doch er war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.

»Was hast du gesagt, Kätzchen?« Camilles Stimme drang scharf durch meine verblüfften Gedanken.

Ich wischte meinen Dolch an der Kutte des toten Goblins ab und merkte, dass es um uns herum völlig still geworden war. Camille, Smoky, Morio und ich waren die Einzigen, die noch standen. Der Saal stank nach Blut und Tod, und ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich schwankte kurz und spürte den Panther in mir erwachen. Sie wollte jagen, sich mit in die Schlacht stürzen, die Erscheinung verfolgen, die den letzten Goblin getötet hatte, doch es war niemand mehr da, gegen den sie hätte kämpfen können. Ich unterdrückte den Drang und flüsterte beruhigende Worte an die Raubkatze, die in mir gefangen war.

Als die anderen sich um mich versammelten, sah ich, dass Smoky, obwohl er Weiß und Hellblau trug, wie üblich nicht einen einzigen Fleck abbekommen hatte. Morio und Camille waren ebenso blutbespritzt wie ich.

»Sehen wir nicht zauberhaft aus?«, bemerkte ich mit einem Blick in die Runde. »Bis auf die alte Eidechse. Eines Tages musst du uns dein Geheimnis verraten. Wir gehören doch jetzt zur Familie.«

Er grinste nur.

Morio schlang Camille einen Arm um die Taille. »Zumindest haben wir hier aufgeräumt.«

Camille nickte, sah mich aber weiterhin an. »Mit wem hast du gerade gesprochen?«

Ich versetzte dem Goblin noch einen Tritt und zuckte mit den Schultern. »Ich ... weiß es nicht.« Aus irgendeinem Grund brachte ich es nicht über mich, darüber zu reden. »Sehen wir mal nach, ob die anderen uns brauchen.«

Smoky runzelte die Stirn. »Ich finde, wir sollten Exo Reed dringend nahelegen, die Leichen zu entsorgen. Und zwar endgültig. In letzter Zeit ist Seattle offenbar zum Tummelplatz für Untote geworden, und wir wollen doch keine Horde Goblin-Zombies - oder Schlimmeres - hier herumlaufen haben.«

»Wiederbelebung«, sagte Morio und wechselte einen Blick mit Camille. »Nicht dass wir irgendeine Ahnung davon hätten.«

Sie unterdrückte ein Kichern, das leicht hysterisch klang, und wir verließen die Lounge. Exo stand draußen vor der Tür, und neben ihm Chase, der mich mit einem knappen Lächeln empfing.

»Alles erledigt«, sagte ich. »Exo, du solltest die Leichen lieber verbrennen, wenn du nicht weiteren Ärger haben willst. Sonst riskierst du, dass sie wieder auf die Beine kommen. Verbrenn sie.«

Der Werwolf nickte, und sein Gesicht hinter der Elton-John-Brille, die er neuerdings ständig trug, wirkte ernst. »Ich rufe meinen Cousin an. Der hat auf seinem Land genug Platz für einen Scheiterhaufen.« Er schaute zu der Doppeltür hinüber. »Ich brauche mir wohl keine Hoffnungen zu machen, dass da drin irgendwas heil geblieben ist?«

Ich sah ihn an, und der Hotelier tat mir leid. Er versuchte nur, seinen Laden zu leiten. Goblin-Invasionen hatten nicht auf der Tagesordnung gestanden. Doch meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem seltsamen Schatten zurück, der mir das Leben gerettet hatte. Wer zum Teufel war da erschienen, wenn es nicht Hi'ran gewesen war?

»Äh ... ich fürchte, nein. Tut mir leid.«

Er seufzte. »Habe ich mir schon gedacht.«

Getrappel auf der Treppe kündete Menolly, Roz und Vanzir an, die hintereinander die Stufen herunterstiegen. Sie waren mit Blut bedeckt, und Menollys Mund glänzte dunkelrot. Sah ganz so aus, als hätte sie sich noch einen kleinen Mitternachtssnack gegönnt. Vielleicht war das auch ihr Abendessen gewesen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie jemanden hinter sich herschleifte. Es war einer der beiden Treggarts - hübsch ordentlich verschnürt.

»Ihr habt einen gefangen genommen? Glaubst du, er weiß irgendetwas, das uns nützen könnte?« Camille eilte zu Menolly hinüber.

Menolly lächelte sie an, und ihr Lächeln war beängstigend. »Wer weiß? Das werde ich bald herausfinden.«

Ich wandte mich Chase zu, der mich mit einem Blick irgendwo zwischen verloren und wütend betrachtete. »Sieht so aus, als wären wir hier fertig.« Und weil ich einfach nicht anders konnte, fügte ich hinzu: »Möchtest du nicht mit mir nach Hause kommen? Wir haben schon so lange nicht mehr ...«

Er kaute auf seiner Unterlippe herum, die ganz rissig aussah. Gleich darauf zuckte er mit den Schultern. »Wir sollten wohl mal in Ruhe miteinander reden, ja.« Er schien sich nicht gerade darauf zu freuen.

Ich behielt meine verletzten Gefühle für mich und rang mir ein Lächeln ab. Du brauchst dich vor Freude nicht gleich zu überschlagen. Aber ich hielt den Mund. Die anderen schleppten schon den Dämon nach draußen zu Menollys Wagen. Ich drehte mich wieder zu Chase um. »Willst du bei mir mitfahren, oder ...«

»Ich komme gleich mit meinem Auto nach«, fiel er mir abrupt ins Wort. »Nur für den Fall ... du weißt schon, dass ein Notruf reinkommt oder ich weg muss oder so.«

»Ja, ist gut.« Wieder zwang ich mich zu lächeln und beugte mich vor, um ihn zu küssen, doch er wandte den Kopf ab, und meine Lippen streiften nur knapp seine Wange. Ich eilte , hinaus zu meinem Jeep.

Menolly brachte den Dämon in den Wayfarer. Sie, Vanzir und Rozurial waren der Meinung, wir Übrigen sollten schnurstracks nach Hause fahren.

»Wir kriegen alles aus ihm heraus, was er weiß. Wartet nicht auf uns.« Ihre Augen waren eisig grau, und ich warf einen einzigen Blick auf ihren gespannten Kiefer und nickte.

Aus dem kleinen Schutzraum, den wir dort im Keller verdeckt eingebaut hatten, würde kein Laut nach außen dringen. Keine Magie konnte hinein oder hinaus, kein Dämon oder sonst irgendetwas konnte sich durch diese Barrieren teleportieren. Im Prinzip war er so etwas wie unser Weltuntergangsbunker. Und wenn der Treggart erst mit Menolly und vor allem Vanzir da drin war, würde er seine Geheimnisse preisgeben.

Ich kam vor Chase zu Hause an und rannte hinauf in mein Schlafzimmer, wo ich sämtliche Schmutzwäsche in den Kleiderschrank stopfte, mich vergewisserte, dass mein Katzenklo sauber war und nicht müffelte, und aus den blutigen Kleidern schlüpfte. Die warf ich gleich weg. Blut und Skunk-Gestank besiegelten ihr Schicksal.

Ich duschte schnell und entschied dann, ein waldgrünes Negligé von Victoria's Secret zu opfern. Über den Brüsten war es mit Spitze besetzt, und obwohl ich nicht annähernd an Camilles Oberweite herankam, füllte ich dieses Hemdchen hübsch aus.

Ich schlenderte zum Fenster hinüber und starrte in die windige Nacht hinaus. Wenn wir erst allein und im Bett waren, würde Chase sich vielleicht entspannen und die Sorgen, die ihn quälten, eine Weile vergessen. Vielleicht würde er sich mir öffnen, Trost bei mir suchen. Oder mir erlauben, ihn zu trösten.

Ich stieg ins Bett, lehnte mich ans Kopfteil und zog mir die Decke bis unters Kinn. Das Zimmer war kühl und etwas zugig, aber ich liebte es. Normalerweise herrschte ein schreckliches Durcheinander - ich war ziemlich schlampig und gab das auch offen zu. Aber es hatte Charme. Ich hatte es mit Katzenspielzeug, Hello-Kitty-Postern, Stapeln von Zeitschriften und meinem Computertisch eingerichtet, an dem ich viel Zeit im Internet verbrachte. Ich hatte mir auch einen eigenen Fernseher gekauft, sah aber immer noch lieber unten fern, wo ich meistens Menolly oder Camille überreden konnte, mitzugucken.

Mein Haar fühlte sich seltsam an, und ich schüttelte den Kopf und staunte einmal mehr darüber, wie leicht und kantig ich mich mit der neuen Frisur fühlte. Was Chase wohl davon halten würde, wenn er genug Zeit hatte, mich richtig anzuschauen? Und wie würde er meine Tattoos finden?

Seltsamerweise stellte ich fest, dass ich mir deshalb keine allzu großen Sorgen machte. Falls sie ihm nicht gefielen, würde die Welt davon nicht untergehen. Mein Haar würde wieder wachsen. Und vielleicht kam ich ja zu dem Schluss, dass ich es so kurz lassen wollte. Oder es wieder ganz lang wachsen lassen, wie früher, als ich jung war. Und die Tattoos waren jetzt schon ein Teil von mir, ein Ausdruck meiner Berufung. Sie würden auf jeden Fall bleiben, und es fühlte sich an, als wären sie schon immer da gewesen.

Nach einer Weile hörte ich draußen ein Auto halten, und mir stockte der Atem. Ich spähte aus dem Fenster, und tatsächlich, es war Chase. Er stand neben seinem SUV, die Hände in den Taschen, und starrte das Haus an. Seine Miene wirkte nachdenklich.

Nach guten fünf Minuten setzte er sich endlich in Bewegung, und ich wich vom Fenster zurück. Iris war noch auf und kochte Brühe für morgen - sie würde ihm aufmachen.

Während ich auf die Türklingel wartete, ging ich im Geiste die möglichen Szenarien durch. Chase würde zu mir hochkommen, und alles würde wieder gut werden - die Spannung würde sich auflösen, er würde mich in den Arm nehmen, und dann würden wir uns lieben.

Oder vielleicht ... würde er zu nervös sein und mich zurückweisen. Oder mich abstoßend finden wegen meiner Frisur und - o ihr Götter, der Gestank! Ich trug immer noch Eau de Skunk. Im Lauf der Nacht hatte ich mich daran gewöhnt, aber jetzt wurde mir zu meinem Entsetzen klar, dass Chase gleich durch diese Tür kommen würde und ich nach faulen Eiern stank. Scheiße, was sollte ich jetzt machen?

Dann klopfte es leise an meiner Tür, und sie wurde einen Spalt weit geöffnet. Chase spähte zu mir herein, und ich vergaß alles - mein Haar, das Stinktier, die ganze Anspannung des vergangenen Monats, und stürzte mich weinend in seine Arme.