Kapitel 6

 

Luke war schon früh in der Bar, hauptsächlich deshalb, weil wir ihn angerufen und ihn gebeten hatten, sich dort mit uns zu treffen. Er reichte mir eine Sprühflasche mit handgeschriebenem Etikett.

»Geh in Menollys Büro, zieh dich aus und sprüh dich von Kopf bis Fuß ein, auch die Haare. Damit müsste der Gestank größtenteils verschwinden.« Er scheuchte mich weg, und ich verzog mich in Menollys Büro.

Ich legte alle Klamotten ab und bespritzte mich gründlich mit dem Zeug. Sofort ließ der Skunk-Gestank merklich nach. Also beschloss ich, auch meine Kleidung einzusprühen. Welch Wunder, es funktionierte, und viel schneller, als ich gedacht hätte. Ich lief zwar immer noch mit einer coolen Punk-Frisur herum, aber zumindest stank ich nicht mehr. Ich schlüpfte wieder in meine Sachen, als mir etwas auffiel. Auf Menollys Schreibtisch lag ein cremeweißer Umschlag, auf den in Scharlachrot ein Dolch geprägt war. Menollys Name stand in elegant geneigter Handschrift vorne drauf.

Ich spähte durch den Türspalt hinaus und vergewisserte mich, dass Camille und Luke beschäftigt waren. Dann setzte ich mich auf Menollys Sessel und griff vorsichtig nach dem Brief. Der Umschlag war schon geöffnet worden, also brauchte ich nur den Inhalt herauszuziehen, um einen Blick darauf zu werfen. Ich hatte leichte Gewissensbisse, aber ich sagte mir, scheiß drauf, sie würde genau dasselbe tun, wenn sie meinetwegen besorgt wäre. Und dieser Dolch auf dem Umschlag machte mir Sorgen.

Eine Karte glitt aus dem Umschlag - so eine dicke, edle, auf der man normalerweise Einladungen verschickte. Ich hielt sie an den Ecken fest und klappte sie auf. Da stand nur:

Ms. Menolly D'Artigo,

ich wünsche das Vergnügen Ihrer Gesellschaft als meine Begleiterin beim Vampirball zur Wintersonnenwende, welcher am Abend des 17. Dezember im Clockwork Club stattfinden wird. Meine Limousine wird Sie pünktlich um elf Uhr zu Hause abholen. Eine Antwort erübrigt sich - ich gehe davon aus, dass Sie meiner Einladung nachkommen.

Roman

Was zum ...? Wer war Roman? Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht zuordnen, obwohl ich sicher war, dass ich ihn schon einmal gehört hatte. Ich schob die Karte zurück in den Umschlag und legte ihn wieder auf ihren Schreibtisch. Dass Menolly uns nichts von diesem Ball erzählt hatte, machte mich noch misstrauischer.

»Delilah?« Lukes Stimme drang durch die Tür. »Alles klar?« Hastig zog ich den Reißverschluss meiner Jeans hoch, zupfte meinen Pulli zurecht, schnappte mir die Sprühflasche und öffnete die Tür.

»Ja, ich hab nur schnell noch meine Klamotten eingesprüht. Kann sein, dass sie davon ausbleichen, aber besser als der Gestank, der sich darin gesammelt hat. Du solltest dieses Zeug vermarkten - es wirkt Wunder. Ach ja, hat Camille dich um ein Foto von Ambers Mann gebeten?«

Er begleitete mich nach vorn und runzelte die Stirn. »Nein, sollte sie?«

»Sollte sie was?«, fragte Camille. »Und wer ist sie?«

»Das Foto - weißt du nicht mehr? Wir bräuchten ein Foto von Ambers Mann, wenn möglich. Ich dachte, du hättest Luke darum gebeten, als du ihn heute Morgen angerufen hast.«

»Verdammt, das hab ich vergessen ...«

Luke unterbrach sie. »Ist schon gut. Ich habe zufällig ein Foto von den beiden zusammen in meiner Brieftasche. Das könnt ihr haben.« Er zückte seine Brieftasche und fischte das Bild heraus. »Hier, bitte - das ist Rice, ihr Ehemann. Beschissenes Arschloch.«

»Das sagtest du bereits«, murmelte ich und nahm das Foto. »Okay, wir fahren jetzt rüber zu dem Hotel.« Auf dem Weg zur Tür wandte ich mich noch einmal zu dem Werwolf um. »Luke, waren in letzter Zeit irgendwelche ... fremden Vampire in der Bar? Oder andere Gäste, die dir ungewöhnlich vorkamen, besonders reich zum Beispiel?«

Er runzelte die Stirn und lehnte sich an den Tresen, wobei sein Bizeps sich deutlich unter dem Shirt abzeichnete. O ja, der Mann hatte Muskeln. »Also, neulich kam jemand rein, der vermutlich ein Vampir war, aber ich war mir nicht sicher. Er hat einen Brief für deine Schwester abgegeben. Meinst du den?«

Ich zuckte beiläufig mit den Schultern, weil ich nicht wollte, dass er weiter darüber nachdachte und meine Neugier womöglich Menolly gegenüber erwähnte. »Nein, ich glaube nicht. Aber trotzdem danke.«

Camille zupfte mich am Ärmel und sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf und ging ihr voran nach draußen. Dort zog ich meine Jacke gegen den frischen Wind enger zusammen. Wir stiegen in meinen Jeep, und nachdem wir uns angeschnallt hatten, wandte Camille sich mir zu.

»Also, was sollte das gerade?«

»Na ja, ich habe einen Brief auf Menollys Schreibtisch gefunden. Es war eine Einladung, nein, eher ein Befehl - dass sie mit jemandem namens Roman zu einem Vampirball im Clockwork Club gehen soll. Teurer Umschlag, Büttenpapier, Schönschrift. Da sie von einer Limousine abgeholt werden soll, ist der Kerl vermutlich reich.«

Sie ließ sich das durch den Kopf gehen - ich konnte die Rädchen beinahe rattern sehen. Dann schnippte sie mit den Fingern. »Roman! Ich erinnere mich, dass sie den Namen mal erwähnt hat. Er ist ein uralter Vampir, und sie war bei ihm, als wir versucht haben, Sabeles Verschwinden aufzuklären. Sie hat gesagt, er sei sogar noch älter als Dredge. Was bedeutet, dass er sehr mächtig ist. Was zum Teufel will der von Menolly? Ich meine, ich habe sie sehr gern, aber der Kerl muss unter den Vampiren so etwas sein wie ... ich weiß nicht... ein Rockstar?«

»Keine Ahnung, aber ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, und ich will wissen, was da los ist. Wir können es uns nicht mehr leisten, Geheimnisse voreinander zu haben.« Ich ließ den Motor an und fuhr los, als es gerade wieder zu regnen begann. Durch die nass glitzernden Straßen der Stadt machten wir uns auf den Weg zu dem Hotel.

Amber hatte sich ein Zimmer im Jefferson Inn genommen, einem Hotel mit moderaten Preisen und einem kleinen Imbiss-Restaurant. Familien verbrachten hier ihren Urlaub, unerwünschter Verwandtschaftsbesuch wurde in dem Hotel abgeladen, und Handelsvertreter, die nicht genug verdienten, um sich das Hyatt leisten zu können, nahmen sich hier ein Zimmer.

Luke hatte uns erzählt, dass Amber schon für mehrere Tage im Voraus bezahlt hatte, also schlenderten wir direkt zur Rezeption. Camille drehte ihren Glamour auf, und wir beugten uns über den Empfangstresen.

»Was kann ich für Sie tun?« Der Hotelangestellte drehte sich um und blinzelte. Zweimal. Sein gehetzter Blick verflog, als Camille ein strahlendes Lächeln auf ihn abfeuerte.

»Wir benötigen eine Information, und Sie sind der Mann, der uns helfen kann.« Sie zwinkerte, und er errötete. Ach ja, wenn wir ihren Sexappeal in Flaschen abfüllen könnten, wäre die baldige Weltherrschaft kein Problem. Zusammen mit Lukes Entstinker-Spray die beste Erfindung seit geschnitten Brot.

»Was möchten Sie denn wissen?« Er beugte sich über den Tresen, gebannt von ihrem Blick, und seine Augen wurden groß und dunkel, während er die Pheromone einatmete, die meine Schwester verströmte. Er sog tief die Luft ein, hielt den Atem an und schloss kurz die Augen.

»Wir brauchen Informationen über Amber Johansen, die gestern hier im Hotel eingecheckt hat. Wissen Sie, von wem wir sprechen? Sie ist im siebten Monat schwanger.«

Ich hielt ihm das Foto von Amber und ihrem Mann hin. »Und haben Sie den Mann gesehen, der hier mit ihr auf dem Bild ist?«

Der Angestellte starrte kurz auf das Foto, dann nickte er langsam. »Das ist sie - ich erkenne sie wieder. Ob der hier war, weiß ich nicht.«

»Könnten Sie uns die Zimmernummer und den Schlüssel geben? Wir müssen nach Amber sehen und uns vergewissern, dass es ihr gutgeht. Und wir wissen natürlich, dass unser Besuch unter uns bleibt - unser kleines Geheimnis.« Camille lächelte erneut und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Der Hotelangestellte überschlug sich beinahe in seiner Hast, eine Schlüsselkarte für das Zimmer zu programmieren. Er gab sie Camille und seufzte tief.

»Zimmer vier-zweiundzwanzig. Bringen Sie mir nur bitte den Schlüssel zurück, wenn Sie fertig sind.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah Camille erwartungsvoll an. Sie küsste lasziv ihre Fingerspitzen und pustete ihm dann ein Luftküsschen zu. Er erschauerte selig, und ich wandte rasch den Blick ab. Manche Männer waren allzu leicht zu haben ...

Wir gingen zum Aufzug, ehe uns noch jemand sah. Als wir im vierten Stock ausstiegen, fanden wir Zimmer 422 direkt um die Ecke. Ich lauschte an der Tür. Nichts zu hören. Nach ein paar Sekunden trat ich zurück und nickte. Camille kam zur Tür, zog die Schlüsselkarte durch, und das Schloss sprang auf. Sie öffnete die Tür, wich beiseite, und ich stieß die Tür auf und schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter.

Der Raum war schlagartig hell, aber leer. Camille spähte ins Bad, entspannte sich dann und schloss die Tür.

»Niemand da.«

»Jetzt vielleicht nicht, aber jemand war hier.« Ich öffnete den Kleiderschrank und zog auch die Schubladen auf. Tops, zwei Umstandsröcke, etwas Unterwäsche ... Amber war da gewesen, kein Zweifel. »Schau mal in die Garderobe. Koffer?«

Camille schob die Falttür vor dem Garderobenschrank auf. »Koffer, ja, und zwei Paar Schuhe. Außerdem ein Mantel.«

Ich runzelte die Stirn. Es war so spät im Oktober viel zu kalt, als dass jemand aus Arizona ohne Mantel in Seattle herumlaufen würde. Vor allem, wenn diejenige schwanger war. »Siehst du irgendwo ihre Handtasche?«

»Hier ist sie, hinter dem Bett, fast an der Wand. Komisch«, sagte Camille. »Keine Frau wirft ihre Handtasche hinters Bett auf den Boden.«

Sie reichte mir die Tasche, und ich kramte darin herum. »Ihr Ausweis, Führerschein, Medikamente - sie nimmt irgendwas, wahrscheinlich wegen der Schwangerschaft. Mal schauen ... der Geldbeutel ist leer, aber die Kreditkarten sind noch da.« Ich sah zu Camille hinüber, die auf der Bettkante saß, und fügte hinzu: »Das sieht nicht gut aus.«

Sie zögerte und neigte den Kopf zur Seite. »Ich empfinde eine sehr seltsame Energie in diesem Raum, Kätzchen. Sie kribbelt vor Magie, aber ich kann sie nicht identifizieren.«

Ich konnte Energie nicht so erspüren wie meine Schwester, aber ich hatte ein ähnliches Gefühl, einfach aus dem Bauch heraus. »Woher kommt sie?«

Camille schloss die Augen und streckte die Hände aus. »Von ... der Minibar? Sehr merkwürdig.« Sie kniete sich vor den winzigen Kühlschrank, und als sie die Tür öffnete, gab es einen lauten Knall, und eine Wolke von irgendetwas verbreitete sich im Raum.

»Was zum ...?« Camille sprang zurück und keuchte und würgte so heftig, dass ich dachte, sie würde sich gleich die Lunge aus dem Hals husten. »Mir ... schwindlig ...« Sie griff nach der Kommode, um sich abzustützen, und brach dann auf dem Boden zusammen.

»Camille!« Ich eilte zu ihr, aber sobald ich in ihre Nähe kam, tränten mir die Augen, und ich konnte mich kaum mehr erinnern, was ich hier eigentlich wollte. Magie. Da musste irgendeine Art Zauber in dem Zeug sein, das gerade aus der Minibar hervorgeschossen war.

Ich wankte zurück, stützte mich aufs Bett, atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Eine Minute später begann sich der Dunst zu lichten, und ich öffnete das Fenster, wedelte etwas von dem Zeug nach draußen und schnappte mir dann mein Handy.

Den Blick auf Camille geheftet, die immer noch bewusstlos auf dem Boden lag, wählte ich rasch die Nummer der AETT-Zentrale und dann Sharahs Durchwahl. Sie ging beinahe sofort dran - offenbar war heute nicht allzu viel los. Ich berichtete ihr, was passiert war, und nannte ihr die Adresse.

»Bitte atme weiter, bitte ...« Ich konnte sehen, wie sich die Brust meiner Schwester langsam hob und senkte, was mir sagte, dass sie zumindest noch lebte. Was immer sie da erwischt hatte, schien sich in der frischen, kalten Luft immer mehr zu verdünnen, aber ich wagte es nicht, wieder in ihre Nähe zu kommen, damit wir nicht am Ende beide hilflos dalagen.

Zehn Minuten später klopfte es diskret an der Tür. Es war Sharah, die mächtig Gas gegeben haben musste.

»Da ist sie«, sagte ich und deutete auf Camille. »Sie hat die Minibar aufgemacht, es gab einen Knall, und sie ist zusammengebrochen. Als ich zu ihr gehen wollte, war sie schon bewusstlos, und mir wurde so schwindlig und wirr, dass ich nicht mal in der Nähe bleiben konnte.«

Sharah nickte, setzte eine einfache Gasmaske auf, kroch zu Camille hinüber und schleifte sie weg von der Minibar. Ich half ihr, sie aufs Bett zu heben. Sharah untersuchte sie rasch.

»Ihr scheint so weit nichts zu fehlen. Wenn sie nicht aufwacht, bis ich hier fertig bin, nehme ich sie mit in die Klinik.« Sie ging zur Minibar hinüber. Vorsichtig spähte sie hinein. »Magische Sprengfalle, so eingerichtet, dass sie explodiert, wenn die Tür geöffnet wird.« Sie berührte die Sprengvorrichtung behutsam mit den behandschuhten Fingerspitzen. »Schwer zu sagen, was da explodiert ist. Ich glaube, wir bringen Camille lieber gleich ins Hauptquartier, und ich nehme mir das Ding erst dort vor.«

Während sie die Sprengfalle aus dem Schrank löste, durchsuchte ich das restliche Zimmer, fand aber nichts. Dann erklärte ich ihr kurz, warum wir hier waren.

»Ich frage mich nur - Werwölfe haben mit Magie nicht viel am Hut, also wie zum Teufel ist Rice an eine magische Falle gekommen?«

Sharah nickte langsam. »Du hast recht. Lykanthropen verabscheuen Magie noch mehr als die meisten anderen Werwesen, sie wollen nicht einmal in der Nähe irgendwelcher magischen Dinge sein. Sofern ihr Mann ein typischer Werwolf ist, würde er keine magische Falle benutzen, außer er wurde dazu gezwungen. Wir müssen das hier zum Hauptquartier schaffen und es analysieren. Und Camilles Bewusstlosigkeit ist unverändert tief. Das macht mir Sorgen.« Sie klappte ihr Handy auf und sprach leise hinein. »Shamas kommt gleich mit einer Trage.«

Zum ersten Mal, seit Camille umgekippt war, begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen. »Sie wird doch wieder zu sich kommen, oder nicht?«

»Es geht ihr bald besser, da bin ich sicher. Wir müssen nur herausfinden, was das für ein Zeug ist.«

»Verdammt.« Ich setzte mich neben Camille aufs Bett und nahm ihre Hand. Sie war kalt. Schweigend breitete ich die Decke über sie. Als ich aufblickte, sah ich, dass Sharah mich beobachtete.

»Chase hat mir gesagt, dass ihr beide gestern Nacht Schluss gemacht habt. Geht es dir gut?« Sie errötete. »Ich will nicht aufdringlich sein, aber er war heute Morgen so still, dass ich mir Sorgen um ihn gemacht habe.«

Es tat weh, dass sie diejenige war, die sich um Chase kümmern durfte. Ich schnaubte. »Ja, mir geht's prächtig. Das ist wohl einer der Vorteile, wenn man als Soldat an vorderster Front steht. Das Leben verändert sich binnen eines Augenblicks. Und selbst wenn man den Kampf gewinnt, verliert man manchmal die Schlacht. Ihm das Leben retten und ihn verlieren ... ihm nicht das Leben retten und ihn verlieren. Egal, was ich tue, ich verliere. «

Sharah verzog das Gesicht. »Es tut mir so leid. Er liebt dich, das weißt du, aber denk daran: Sein ganzes Leben ist aus den Fugen geraten, und als Sterblicher ...«

»Jetzt nicht mehr ganz so sterblich, wie er mir letzte Nacht erklärt hat. Hör mal, ich weiß es zu schätzen, dass du mich aufmuntern willst, aber im Moment kann ich das überhaupt nicht brauchen. Ich akzeptiere die Tatsache, dass er mit einer Beziehung gerade nicht klarkommt, aber zumindest sollte er begreifen, dass er nicht der Einzige ist, den das Ganze betrifft. So viel erwarte ich von ihm. Wir haben ihm das Leben gerettet. Er wollte das Elixier ohnehin trinken. Und auf einmal kann er es kaum erwarten, von mir wegzukommen.«

Sharah legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. »Das ist das Letzte, was ich zu diesem Thema sagen werde: Du bist nicht das, wovor er davonläuft. Er versucht, seinen eigenen Gedanken zu entkommen. Denk nur mal daran zurück, wie das war, als du noch klein warst und das Gefühl hattest, nicht dazuzugehören ...«

Ich sprang auf. »Lass meine Kindheit aus dem Spiel.« Sharah mochte Königin Asterias Nichte sein, aber das gab ihr nicht das Recht, sich in meinen Kummer einzumischen. Auf ihren verblüfften Blick hin wurde mir bewusst, dass ich meine Wut an der Falschen ausließ. Ich war nicht böse auf sie. Ich war wütend über die Situation. »Bitte entschuldige, Sharah. Ich bin im Moment einfach fix und fertig. Wo zum Teufel bleibt Shamas?«

Sie blinzelte und räusperte sich. »Er ist gleich da. Ah ... darf ich fragen, was mit deinem Haar passiert ist? Die neue Frisur gefällt mir.«

Sie meinte es ehrlich, das merkte ich ihr an. Und sie versuchte, mich zu beruhigen, was mich zwar ärgerte, aber ich entschied mich dafür, reif und höflich zu reagieren, was ich nicht immer tat. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Danke, die war ein Geschenk von einem Stinktier. Indirekt.«

»Tja, sie ist krass, aber ich finde, sie steht dir.«

In diesem Moment klopfte Shamas an die Tür. Hinter ihm stand der Angestellte vom Empfang, und ich nahm ihn beiseite und versicherte ihm, dass alles in Ordnung kommen würde, während Sharah und Shamas Camille auf die Rolltrage luden. Bis wir endlich bereit zum Abrücken waren, hatte der Angestellte mir eine kostenlose Übernachtung angeboten, falls ich später zurückkäme. Ich hatte das Gefühl, dass er hoffte, zu dieser Übernachtung mit eingeladen zu werden, also lehnte ich höflich ab.

Wir gingen zum Parkplatz und hievten die Rolltrage in den Krankenwagen. Als ich die Türen anstarrte, die sich vor mir schlössen, wurde mir erst richtig bewusst, dass Camille in echten Schwierigkeiten stecken könnte. Tränen brannten mir in der Kehle, und ich lief zu meinem Jeep und startete den Motor. Wenn die Samhain-Zeit schon so anfing, wollte ich eigentlich nicht noch mehr davon sehen.

Im AETT-Hauptquartier stieß ich natürlich zuallererst mit Chase zusammen. Bei meinem Glück konnte es wohl nicht anders kommen. Er blieb neben mir stehen, während Sharah Camille in eines der Untersuchungszimmer schob, und legte mir einen Arm um die Schultern. Ich sehnte mich so sehr danach, mich an ihn zu schmiegen, dass es wehtat, aber ich hielt mich tapfer aufrecht. Ich würde mich nicht mehr so sehr auf ihn verlassen, Blutsbruder hin oder her. Es war an der Zeit, auf meinen eigenen Füßen zu stehen.

»Sie kommt schon wieder in Ordnung. Glaub mir«, flüsterte er.

»Ja. Tja, ich weiß nicht, was du mir für Garantien bieten kannst, aber ich will verdammt noch mal hoffen, dass du recht hast.« Ich erzählte ihm, was passiert war.

»Luke vermisst Amber also seit ...«

»Müssten jetzt etwa vierundzwanzig Stunden sein. Luke ist halb verrückt vor Sorge, und es sieht wirklich nicht gut aus.« Ich verschränkte die Arme und starrte auf die Türen, die sich hinter meiner Schwester geschlossen hatten. »Wenn da eine magische Sprengfalle war, gab es vermutlich noch weitere, die wir nicht gefunden haben. Eine davon könnte Amber umgehauen haben, wie Camille.«

Chase machte sich ein paar Notizen. »Die Dienstanweisung sieht zwar vor, dass Vermisstenmeldungen über ÜWs erst nach achtundvierzig Stunden aufgenommen werden, aber ich setze Shamas gleich daran.«

Müde und traurig lächelte ich ihn an. »Danke. Das ist die beste Nachricht des Tages.« Ich sog scharf die Luft ein, hielt den Blick weiterhin auf die Tür zu Camilles Zimmer gerichtet und wartete auf Neuigkeiten - irgendetwas.

»Komm mit, ich gebe dir ein Glas Milch aus.« Chase wies in Richtung Aufenthaltsraum.

Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich will hier warten ...«

»Es könnte eine Weile dauern. Komm schon. Vergiss nicht, wir sind jetzt... Kumpel?«

Das tat weh. Das tat gemein weh, obwohl ich wusste, dass er es nicht böse gemeint hatte. Er versuchte auf seine ungeschickte Art, mich zu trösten. Wir gingen zum Pausenraum, wo er eine Dollarmünze in den Getränkeautomaten warf und mir einen kleinen Karton Milch reichte. Ein weiterer Dollar, und ich bekam ein Päckchen Cheetos.

Wir setzten uns an einen Tisch. Der Raum war gemütlich - Chase sorgte jedenfalls dafür, dass seine Mitarbeiter sich wohl fühlten. Ein Feldbett in der Ecke bot einen Platz für ein Nickerchen während langer Bereitschaftszeiten.

Chase öffnete den Kühlschrank und holte ein Lunchpaket heraus. Ich sah zu, wie er den Inhalt der Papiertüte vor sich auf dem Tisch ausbreitete: Mortadella-Sandwich, ein Becher Pudding, ein Apfel. Er biss in das Sandwich, während ich meine Cheetos mampfte. Er hatte recht gehabt - mein Magen knurrte, und ich merkte erst jetzt, dass ich am Verhungern war.

»Glaubst du, sie wird wieder?«, brachte ich schließlich hervor.

»Du weißt doch, dass Sharah wahre Wunder wirken kann. Camille kommt wieder in Ordnung. Da bin ich sicher«, sagte er, aber es hörte sich nicht so an. Er zückte sein Notizbuch.

»Also, ich will mich vergewissern, dass sämtliche Einzelheiten stimmen, ehe ich Shamas auf die Jagd nach dieser ... Amber, richtig? Amber Johansen?«

Ich nickte und fasste die Ereignisse noch einmal kurz zusammen. Als ich fertig war, starrte Chase auf die Seite hinab und nickte. »Ich lege ihm das sofort auf den Schreibtisch. Und ich möchte mir dieses Foto kopieren. Bin gleich wieder da.« Als er aufstand, trat Sharah ein.

»Delilah, du kannst jetzt mit reinkommen. Camille wird es gut überstehen, aber sie ist noch ein bisschen benommen.«

Chase berührte mich leicht am Arm. »Wir sehen uns gleich drinnen.«

Sharah führte mich zurück zum Klinikbereich und durch die Doppeltür zur Notaufnahme. Unterwegs schüttelte sie den Kopf. »Sie ist bei Bewusstsein, aber der Zauber hat ihre magischen Sinne völlig verwirrt. Sie dürfte sich bald erholen, aber das war ein gewaltiger magischer Schlag, den sie da abbekommen hat.«

»Was zum Teufel war das? Weißt du es schon? Wenn ich auch nur in die Nähe der Rückstände gekommen bin, ist mir schwindelig geworden.«

Camille lag halb aufgerichtet in einem Krankenbett mit hochgeklapptem Kopfteil, und Sharah hatte recht: Sie sah übel aus. Sie atmete sehr schnell und zitterte sogar unter der Decke, und ihre Augen waren dunkel und schmal wie die einer verängstigten Katze.

Chase kam herein und gab mir das Foto zurück. Er warf einen Blick auf Camille, drängte sich mit einem »Scheiße« an uns vorbei und trat zu ihr ans Bett. »Ich habe ja schon erlebt, dass du einiges einstecken musstest, aber so habe ich dich noch nie gesehen.«

Sharah nahm auf einem Rollschemel Platz und klappte die Krankenakte auf. »Sie war so desorientiert, dass sie bis vor ein paar Minuten nicht einmal die Augen öffnen konnte. Sobald wir festgestellt hatten, was ihr fehlt, haben wir ihr etwas gegeben, das die Auswirkungen des Zaubers bekämpft. Anscheinend war sie aber die ganze Zeit über bei Bewusstsein. Camille - versuch bitte noch einmal, etwas zu sagen.«

»Ich ... ich ... W-w-was zum Geier ist pa-passiert?« Ihre Zähne klapperten, als wäre sie völlig durchgefroren.

»Ja, was war das? Ich weiß nur, dass ich beinahe auch umgekippt wäre, als ich hingegangen bin, um nach dir zu sehen.« Ich runzelte die Stirn und hoffte, dass dieser merkwürdige Zauber keinen dauerhaften Schaden angerichtet hatte.

»Einer unserer Techniker hat die Falle analysiert. Stellt euch das Zeug als magisches Äquivalent von K.-o.-Tropfen oder Rohypnol vor. Speziell auf Werwölfe abgestimmt. Allerdings reagiert jedes Werwesen darauf«, fügte Sharah mit einem Blick zu mir hinzu. »Deshalb ist dir so schwindelig geworden, obwohl du es nicht direkt abbekommen hast.«

Ich dachte darüber nach. »Wenn ich aber ein Werwolf wäre ...«

Sie nickte langsam. »Wenn du ein Werwolf wärst, hätte dich der leiseste Hauch davon erledigt. Camille hat so darauf reagiert, weil ihre Hexenmagie die Wirkungsweise dieses Zaubers überhaupt nicht verträgt. Aber ein Werwolf wie diese Amber ... sie wäre sofort willenlos und völlig unter der Kontrolle eines anderen, wenn sie auch nur an diesem Dreckszeug schnuppern würde.«

»Verdammt.« Ich runzelte die Stirn. »Wer hat diesen Zauber installiert? Könnte es ein Werwolf gewesen sein? Oder lautet die Frage eher: Hätte ein Werwolf so etwas getan?«

Sharah presste leicht die Lippen zusammen und bat Chase mit einem Wink, die Tür zu schließen. Dann blätterte sie in ihrem Notizbuch. »Ein Werwolf müsste ein wahrhaftiger Soziopath sein, um so etwas zu tun. Im Ernst, die Komponente dieses Zaubers - das Gas, das freigesetzt wurde - enthält einiges an sehr starker, finsterer Magie. Und damit meine ich nicht Camilles Todesmagie, sondern schwarze Magie. Hexerei.«

»O ihr Götter. Was willst du damit sagen?« Ich hatte ein scheußliches Gefühl in der Magengrube und die Ahnung, dass mir ihre Antwort nicht gefallen würde.

»Dass die Person, die den Zauber hergestellt hat, ein Sadist ist. Eindeutig. Mallen hat ihn analysiert, und er war genauso schockiert wie ich, als er das Ergebnis gesehen hat.«

»Was enthält er denn?« Camille schaffte es, sich ganz aufzusetzen. Sie sah aus, als käme sie allmählich wieder zu sich.

Sharahs Gesicht verzerrte sich ein wenig, und sie wurde noch bleicher. »Das ist wirklich übel, Leute. Die Kräuter gehen ja noch, aber die anderen Bestandteile sind ziemlich grausig. Baldrian, Marijuana, Kamille und Kornbranntwein ... alles Standard für ein Zwangsgas, und teilweise schon für sich genommen sehr gefährlich. Aber wir haben in der Mischung auch ein Extrakt von getrockneter Nebenniere eines männlichen Alpha-Lykanthropen gefunden. Und gemahlene Hirnanhangsdrüse, ebenfalls von einem Alpha-Werwolf. Eindeutig als männlich zu bestimmen anhand der Menge und der Geruchsspuren. Mallen sagt, er hätte so etwas schon einmal gesehen. Ich hole ihn, dann kann er es euch selbst erklären.«

Sie verschwand zur Tür hinaus, und ich wechselte einen Blick mit Chase, der den Kopf schüttelte. »Ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat«, sagte er.

Blass und zittrig klammerte Camille sich an den Seitenteilen ihres Bettes fest und schob mühsam die Beine über die Bettkante. »Ich weiß, was man braucht, um dieses Scheißzeug herzustellen. Ich habe schon davon gehört, obwohl es in den meisten Zirkeln und Coven verboten ist.«

»Hätten wir nicht schon davon erfahren, wenn jemand so etwas in der Umgebung von Seattle benutzt?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht. Aber ...«

Sharah trat wieder ein, gefolgt von Mallen. Mit einem Nicken forderte sie ihn zum Sprechen auf. »Erklär es ihnen.«

Mallen lächelte uns kurz an und legte dann los. »Wir haben es mit einer magischen Substanz zu tun, die unter mehreren Namen bekannt ist. Einmal als Wolfsdorn, und auf der Straße wird es auch als >Wolfskater< bezeichnet. Es besteht aus einer Kombination von Kräutern mit getrockneter Nebenniere und gemahlener Hypophyse eines Alpha-Werwolfs.«

»Man müsste die Werwölfe doch töten, um ihnen diese Drüsen zu entnehmen?« Allmählich verstand ich das Problem.

»O ja, aber das ist nicht alles. Die Männchen werden nicht nur getötet und seziert, um die Drüsen zu gewinnen, sie werden vor ihrem Tod noch zur Raserei getrieben, um den Ausstoß von Adrenalin und Testosteron anzuregen.« Mallen, ein Elf, war vermutlich viel älter als wir, sah aber so jung aus, als müsste er sich noch kaum rasieren. Wenn er sprach, strahlte er eine ruhige Autorität aus.

Chase blickte verwirrt drein. »Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass in den meisten dieser Fälle ein männlicher Werwolf eingesperrt, in die Enge und damit zum Angriff getrieben und dann getötet wird. Höchstwahrscheinlich spielt Folter auch eine Rolle.« Mallens Gesicht spiegelte leichten

Widerwillen. Elfen gaben ihre Gefühle üblicherweise gar nicht zu erkennen. Allein diese Miene sagte mir, dass er ernsthaft betroffen war.

Camille stieß ein leises Knurren aus. »Perverse Schweine. Aber wie schaffen sie es, genug Alpha-Männchen zu fangen? Würde das nicht jemandem auffallen?«

Eine Frage, an die wir offenbar alle gedacht hatten, denn Sharah und Chase nickten Camille zu. Mallen jedoch schüttelte den Kopf.

»Es wird sogar noch schlimmer. Einige Zauberer - und für gewöhnlich sind es Hexer, die dieses bösartige Gemisch produzieren - haben eine Methode gefunden, wie sie ein Beta-Männchen vorübergehend in den Alpha-Status zwingen können. Niemandem fällt es auf, wenn ein einsamer Werwolf verschwindet oder der allerunterste Prügelknabe eines Rudels auf einmal nicht mehr da ist. So etwas kommt ständig vor - junge Wölfe, die in der Hierarchie ganz unten stehen, machen sich davon, um sich ein eigenes Leben aufzubauen, statt sich weiterhin nur herumschubsen zu lassen. Die meisten Lykanthropen-Rudel sind so hierarchisch, dass man sie schon beinahe als bürokratisch bezeichnen könnte. Und zudem ausgesprochen patriarchal. Wenn man einen dieser Betas erwischt und ihm genug Steroide zuführt, hat man, schwupps, ein forciertes Alpha-Männchen.«

Ich sog nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne. »Wie lange hält dieser Wolfsdorn? Kann man ihn gut transportieren?«

Mallen schüttelte den Kopf. »Nein, das Gebräu muss sofort verwendet werden, sonst verliert sich die Energie der Drüsen.«

»Man könnte es also nicht zum Beispiel von Arizona mit hierherbringen und sicher sein, dass es noch wirkt?« Wenn

Rice bereit war, zu einem Mittel wie Wolfsdorn zu greifen, obwohl er die Inhaltsstoffe kannte, dann hätte er es höchstwahrscheinlich von dort mitgebracht.

»Nein. Meine Vermutung ist, dass es in den vergangenen Tagen hier in der Umgebung hergestellt wurde. Wir können davon ausgehen, dass irgendwo ein toter Werwolf herumliegt. Wenn ihr die Leiche findet, werdet ihr feststellen, dass sie seziert wurde.«

Camille verzog das Gesicht. »Die Leute sind leider sehr geschickt darin, Leichen verschwinden zu lassen, wenn es ihren Zwecken dient, und wir müssen wohl annehmen, dass der fragliche Hexer nicht zum ersten Mal so tief gesunken ist, dieses Zeug herzustellen. Solche Tränke sind schwierig, man muss jahrelang üben und lernen, bis man sie hinbekommt. Wir suchen nach einem sehr fähigen Zauberer. Ein Nekromant würde sich mit solchem Dreckszeug nicht abgeben. Aber ein Hexer, der eine Chance sieht, viel Geld zu machen ...«

»Ein Zauberladen?«, schlug ich vor. »Wir sollten in ein paar einschlägigen Geschäften in der Stadt vorbeischauen, vielleicht fällt uns jemand auf, der ins Raster passt.«

»Gut.« Camille nickte. »Aber die esoterischen VBM-Läden können wir gleich ausschließen. Die hätten weder das Wissen noch die Fähigkeiten dazu, außer einer Strega vielleicht. Aber die Hexer - bei denen sieht das ganz anders aus. Und wir können auch nicht ausschließen, dass es jemand aus der Anderwelt oder den Ü-Reichen ist.«

»Und was unternehmen wir jetzt wegen Amber?« Ich wandte mich wieder Mallen zu. »Wie genau würde Wolfsdorn denn bei einem weiblichen Werwolf wirken? Einer Schwangeren obendrein?«

»Er würde sie gefügig machen. In jedem Nicht-Alpha-Männchen und allen Weibchen steigert er den angeborenen Reflex, sich Autorität zu fügen.«

Ich warf Camille einen Blick zu. »Wir können also davon ausgehen, dass Amber sich durch den Wolfsdorn passiv demjenigen gefügt hat, der sie entführt hat. Sogar Rice hätte ihn benutzen können, um zu verhindern, dass sie eine Szene macht.«

Camille versuchte vorsichtig aufzustehen. Sie ließ sich gleich wieder aufs Bett sinken. »Verdammt, dieses Zeug ist übel. Wir müssen herausfinden, ob Rice noch in Arizona ist. Natürlich könnte er auch jemand anderen beauftragt haben, aber ich meine, es wäre das mindeste, wenigstens festzustellen, wo er ist. Er mag ein Schläger und Tyrann sein, der Amber notfalls mit Gewalt zurückholen würde. Aber würde ein Werwolf es wirklich riskieren, seinen Rudelführer zu brüskieren, indem er etwas benutzt, das seiner gesamten Rasse ein Greuel sein muss?«

»Das klingt nicht logisch, oder?« Ich seufzte tief. »Fühlst du dich gut genug, dass wir nach Hause fahren können? Menolly kann uns vielleicht mehr sagen, und die Jungs könnten inzwischen etwas über das sechste Geistsiegel herausgefunden haben.«

Camille nickte und wandte sich an Sharah. »Bin ich entlassen?«

Sharah untersuchte sie noch einmal rasch. »Sieht gut aus. Ruf mich an, falls irgendwelche Anzeichen für einen Rückfall auftreten. Bis dahin - viel frische Luft und Wasser, damit dein Körper den letzten Rest Wolfsdorn loswird, und heute Abend bleibst du im Bett. Und ruhst dich aus.«

Chase versprach, sich bei uns zu melden, und wir gingen hinaus zu meinem Jeep. Als ich Camille aus ihrem Rollstuhl half - Sharah hatte ihr nicht erlaubt, zum Auto zu laufen -, verzog sie das Gesicht und rieb sich die Schläfen.

»Kopfschmerzen?« Ich massierte ihr leicht den Nacken, und sie holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus.

»Ja, das gehört zu den Nachwirkungen. Sharah hat mich gewarnt, dass mir hin und wieder schwindelig werden könnte und ich unbedingt gründlich ausschlafen sollte.«

»Dafür sorgen wir.« Ich schwang mich auf den Fahrersitz und schnallte mich an. Dann schüttelte ich stirnrunzelnd den Kopf. »Das ist doch Scheiße. Das ist alles Scheiße. Am liebsten wäre mir, wir könnten einfach alles hinschmeißen, heim in die Anderwelt gehen und uns auf einem Bauernhof niederlassen. Ich würde Kaninchen und anderes Viehzeug züchten, du könntest in Ruhe die Mondmutter verehren, und Menolly würde ... na ja ... sie könnte tun, was immer sie will.«

»Aber wünschst du dir das wirklich?«, entgegnete Camille. »Würdest du die Sache mit dem Herbstkönig ungeschehen machen, wenn du könntest? Ich bin jetzt Priesterin, bald werde ich meine Ausbildung bei Morgana beginnen müssen, und ich werde in Aevals Hof eintreten, wofür Vater mich ziemlich sicher endgültig verstoßen wird. Aber ... ich würde all das trotzdem nicht gegen ein gemütliches Landhaus mit Blumengarten eintauschen wollen. Das wäre ja ganz nett, aber ich glaube nicht, dass ich die Uhr zurückdrehen würde, wenn ich könnte, bis auf die Sache mit Schattenschwinge. Auf den Kampf gegen ihn und seine Lakaien würde ich gern verzichten.«

Während ich den Jeep vom Parkplatz manövrierte, dachte ich über das nach, was sie gerade gesagt hatte. »Ich weiß nicht. Ich kann das nicht beantworten - noch nicht. Lass mich noch ein bisschen darüber nachdenken. Also, was steht als Nächstes an?«

Camille runzelte die Stirn. »Wir fahren nach Hause und überlegen uns, wie es weitergehen soll. Ich finde, jemand sollte heute Abend Carter einen Besuch abstatten und mit ihm über Stacia, ihr Trainingslager und das weitere Vorgehen sprechen. Er scheint den Finger am Puls der Dämonenwelt zu haben, und ich vertraue ihm. Weißt du was? Am besten besuchen wir ihn gleich, ehe wir nach Hause fahren.«

»Spinnst du? In deinem Zustand? Sharah würde dich umbringen. Und möchtest du Carter wirklich besuchen, ohne Vanzir mitzunehmen? Findest du das nicht ein bisschen gefährlich?« Aber wenn ich ehrlich sein sollte, war ich neugierig. Carter faszinierte mich.

»Mir geht es gut. Ich werde nichts Anstrengendes tun, und wir fahren hinterher sofort nach Hause.« Sie schwieg eine Weile und fragte dann: »Wie fühlst du dich jetzt? Du weißt schon ... nachdem du Chase gesehen hast.«

Ich blinkte links und bog auf den Freeway ein. Carter wohnte nicht weit vom AETT-Gebäude entfernt. Wenn der Verkehr nicht allzu schlimm war, würden wir in etwa zehn Minuten bei ihm sein.

»Ich versuche, möglichst ruhig zu bleiben. Ich kann sowieso nichts tun. Wenn ich versuche, Chase festzuhalten, wird er mich irgendwann hassen. Wenn ich mit ihm herumdiskutiere und streite, schadet das unserer Verbindung zu ihm, und das wäre gar nicht gut. Es war schon schlimm genug, als ich ihn mit Erika erwischt hatte.«

Erika hatte uns große Schwierigkeiten gebracht ... oder vielmehr hatte Chase sich mit ihr in Schwierigkeiten gebracht. Und obwohl ich ihm verziehen hatte, dass er mich belogen und hintergangen hatte, obwohl ich beschlossen hatte, unserer Beziehung noch eine Chance zu geben, flüsterte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf ständig, dass mein Vertrauen in ihn unwiderruflich angeschlagen war.

Die Tatsache, dass er mit ihr geschlafen hatte, war nicht das Problem, sondern die, dass er es vor mir verborgen und mich belogen hatte. Allmählich glaubte ich doch, dass ich vielleicht nicht für eine monogame Beziehung geschaffen war. Camille war es ganz sicher nicht. Menolly auch nicht. Vielleicht hatte ich doch mehr von meinem Vater, als ich wahrhaben wollte.

Camille seufzte leise. »Ich werde nur eines dazu sagen, und dann lasse ich dich damit in Ruhe. Wahrscheinlich wirst du dir von Menolly noch genug anhören müssen, wenn sie erfährt, was passiert ist.«

Ich schnitt ihr eine Grimasse, aber die beiden waren meine Schwestern, und wir alle drei steckten ständig die Nase in das Leben der anderen. »Nur zu.«

»Ich glaube ganz ehrlich, dass das mit dir und Chase von Anfang an nicht funktionieren konnte. Ihr hattet eine schöne Zeit. Ihr habt euch beide bemüht, aber ich sehe eines ganz deutlich: Der Tag, an dem er eine Frau findet, die bereit ist, zu Hause zu bleiben, seine Kinder zu bekommen und ansonsten keine große Welle zu machen, ist der Tag, an dem er sich wirklich verlieben wird. Chase ist ein anständiger Kerl, er ist ein verdammt guter Polizist, aber er kann dir nicht geben, was du brauchst, Kätzchen. Nicht allen deinen Seiten. Und im Gegensatz zu meinen drei Männern glaube ich nicht, dass er wirklich bereit wäre, dich zu teilen - nicht langfristig.«

Sie hielt inne, und als ich schwieg, fuhr sie fort: »Du bist ein Doppel-Werwesen. Mehr noch, du bist eine Todesmaid, in aller Götter Namen. Sosehr du dir wünschst, ihn mit in deine Welt zu bringen - obwohl er das Lebenselixier getrunken hat, und selbst wenn er irgendwann seine eigene Macht entdeckt, er wird dir nie ebenbürtig sein. Da müssten seine besonderen Kräfte schon wahrhaft gigantisch sein. Es ist besser, dass ihr euch jetzt trennt als in zwanzig Jahren. Lieber jetzt, ehe du etwa ein Kind von ihm bekommst.«

Ich starrte auf die Straße und sah den Asphalt unter den Rädern meines Jeeps vorbeigleiten. Mit jedem Fußbreit Straße, der unter uns verschwand, wurde mir klarer, dass sie recht hatte. Im Grunde hatte ich das die ganze Zeit über gewusst, und deshalb fühlte ich mich auch so hin- und hergerissen, was Zachary und seine starke erotische Anziehung auf mich anging-

»Was hältst du von Zach?«, fragte ich leise.

»Willst du meine ehrliche Meinung hören?«

Ich nickte. »Ja, los, gib's mir.«

»Er ist zu furchtsam, um einen guten Gefährten für dich abzugeben. Er hat Angst. Er will nicht an vorderster Front stehen, und es wäre nicht fair, ihn in so eine Lage zu bringen. Beim letzten Mal, als wir das gemacht haben ...« Sie verstummte langsam.

Ich blinzelte gegen die Tränen an. »Sag es ruhig: Beim letzten Mal, als er mit uns in den Kampf gezogen ist, wäre er beinahe umgekommen, und seitdem sitzt er im Rollstuhl. Nur einer unserer zahlreichen Kollateralschäden«, fügte ich bitter hinzu. »Er will nicht einmal mehr mit mir reden, weißt du ? Er geht nicht ans Telefon, wenn ich anrufe, und wenn ich ihn in der Klinik besuchen will, lässt er mich wieder wegschicken.«

»Das ist seine Entscheidung, Kätzchen, nicht deine.« Camille lehnte den Kopf an die Kopfstütze. »Natürlich fühlst du dich schrecklich wegen seiner Verletzungen. Das geht uns allen so. Und ich weiß, dass du ihn attraktiv findest, aber sei ehrlich, Kätzchen. Du liebst ihn nicht. Das ist ganz offensichtlich. Sonst hättest du Chase um seinetwillen verlassen.«

»Ja, aber ... wir haben ihn in Gefahr gebracht.«

»Das stimmt, aber es war seine Entscheidung, mit uns zu gehen. Er wurde verletzt, als er Chase das Leben gerettet hat - eine mutige Tat, zu der er sich entschieden hat. Er ist ein Held, dem etwas Schreckliches zugestoßen ist. Aber dass er schwer verletzt wurde, bedeutet nicht, dass du ihm dein Leben schuldig bist. Du kannst ihn nicht lieben, nur weil er gelähmt ist. Das wäre euch beiden gegenüber nicht fair. Und du weißt, dass Zach dich unter solchen Vorzeichen gar nicht wollen würde.«

Heiße Tränen stiegen mir in die Augen. Ich blinzelte sie weg. Ich hatte noch nie, niemals, darüber gesprochen, wie ich mich wegen Zachary Lyonesses Verletzungen fühlte, aber Camille hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich fühlte mich schuldig, weil ich es genossen hatte, mit ihm zu schlafen, mich aber nicht in ihn verlieben konnte. Ich fühlte mich schuldig, weil er gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war. Ich fühlte mich schuldig, weil er sich wünschte, dass ich mich für ihn entscheiden würde ... und jetzt war ich frei, konnte es aber trotzdem nicht.

»Wie bist du bloß so weise geworden?«, brummte ich und bog auf die Ausfahrt ab, die uns zu Carter bringen würde.

»Ich bin mit drei Männern verheiratet. Ich komme vielleicht nicht so gut mit deinem Computer zurecht und kann niemanden so großartig vermöbeln wie Menolly, und meine Magie mag hin und wieder schiefgehen, aber eines kannst du mir glauben: Ich kenne die Männer. Und ich kenne dich.«

Sie lachte, kehlig und volltönend, und meine Spannung glitt von mir ab wie schmelzende Butter von einem Maiskolben. Ich atmete tief durch, schickte die Schuld weg und befahl dem Schmerz nachzulassen.

»Also, obwohl Chase und ich nur noch gute Freunde sind, findest du es okay, dass ich mich jetzt nicht Zach zuwende.« Ich warf ihr einen raschen Blick zu und schaute gleich wieder auf die Straße. Sie lächelte.

»Überleg doch mal: Möchtest du mit jemandem zusammenkommen in dem Wissen, dass du seine zweite Wahl warst? Auf lange Sicht würde er dich dafür hassen.«

»Klingt logisch. Eine ganze Weile hatte ich das Gefühl, dass Chase sich nur für mich interessiert hat, nachdem du ihm unmissverständlich klargemacht hast, dass er deine Muschi nie wird streicheln dürfen.«

»Ich glaub's nicht!« Sie verschluckte sich fast vor Lachen. »Nicht zu fassen, dass ich das aus deinem zimperlichen Mund gehört habe.«

Ich fiel in ihr Lachen ein. »He, ist doch wahr«, sagte ich, als ich auf die Straße einbog, in der Carters Haus lag. »Jetzt gehen wir und unterhalten uns mit dem Dämonenmeister, und dann schaffen wir dich nach Hause.«

Und alles war in Ordnung. Ich war wieder allein, aber einsam war ich nicht. Meine Schwestern und meine Freunde waren ja da.