Kapitel 29

 

Die nächste Nacht war Litha, die Mittsommernacht, und wieder war unsere Anwesenheit bei einem festlichen Anlass gefordert sowohl als Gesandte der Anderwelt wie als Verwandte von Morgana.

Wir trugen unsere besten Ritualkleider. Camilles Tätowierung auf der Rückseite der linken Schulter, die sie als Tochter der Mondmutter auswies, schimmerte silbrig. Sie trug ein langes, halterloses Kleid, das von der Taille abwärts wie ein Wasserfall aus glitzernder Gaze an ihr herabfloss.

Delilah hatte ihre beste Tunika und feine Leggings an, und Lysanthra war an ihr Bein geschnallt. Die schwarze, tätowierte Sense auf ihrer Stirn glänzte wie von orangeroten Flammen erhellt.

Ich hatte mich für ein langes, blutrotes Kleid entschieden, und zum ersten Mal seit vielen Jahren umhüllte mein Haar meine Schultern in prächtigen Locken. Ich war mir meines neuen Selbst noch nicht so sicher, aber zumindest heute Nacht würde ich das Haar offen tragen.

Die Versammlung der Feen aus Erdwelt und Anderwelt fand auf einem tausend Morgen großen Stück Land nördlich von Seattle statt, das die Feenköniginnen gekauft hatten. Hier gediehen Tannen und Zedern, Eichen und Ahorne, Heidelbeeren und lange Brombeerranken. Das Gebiet lag in den Ausläufern der Kaskadenkette und war leicht zu finden, aber doch abgelegen genug, um nicht von den nächsten Städten verschlungen zu werden.

Ich wusste, dass die Feenköniginnen so viele Grundstücke wie möglich um diese zentrale Domäne herum aufkauften. Titania war dabei, ihren Wohnsitz auf dieses Land zu verlegen, und bald würde Smoky sie los sein. Er war so froh und dankbar, dass er sich bereiterklärt hatte, gemeinsam mit Camille und Morio zu der Zeremonie zu erscheinen.

Während die Werpumas lieber zu Hause geblieben waren, hatte Chase Delilah unbedingt begleiten wollen, was ich ein wenig beunruhigend fand. Dem Detective war nicht klar, wie gefährlich es für einen Menschen inmitten so vieler Feen sein konnte.

Natürlich waren auch einige Abgesandte der Menschenwelt anwesend - Regierungsvertreter aus mehreren Ländern, die sich anfangs nur mit ein paar Besuchern aus der Anderwelt hatten befassen müssen. Jetzt teilten sie plötzlich ihre eigene Welt mit Erdwelt-Feen, und die Balance verschob sich erneut ein wenig. VBM-Heiden und -Hexen hatten in Scharen darum ersucht, der Versammlung beiwohnen zu dürfen, und einige wenige waren eingeladen worden. Aber die meisten Anwesenden waren Lichte oder Dunkle Feen, Dryaden, Floreaden, Geister und Sylphen. Naiaden und Undinen drängten sich am Seeufer, gemeinsam mit den Seikies aus dem Puget Sound.

Die Bäume hier waren aufgeweckt worden, dachte ich, als ich am Rand der riesigen Lichtung entlangspazierte. Die Bäume, das Land, der See - alles war mit wachem Bewusstsein erfüllt. Aus jedem Winkel hervor beobachteten uns die Naturgeister, lebendig und fröhlich, wild und finster. Die Mittsommernacht war die kürzeste Nacht des Jahres, und wir befanden uns am Beginn einer neuen Ära.

Heute Nacht würden die Feenköniginnen offiziell ihre Throne besteigen. Ich blickte zu der großen Bühne hinüber, auf der die Krönung stattfinden würde. Königin Asteria war da, und neben ihr stand unser Vater, der als Gesandter Y'Elestrials anwesend war. Feddrah-Dahns war gekommen, als Abgesandter der Dahns-Einhörner, und neben ihnen standen die Vertreter weiterer königlicher Häuser.

Ein Fanfarenstoß ließ die Luft erzittern, und ich spazierte hinüber zum Hof, wo Delilah und Camille sich leise mit Vater unterhielten. Er küsste mich flüchtig auf die Wange.

Seit er zurück war, hatten wir ein wenig Zeit gehabt, uns in Ruhe zu unterhalten, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er aufrichtig sprach. Er hatte mich so akzeptiert, wie ich jetzt war, als Vampirin Menolly. Er war ein gutaussehender Mann, und ein Teil von mir, der an Jasons und Tims Hochzeit dachte, wünschte sich, Vater würde nach einer neuen Liebe suchen. Mutters Tod hatte ihn tief getroffen.

»Menolly, gut, dass du da bist. Vor der Krönung hat Morgana dir etwas zu sagen - euch allen, meine Mädchen.« Er trat mit angespannter Miene zurück. Worum es auch gehen mochte, ich spürte, dass er nicht glücklich damit war, doch er schwieg.

Morgana schwebte herbei, eine Wolke aus Silber und Lavendelblau, Schwarz und Indigo. Als Königin des Zwielichts würde sie über die Zeit zwischen Tag und Nacht herrschen, und ihr Hof würde in der ewigen Dämmerung liegen.

»Gut, da seid ihr ja endlich«, sagte sie und blickte in die Runde. »Wir müssen uns vor der Krönung unterhalten.« Ihr Neffe Mordred trat mit finsterer Miene neben sie. Er mochte uns nicht - keine von uns -, aber er neigte auf arrogant-höfliche Art den Kopf und schnaubte nur ganz leise.

»Haben sie sich schon entschieden, Tante?«, fragte er. »Was entschieden?«, fragte Camille.

Morgana ließ den Blick über uns schweifen. »Ihr Mädchen steht zwischen den Welten, genau wie ich. Bei euch sind es allerdings gleich drei - die Welt der Sterblichen, die Welt von Y'Eirialiastar, und die der Erdwelt-Feen.«

Es war lange her, dass wir die Sidhe-Bezeichnung für die Anderwelt gehört hatten, und dass sie sie gebrauchte, überraschte mich.

Morgana bemerkte es und lächelte. »Der Begriff der Menschen für eure Welt wird ihrer Schönheit nicht annähernd gerecht. Ich ehre sie, wie es ihr gebührt. «

»So weit würde ich nicht gehen«, sagte ich. Verwandt oder nicht, nah oder entfernt hin oder her, ich traute ihr nicht. Ich hatte ihr noch nie getraut und würde es auch nie tun.

Sie seufzte leise. »Ihr müsst heute Abend eine Wahl treffen. «

»Wahl? Wovon sprecht Ihr?«, fragte Camille.

Morganas Lächeln nahm einen verschlagenen Ausdruck an, und ich trat einen Schritt zurück. Sie stand nicht auf unserer Seite. Sie stand auf niemandes Seite außer ihrer eigenen.

»Ich biete euch allen Plätze an meinem Hof. Ihr seid von meinem Fleisch und Blut, ganz gleich, wie viele Jahrhunderte zwischen meiner Geburt und der euren vergangen sein mögen, und es spielt auch keine Rolle, dass ihr in Y'Eirialiastar geboren wurdet und ich Erdseits. Wir sind dennoch Verwandte, und ich biete euch dreien den Titel Prinzessin an meinem Hof an.« Sie blickte zu Mordred auf. »Mordred ist natürlich mein rechtmäßiger Erbe, doch sollte er kein Kind bekommen, wärt ihr die nächsten in der Thronfolge der Königin der Dämme rung. Camille als Erste, dann Delilah.« Sie wandte sich mir zu. »Dir kann ich einen Sitz am Hof der Dämmerung anbieten, aber niemals die Chance, zu regieren, da du keine Kinder mehr bekommen kannst.«

Camille und Delilah schnappten nach Luft, während ich Morgana musterte und mich fragte, wo der Haken sein mochte. »Was müssen wir für diese Ehre tun?«

Morgana zwinkerte mir zu. »Das ist ganz einfach, meine Mädchen. Ihr schwört Y'Eirialiastar als eurer Heimat ab und leistet der Erdwelt den Treueschwur. Ihr legt alle Verpflichtungen drüben in der Anderwelt nieder - außer jenen, die euch an die Götter binden, selbstverständlich - und nehmt dafür neue Pflichten an meinem Hof an.«

Sie beugte sich vor. »Ihr würdet immer noch gegen die Dämonen kämpfen, aber für mich. Für uns. Für alle Feen der Erdwelt.«

Ohne zu zögern, schüttelte ich den Kopf. »Da spiele ich nicht mit«, sagte ich. »Ich danke Euch, aber - nein. Ich bleibe meinen Verpflichtungen treu, meiner Heimat, dem Hof und der Krone, die jetzt die Stadt regiert.«

Camille sah mich mit besorgtem Blick an. Dann wandte sie sich Morgana zu, und ich merkte, wie sorgfältig sie ihre Worte wählte. »Euer Angebot ist eine große Ehre, Königin der Dämmerung, aber zu unserem großen Bedauern können wir es nicht annehmen. Würdet Ihr denn jemanden in Euren Hof aufnehmen wollen, der ältere Eide und Treuepflichten bricht, ohne einen rechtmäßigen Grund dafür zu haben? Könntet Ihr uns denn jemals wirklich vertrauen?«

Mordred kochte förmlich, doch ich witterte auch einen Hauch Erleichterung in seinem Schweiß. Er wollte nicht, dass irgendjemand aus der Abstammungslinie dem Thron zu nahe rückte.

Delilah schüttelte den Kopf. »Nein. Wir können nicht annehmen. Aber wir sind gekommen, um Euch und die anderen Königinnen zu ehren und den Beginn einer neuen Ära zu feiern.«

Morgana starrte uns böse an und wandte sich ab. »Vergesst nie, was ich euch geboten habe. Das Angebot wird noch eine Weile bestehen bleiben, doch falls ihr euch erst nach dieser Nacht dafür entscheidet, es anzunehmen, wird der Preis steigen. Uberlegt es euch also gut, ehe ihr ablehnt. Ihr habt Zeit bis Sonnenaufgang.«

Als sie davonrauschte, gefolgt von Mordred, wechselten wir besorgte Blicke.

»Wohin dieses verdammte Weib auch geht, folgt der Ärger ihr auf dem Fuße«, sagte ich. »Wir müssen sie gut im Auge behalten. «

»Ich glaube, die UW-Gemeinde wird sich bald spalten, weil die Erdwelt-Feen sich jetzt den Höfen der Drei Königinnen anschließen und die Werwesen und Vampire sich selbst überlassen werden.« Delilah seufzte tief. »Wir können nur abwarten und zusehen und hoffen, dass Morgana niemals eines der Geistsiegel in die Finger bekommt, denn ihr wisst selbst, dass sie damit nichts Gutes anfangen würde. «

»Ich glaube ... ich glaube, ich bin endlich eurer Meinung, was Morgana angeht«, sagte Camille traurig. »Die Krönung fängt gleich an. Wollen wir trotzdem zusehen?«

Delilah zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Setzen wir uns zu Vater und Königin Asteria. Bei denen fühle ich mich sicherer.«

Ich ging neben ihr und legte ihr den Arm um die Taille. »Was ist denn das?«, fragte ich, als ich eine harte Flasche in der Tasche ihrer Tunika spürte.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nichts, wovon du wissen müsstest.« Ich trat beiseite und ließ sie vorangehen, dann betrachtete ich rasch die Flasche, die ich aus ihrer Tasche gefischt hatte. Ich musste einen Aufschrei unterdrücken. Sie enthielt den Nektar des Lebens - das Elixier, das einem Sterblichen ein langes Leben schenken würde. Ein Fläschchen von dem Zeug, und Chase würde fast so lange leben wie eine reinblütige Fee.

Als Halbfeen würde man uns den Nektar irgendwann anbieten, um unser Leben zu verlängern, vorausgesetzt, Hof und Krone gestanden uns das Privileg tatsächlich zu. Aber Delilah musste dieses Fläschchen gestohlen haben. Niemand, der noch ganz bei Sinnen war, würde ihr so etwas einfach geben. Ich starrte sie an und überlegte, ob ich etwas sagen sollte. Da stieß Camille einen leisen Schrei aus, als sie eine Schriftrolle öffnete, die einer von Vaters Boten ihr eben gereicht hatte.

»Was ist denn?«, fragte ich. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte, Tränen stiegen ihr in die Augen, und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. »Das ist eine Botschaft von Trillian. Er lebt, es geht ihm gut, und er will mich im Herbst in der Anderwelt treffen und dann mit mir nach Hause zurückkehren. Auf diesem Pergament liegt ein Wahrheitszauber, also bin ich sicher, dass die Botschaft keine Lüge ist.«

Im allgemeinen Gedränge, als auch noch Morio und Smoky zu uns traten, steckte ich Delilah die Flasche wieder zu. Was auch immer mit Chase geschah, würde geschehen, ganz gleich, was ich sagte oder tat. Wir würden später darüber sprechen.

Wieder schmetterten die Fanfaren, und die Königinnen des Morgens, der Dämmerung und der Nacht knieten vor Königin Asteria nieder, um ihre Kronen zu empfangen. Ich versuchte, die Sorgen um Dämonenfürsten und Feenpolitik, menschlichen Hass und Verfolgung zu verdrängen.

Die Welt quoll über vor Schönheit, im Leben, im Tod und in allen Stadien dazwischen. Wir waren von so viel Schönheit umgeben - schrecklicher Schönheit und Schönheit, die so strahlend war, dass sie mir Tränen in die Augen trieb.

Titania sprach ihren Eid und bestieg ihren Thron, und ich pflückte eine rote Rose von einem Busch, hielt sie mir vor die Nase und sog tief die Luft ein. Manchmal mussten wir unsere Sorgen um die Zukunft einfach beiseiteschieben und im Hier und Jetzt leben. Manchmal musste selbst eine Vampirin innehalten und an Blumen schnuppern.

 

 

Ende - Schwestern des Mondes 06 - Vampirliebe