Kapitel 8

 

Das AETT-Hauptquartier lag am Rand von Belles-Faire im nördlichen Seattle, an der Thatcher Avenue. Das große Betongebäude wurde von Bodenlampen angeleuchtet, die sich um das gesamte Gebäude zogen. Es schien einstöckig zu sein, hatte aber tatsächlich drei weitere, unterirdisch verborgene Stockwerke, die unter anderem eine Waffenkammer, einige Zellen für verhaftete Besucher aus der Anderwelt, ein Leichenschauhaus und ein Labor beherbergten. Das Hauptquartier der Anderwelt-Erdwelt-Polizei, Büros und die Klinikräume lagen im Erdgeschoss.

Die Außenanlage des Ermittlungszentrums war mit niedrigen Büschen und Blumenrabatten gestaltet. Es gab weder große Bäume noch Hecken, die Flüchtige oder ein angriffslustiger Mob als Versteck nutzen könnten. Die Freiheitsengel, eine Gruppe von VBM-Rassisten, hatten stetig neue Mitglieder gewonnen, vor allem, seit die Erdwelt-ÜW und -Feen sich in Scharen outeten. Es hatte ein paar sehr hässliche, sehr blutige Zwischenfälle mit dieser Gang gegeben, und ich hatte das Gefühl, dass das noch längst nicht alles gewesen war.

Wir parkten unter einer Straßenlaterne und gingen auf das Gebäude zu. Zwei stämmige, bewaffnete und mit Schutzwesten ausgerüstete Sicherheitsleute bewachten den Eingang -beides Feen, die Königin Tanaquar erst kürzlich geschickt hatte. Y'Elestrial war dabei, sich nach dem Bürgerkrieg allmählich wieder zu organisieren, und unser Vater war der neue Erste Berater der Königin.

Camille lehnte sich dicht zu mir heran und flüsterte: »Die haben beide nicht nur Muckis, sondern auch mächtig Magie. Ich kann ihre energetischen Signaturen bis hierher fühlen.«

Delilah nickte. »Ich auch, und ich bin nicht mal eine Hexe.« Ich versuchte, mich auf die Männer zu konzentrieren, aber ich spürte nur ihren Herzschlag und hörte das Blut rauschend durch ihre Adern pulsieren. Wenn sie Dämonen oder Untote gewesen wären, hätte ich etwas gefühlt, aber auf ganz normale Magie egal wie mächtig - konnte ich mein Gespür normalerweise nicht ausrichten.

Als wir durch die äußeren Türen traten, beäugten uns die beiden Wachen, doch anscheinend stellten wir nach ihren Kriterien keine Gefahr dar, und sie ließen uns vorbei, ohne auch nur zu fragen, wer wir seien.

Wir betraten das großzügige Foyer. Links lag die eigentliche Polizeiwache hinter kugelsicheren Panzerglastüren. Vor uns, leicht rechts versetzt, führte eine Treppe nach unten. Die Fahrstühle lagen direkt vor uns. Wir wandten uns nach links und schoben die Doppeltür auf.

Das Großraumbüro summte vor Aktivität. In der Funkzentrale herrschte Hochbetrieb. Die Anzahl der Polizisten, die aus der Anderwelt hierher versetzt worden waren, hatte sich allein im vergangenen Monat verdoppelt.

Yugi, ein schwedischer Empath, war zu Chases Stellvertreter befördert worden. Er schaute gerade einem Elf über die Schulter, der kaum alt genug für den Stimmbruch zu sein schien, was bedeutete, dass er vermutlich älter war als jede von uns. Es sah ganz so aus, als versuchte der Elf, den Umgang mit einem Computer zu lernen.

Yugi blickte auf und lächelte, als er uns bemerkte. »Hallo, Mädels. Der Chef ist in seinem Büro. Er hat mich gebeten, euch direkt durchzuschicken.« In diesem Moment klingelte das Telefon, Yugi schnappte sich den Hörer und bedeutete Officer Re'ael - das stand jedenfalls auf dem Namensschild des Elfen -, allein weiterzumachen.

»Aha? Wo? Okay, ich stelle Sie zum Chef durch.« Yugi drückte auf eine Taste am Telefon, und wir machten uns zwischen den Bürowaben hindurch auf den Weg zum hinteren Teil des Raums. Delilah runzelte die Stirn. »Ich bin ja immer gern hergekommen, aber seit der Sache mit Erika fühle ich mich hier nicht mehr wohl. Jedes Mal, wenn Chases Büro in Sicht kommt, winde ich mich innerlich.« Sie hatte Chase vor nicht allzu langer Zeit dabei erwischt, wie er die Feder ins Tintenfass einer anderen Frau getaucht hatte, gleich hier auf seinem Schreibtisch. Die Folgen waren nicht schön gewesen.

»Komm, er hat seine Lektion gelernt. Nächstes Mal wird er dich vorher fragen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Chase konnte manchmal ganz schön dämlich sein, aber er lernte immerhin aus seinen Fehlern.

Wir folgten dem Gang durch den Irrgarten aus Trennwänden zur hinteren Wand, die drei Türen und einen Durchgang zu einem Flur hatte. An einer der Türen stand Chases Name. Die Jalousie im Fenster in der oberen Türhälfte war offen. Wir folgten Delilah nach drinnen.

Chase war gerade am Telefon und machte sich Notizen. Er winkte uns mit dem Bleistift zu und bedeutete uns, Platz zu nehmen. Gleich darauf brummte er eine knappe Antwort ins Telefon und legte auf.

»Scheiße. Eigentlich wollte ich mit euch über diese Leichen reden, aber jetzt gibt es ein anderes Problem. Kommt mit -wir haben einen Notfall.« Er schnappte sich seine Anzugjacke und zog sie rasch über sein ordentlich gebügeltes hellblaues Hemd. Ich bemerkte ein Foto auf seinem Schreibtisch, das ein goldenes Tigerkätzchen zeigte und sehr gut sichtbar platziert war. Aus irgendeinem Grund entlockte es mir ein Lächeln, dass er ein Foto von ihr in Tiergestalt hier aufstellte.

»Was ist los?«, fragte Delilah.

Er überprüfte die Waffe in seinem Schulterhalfter und kritzelte hastig etwas auf ein Blatt Papier. »Wer fährt? « »Ich«, sagte Camille.

Er drückte ihr den Zettel in die Hand. »Das ist die Adresse. Kommt, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, fügte er hinzu und eilte hinaus. Wir folgten ihm. »Wir müssen in den Avalon Dance Club. Schon mal davon gehört?« Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er weiter. »Irgendein Monster greift dort die Gäste an. Der Anrufer hat gesagt, es sähe aus wie eine Art bizarrer Tintenfisch. «

»Tintenfisch? Du machst wohl Witze. In einem Nachtclub?« Ich schnaubte, doch der ernste Ausdruck auf Chases Gesicht ernüchterte mich. Er schwitzte und sandte ganze Wogen von Stress aus. Er hatte zum Mittagessen mal wieder RindfleischTacos gegessen, so viel war sicher, und er war sehr besorgt. In den Schweißtröpfchen lag sogar schon ein wenig Angst.

»Das hat er gesagt. Wir treffen uns dort. Macht bloß keinen Unsinn - es hat sich angehört, als liefe im Hintergrund eine Schlägerei. Da werden Leute verletzt.«

Bei Yugis Schreibtisch blieb er stehen. »Schick eine Streife und einen Krankenwagen zum Avalon Dance Club. Sag ihnen, sie sollen auf uns warten und keinesfalls allein reingehen. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben, und ich will nicht, dass die Männer in eine Falle laufen.«

Wir rannten zur Tür und stürmten hinaus in die milde Nacht. Chase bog zu seinem Streifenwagen ab, und Delilah lief mit ihm mit.

Camille und ich rannten zu ihrem Lexus. Sie ließ den Motor an, trat das Gaspedal durch und raste mit quietschenden Reifen dicht hinter Chase vom Parkplatz. Ich öffnete das Beifahrerfenster. Chase hatte uns für jedes unserer Autos ein Blaulicht gegeben, das ich nun auf dem dahinrasenden Lexus anbrachte. Wir flogen nur so durch die Nacht.

Der Avalon Dance Club gehörte einer Gruppe von ErdweltFeen. Der typische Nachtclub wurde vor allem von Feen besucht, was bedeutete, dass er auch Feenmaiden anzog, die von Feen besessen waren und hofften, von den Angehimmelten verführt und geliebt zu werden. Der Club lag mitten in BellesFaire, also nicht allzu weit vom Hauptquartier entfernt. Chase bog scharf auf den Parkplatz ab. Der Club war früher ein Restaurant gewesen, vermutlich eine Filiale einer der großen Ketten, deshalb gab es reichlich Parkplätze.

Camille riss geschickt das Lenkrad herum und folgte ihm. Als wir aus dem Auto sprangen, warf sie mir einen Blick zu. »Ist es schlimm, dass ich mich sogar freue, mal wieder in einen Kampf zu ziehen?«

Ich erwiderte ihr Lächeln. »Du fliegst mit der Wilden Jagd. Wie könntest du die Hatz nicht lieben? Wir sind alle Raubtiere, Camille. Du, Delilah, ich. Sogar Chase jagt. Smoky jagt sein Abendessen. Morio ist ein Dämonenkind. Vanzir ist ein Dämon, der in den Träumen der Menschen auf Jagd geht. Rozurial jagt die Leidenschaft. Alles, was lebt - und manchmal selbst die Toten -, jagt das eine oder andere. Die Verfolgung eines Ziels oder Objekts gibt uns einen Grund zu leben. Das weißt du doch.«

Sie nickte und tätschelte ihre Tasche. »Ich habe das Horn dabei, nur für alle Fälle. «

»Gehen wir. Da sind sie.« Ich zeigte auf Chase und Delilah, die uns zuwinkten, wir sollten uns beeilen. Wir holten zu ihnen auf. Chase holte tief Luft, als der Streifenwagen mit unserer Verstärkung auf den Parkplatz rollte.

»Schön, dass die so auf Zack sind«, brummte Chase und öffnete die Tür des Nachtclubs. Gleichzeitig hob er das Funkgerät an den Mund. »Wagen zweiundachtzig, bleiben Sie, wo Sie sind, bis ich Sie rufe. Verstanden?«

Aus dem Funkgerät kam ein knackendes: »Verstanden, Chef.« Als wir den Club betraten, drang uns lautes Kreischen und Geschrei aus dem Raum jenseits des Foyers entgegen. Die Garderobenfrau war nirgends zu sehen, und wir platzten in den eigentlichen Saal.

Das Avalon war ein altes Gebäude. Die tiefen, dunklen Decken waren mit langen Reihen von Spiegeln bedeckt, die die Tanzenden darunter reflektierten. Die Deko war zurzeit ganz in königlichem Violett und Silber gehalten, und eine modernisierte Disco-Kugel drehte sich in der Mitte der Decke. Die Musik war verstummt. Die Bühne war Schauplatz eines Massakers. Soweit ich in dem Durcheinander zählen konnte, lagen sechs BandMitglieder am Boden. Ich konnte kein Blut entdecken, aber sonderlich gesund sahen sie nicht aus.

Wo ich auch hinsah, drängten Gäste panisch zu den Notausgängen. Aber irgendetwas, das ich im Halbdunkel schlecht erkennen konnte, blockierte anscheinend die Türen. Diese Wesen strahlten auch keine Körperwärme aus. Untote vielleicht? O Scheiße, das hatte uns gerade noch gefehlt.

Eine Frau vorn im Raum krallte die Hände in irgendetwas in der Nähe eines der Tische. Ich lief in ihre Richtung, während Delilah und Camille sich das Was-auch-immer vornahmen, das die Ausgänge versperrte. Womit zum Teufel hatten wir es hier zu tun?

Als ich auf die Frau zurannte, sah ich, dass sie mit einem Wesen rang - und, zur Hölle, das Ding sah tatsächlich aus wie ein Krake. Es wand sich um sie herum und schlang Tentakel um ihren Hals und ihre Taille.

Sie schlug danach und versuchte, sich zu befreien, doch als ich mich näherte, stieß das Ding ein Fauchen aus, hob sie hoch und schleuderte sie quer durch den Raum wie einen Stein. Sie flog durch die Luft und schlug mit einem tödlichen, dumpfen Schlag in der Nähe der Bühne auf.

Mr. Octopus - der immer noch nicht mehr war als eine rußige Silhouette - wirbelte herum, und in einem riesigen Auge glomm helles Feuer.

Je näher ich kam, desto klarer wurde mir, dass dies kein Meeresbewohner war. Die Tentakel schienen auf dem Boden sehr gut zurechtzukommen, und sie umgaben einen rasiermesserscharfen Schnabel. Das mit Spitzen versehene Organ schien allerdings eher zum Bohren als zum Fressen geeignet zu sein.

»Okay, du Drecksack. Komm schon, lass mal sehen, was du so drauf hast«, sagte ich und machte mich bereit. Ich winkte ihn zu mir heran. »Komm her, du potthässliches Mistvieh. Komm zu Mama.«

Das Monster bewegte sich auf seinen Tentakeln vorwärts, was mich an Zeichentrickfilme erinnerte, in denen ein Octopus auf Zehenspitzen lief. Aber das hier war kein Cartoon, und diese Dinger waren tödlich.

Erst konnte ich überhaupt nichts von ihm empfangen, und dann, als das Monster näher kam, traf mich mit voller Wucht das Gefühl, das nur eine Spezies hervorrufen konnte. Dämonen. »Scheiße! Dämon!«, schrie ich, als es mit einem Fangarm nach mir schlug. Ich wich aus, als der dunkle Arm an mir vorbeizischte. Anstelle von Saugnäpfen war er mit winzigen, rasiermesserscharfen Widerhaken besetzt. Autsch! Dieses Mistvieh konnte ja bösen Schaden anrichten.

Ich wich zurück, um mich zu sammeln. Acht - nein, zehn Tentakel voll gezahnter Angelhaken? Nein, danke.

Als es nun auf mich zukam, glitt es ein paar Handbreit über dem Boden durch die Luft.

Okay. Gar nicht gut.

Wieder sprang ich außer Reichweite. Meine Kniekehlen stießen gegen einen niedrigen Tisch, den ich mit einer Hand aus dem Weg fegte. Die marmorne Tischplatte flog durch den Raum und zerbarst. Ein Jammer. Ich hatte keine Zeit, Rücksicht auf das Mobiliar zu nehmen.

Ich schätzte meine Position ab, sprang plötzlich hoch und knallte dem Dämon meinen Stiefel gegen den Kopf. Aber mein Fuß wurde in ein, zwei Fingerbreit Abstand vor dem Wesen plötzlich abgefangen, und eine Schockwelle lief durch meinen Körper. Verflucht, das fühlte sich an, als wäre ich gegen eine Mauer geprallt. Etwas, das sich wie ein Donnerschlag anhörte, zerriss die Luft, und ich segelte rückwärts und landete auf der zerstörten Tischplatte. Was zum Henker.

Ein wenig benommen stand ich auf. Ich hatte mir die Hüfte geprellt, aber solch kleine Verletzungen heilten bei mir binnen einer Stunde. Einer der Vorteile am Vampir-Dasein. Nichts war gebrochen, und ich hatte kein Loch abbekommen.

Sollte ich es noch einmal versuchen? Ich beschloss, das Wesen aus einem anderen Winkel anzugreifen, und flog ein zweites Mal durch den Raum. Als ich aufprallte, hörte ich Delilah kreischen. Ich rappelte mich hoch und rannte in ihre Richtung, doch als ich sie sah, blieb ich wie erstarrt stehen.

Ihre Kleidung war blutgetränkt. Camille hatte sie von einem weiteren dieser Schattenmonster weggeschleift. Sie kniete an Kätzchens Seite und schüttelte sie, da kamen Vanzir und Smoky durch die Tür geschossen.

Smoky brüllte, und plötzliche Kälte erfüllte die Luft. Eine Frostwelle lief durch den Raum. Die Temperatur fiel augenblicklich um gut zwanzig Grad, doch das schien diese Drecksbiester überhaupt nicht zu stören.

Vanzir murmelte »O Scheiße«, dann rief er: »Sie sind in Schatten gehüllt - versucht es mit Licht. Schleudert ihnen so viel Licht entgegen, wie ihr aufbringen könnt!«

Licht? Ich hatte keine Taschenlampe dabei, und er meinte vermutlich auch nicht die Saalbeleuchtung. Camille ließ Delilah los und holte das Einhorn-Horn hervor. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie mich an.

»Raus hier«, formte sie mit den Lippen.

Ich stellte keine Fragen, sondern raste zum nächsten Ausgang. Die Türen hatten sich kaum hinter mir geschlossen, als ein gewaltiger Lichtblitz aus dem Club mich taumeln ließ und die Gäste erschreckte, die sich um den Streifenwagen und den Krankenwagen drängten.

Ich hatte keine Hitze gespürt - sie hatte also kein Feuer benutzt. Aber was auch immer das gewesen war, hätte mich in unter zehn Sekunden zu Staub zerblasen, wenn ich bei ihr da drin gewesen wäre. Sonnenlicht aus der Dose. Oder vielmehr aus dem Horn. Ich rannte zu den beiden Polizisten hinüber, die die Aussagen der geschockten Gäste aufnahmen. Marquette, Anderwelt-Fee, und Brooks, ein neuer VBM-Rekrut, blickten zu mir auf. »Braucht uns der Boss? «

»Wartet lieber hier draußen. Aber ruft noch ein paar Krankenwagen. Es gibt ziemlich viele Verletzte. Und sorgt dafür, dass wir Anderwelt-Sanitäter herbekommen. Es sieht so aus, als wären nur Feen verletzt worden.«

Während sie über Funk Unterstützung riefen, kehrte ich in den Club zurück. Das Licht war erloschen und hatte nichts Spürbares hinterlassen. Die Tanzfläche war fast leer, und von den Dämonen war nichts mehr zu sehen. Camille und Chase knieten neben Delilah, während Smoky und Vanzir sich um die anderen kümmerten, die bei dem Kampf verletzt worden waren. »Was ist passiert? Hast du sie getötet?« Ich versuchte, den Blutgeruch zu ignorieren, der von Delilahs Wunden aufstieg. Bei näherem Hinsehen waren sie recht oberflächlich, aber sehr hässlich. Wahrscheinlich hatte eines dieser Tentakel sie erwischt. »Die musst du versorgen lassen, sonst gibt es Narben. «

»Menolly hat recht«, sagte Chase, aber Delilah schüttelte den Kopf.

»Nein. Schaut - sie heilen schon. Große Mutter Bast, was zum Teufel ist denn das? Wunden heilen bei uns immer schnell, aber das da ist lächerlich.«

Sie hatte recht. Vor unseren Augen begannen sich die Wunden zu schließen. Gleich darauf konnten wir nicht einmal mehr sehen, wo die Schnitte gewesen waren. Das Blut unseres Vaters verlieh uns Selbstheilungskräfte, die weit über die von VBM hinausgingen, aber das war selbst für uns absurd.

»Was zum ...« Ich verstummte, als Sharah und Mallen hereinplatzten, ihre Ausrüstung in der Hand. Hinter ihnen kamen mehrere weitere Sanitätsteams, die gerade für das AETT ausgebildet wurden.

Sharah eilte zu uns, während Mallen begann, die anderen Retter einzuteilen. »Was ist passiert? Gegen was habt ihr da gekämpft?« Sie blickte auf Delilah hinab, die gerade aufstehen wollte. »Großer Aeondel, bist du schwer verletzt? Wo kommt denn das viele Blut her? «

»Ich habe einen Hieb von einem irren Tintenfisch abgekriegt«, sagte Delilah, und Camille schnaubte vor Lachen. »Die Schnittwunden sind sofort verheilt. Aber mir ist ein bisschen schwindlig.« Sharahs Gesicht nahm einen vage skeptischen Ausdruck an. »Irrer Tintenfisch?«, fragte sie jedoch mit völlig neutraler Stimme.

»Sie meint einen Dämon.« Vanzir trat zu uns. Er war selbst ein Dämon, ein Traumjäger. Er war zu uns übergelaufen und hatte sich freiwillig dem Knechtschaftsritual unterworfen, einem schmerzhaften und unwiderruflichen Ritus.

Sein Leben lag in unseren Händen, ganz gleich, wie lange er leben oder wohin er gehen mochte. Er sah aus wie eine etwas kleinere, jüngere Ausgabe von David Bowie während seiner Ziggy-Stardust-Phase, mit platinblonder Stachelfrisur und Augen, die unirdisch leuchteten. Er hatte diesen Junkie-Look perfekt drauf.

»Wusste ich doch, dass ich Dämon gerochen habe.« Ich blickte zu ihm auf. »Ich habe versucht, das Ding anzugreifen, aber verdammt ... Weißt du zufällig, was das für Biester sind? «

»Ich weiß nicht mehr als ihr. Ich habe noch nie etwas derart ... Seltsames gesehen.« Er schüttelte den Kopf. »Hast du das Monster getroffen, das dich angegriffen hat?«

Ich brummte: »Nein, und ich verstehe nicht, warum. Ich hätte es treffen müssen, aber das Wesen war von einer Art Kraftfeld umgeben. Mein Fuß ist gegen diese Barriere geprallt, und sie hat mich abgeschmettert.« Ich zuckte mit den Schultern. »Hat sonst jemand einen echten Treffer gelandet?«

Delilah sah die anderen an. Alle schüttelten die Köpfe.

»Anscheinend nicht«, sagte sie, »aber eines kann ich euch sagen. Als dieses Ding mich angegriffen hat, habe ich gespürt, wie etwas in meinem Geist herumgekrochen ist. Wie ein Schwärm Käfer.« Sie erschauerte. »Einen Moment lang dachte ich sogar ... «

»Ja?«, ermunterte ich sie sanft.

Delilah kniff die Augen zusammen und rieb sich den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Aber es hat sich angefühlt, als würde es sich in meinen Kopf bohren, bis in meine Seele.«

Ich stöhnte. »Großartig. Ein Seelensauger. Das hat uns ge rade noch gefehlt. Glaubst du, dass sie mit Schattenschwinge unter einer Decke stecken? Er ist immerhin ein Seelenfresser. «

»Ein Seelenfresser ist so mächtig, dass niemand seinen Angriff überleben könnte. Was nicht bedeutet, dass es da keine Verbindung gibt.« Vanzir sah verwirrt drein.

»Diese Biester passen nicht zu seiner sonstigen Vorgehensweise. Schattenschwinge schickt normalerweise Degath-Kommandos oder mächtige Späher wie Karvanak, den Räksasa. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er solche Monster aussenden würde, aber vielleicht täusche ich mich da.« Camille runzelte die Stirn. »Wir sollten schnell dahinterkommen, was das für Dinger sind.« In diesem Moment trat Mallen zu uns.

»Fünf Tote ohne irgendwelche erkennbaren Wunden«, sagte er. Er war aschfahl. »Zwei der Verwundeten leben noch. Sie sind kaum mehr bei Bewusstsein. Wir nehmen sie mit. Was zum Teufel war hier los? Ich kann weder erkennen, was den Verletzten fehlt, noch woran die anderen gestorben sind.« Chase meldete sich zu Wort, nachdem er bisher überraschend still gewesen war. »Was auch immer das für Monster sind, ich will, dass sie aufgespürt und vernichtet werden. Außerdem will ich wissen, warum sie Feen angreifen und keine Menschen. «

»Wir sollten eine Leichenzunge holen«, schlug ich vor. »Da die Toten Feen sind, könnte sie uns vielleicht auf eine Spur bringen. «

»Gute Idee«, sagte Sharah. »Ich werde das gleich veranlassen. Wir haben eine Leichenzunge in Rufbereitschaft.«

Chase schauderte. »Oh, großartig. Genau das, was ich jetzt sehen will. Noch so ein blutiges Fastfood-Fest. Aber wenn ihr meint, dass sie uns helfen könnte, schafft sie so schnell wie möglich ins Leichenschauhaus. Wir haben schon zwei Feen auf Eis liegen, deren Zustand zu dem passt, was hier passiert ist. Keine Wunden, kein erkennbarer Grund, weshalb sie tot sein sollten. Gehen wir.«

Sharah nickte und wandte sich mir zu. »Würdest du als Kontaktperson dienen? Leichenzungen mögen keine Elfen, und Camille sollte ihr nicht zu nahe kommen. Das Risiko einer magischen Implosion ist viel zu groß.«

Hexen und Leichenzungen machten einen großen Bogen umeinander. Irgendetwas im Aufbau ihrer magischen Anlagen passte nicht gut zusammen, und wenn sich ihre Energiefelder berührten, konnte es leicht zu einer hässlichen Explosion kommen.

Ich warf einen Blick auf Delilah. Sie war in den vergangenen Monaten um einiges härter geworden, aber immer noch zu empfindlich, um die Kontaktperson zu machen. Sie würde dabei bleiben, aber sie würde es vermutlich nicht aushalten, einer Leichenzunge so nah zu sein. Die waren unheimlich genug, wenn man sie aus der Ferne sah. Irgendetwas an ihnen strahlte ein gewaltiges Bloß nicht den Rücken zukehren aus.

»Klar«, sagte ich, und wir gingen hinaus in die Nacht. Uber uns rollte eine faule Reihe Wolken am Mond vorbei. Es war kaum elf Uhr, und die Mondmutter war noch nicht untergegangen. Sie würde erst gegen halb drei Uhr morgens in den Schlaf sinken. Die goldene Scheibe war beinahe voll, und ich wusste, dass sowohl Delilah als auch Camille ihren Sirenengesang hörten.

Drei Nächte vor der Sonnenwende würde sie voll und reif und ihre Energie bis zum Litha-Fest sehr stark sein. Ja, der Sommerkönig plante schon eine wilde Nacht für die Werwesen und jene Feen, die von der Mondmutter beherrscht wurden.

»Also los, gehen wir.« Ich eilte zu Camilles Auto. »Chase, wir treffen uns im Leichenschauhaus. Wir müssen herausfinden, wo diese Dämonen herkommen, und sie aufhalten, ehe sie wieder morden können.«