Kapitel 12

 

Der Erste Berater von Hof und Krone war unser Vater, also war der Mann, der gefesselt im Schuppen lag ... Vaters Sekretär. »O Scheiße!« Da ich diejenige war, die ihn bewusstlos geschlagen hatte, rannte ich voraus, um alles zu erklären. Vater würde dermaßen sauer auf uns sein, vor allem auf mich. Er hatte mich ständig ermahnt, Dinge erst bis zum Ende durchzudenken, so viele Fakten wie möglich zu sammeln, ehe ich handelte. Schon als Kind war ich impulsiv gewesen, wenn auch introvertiert. Ich stürmte in das Gästehaus und fand den Mann auf dem Sofa sitzend vor, die Hände vor der Brust verschränkt. Er starrte mich an, und Wut tropfte von ihm herab wie Eiszapfen vom Giebel an einem kalten Wintermorgen.

Camille hatte ihn von seinen Fesseln befreit, aber ich hatte das Gefühl, dass damit die Beule an seinem Kopf und die wundgescheuerten Stellen an seinen Handgelenken noch nicht ganz erledigt waren. Ich hatte gründlich dafür gesorgt, dass er an keinen Knoten herankommen konnte.

Normalerweise wäre mir das alles völlig egal gewesen. Manchmal machten wir eben Fehler. Manchmal bekam jemand zu Unrecht etwas ab, aber wir kämpften gegen Dämonen, und da war Vorsicht weit besser als Nachsicht. Andererseits ging es hier um Hof und Krone.

Tanaquar bezahlte uns wieder. Wir konnten es uns nicht leisten, ihr Geld oder ihr Wohlwollen zu verlieren. Zu viel hing davon ab, dass wir so viele Verbündete wie möglich um uns scharten.

Camille war in einen Knicks gesunken. Delilah ebenfalls, aber es sah ein bisschen albern aus, wenn sie in Jeans knickste. Ich beließ es bei einer tiefen Verbeugung. Ehrerbietung und eine gewisse Etikette wurden von uns erwartet. Zu Hause in der Anderwelt hatte Lethesanar von ihren Untertanen verlangt, vor ihr auf dem Boden zu kriechen. Tanaquar war zumindest nicht derart machtbesessen, und sie hatte eine ganze Reihe übertrieben strenger Regeln des höfischen Protokolls abgeschafft, als sie der Opiumfresserin die Krone vom Kopf gerissen hatte. Ich hielt den Mund, während wir warteten. Auch das war Etikette.

»Wie ich sehe, habt Ihr nicht sämtliche Manieren vergessen«, sagte er mit tiefer, grollender Stimme. Er stand auf, strich sein Gewand glatt, das ich furchtbar zerknittert hatte, und deutete mit einer Geste an, dass wir uns erheben durften. »Schon gut. Würdet Ihr mir freundlicherweise erklären, warum Ihr mich angegriffen habt?«

Ich warf Camille einen verzweifelten Blick zu, doch sie kniff die Lippen zusammen. Ich stand diesmal allein im Rampenlicht, und sie wich ein paar Schritte zurück. Verflucht, ich wusste nicht mal mehr seinen Namen. Vater musste ihn irgendwann erwähnt haben, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern.

»Ehrenwerter ... Sekretär ... «

»Schon vergessen? Mein Name ist Yssak ob Shishana.« Er stand abwartend da, die Hände vor der Brust gefaltet.

Ich räusperte mich. »Ehrenwerter Sekretär Yssak, es tut mir entsetzlich leid. Ich hätte Euch nie geschlagen, wenn ich gewusst hätte, dass Ihr Vaters Sekretär seid. Ich dachte, Ihr könntet von Lethesanar geschickt worden sein, um uns zu ermorden. Ihr wisst ja sicherlich, dass sie eine Todesdrohung über uns ausgesprochen hat.« Ich blinzelte und blickte zu ihm auf.

Yssak zog die Augenbrauen hoch, entspannte sich jedoch sichtlich. Vielleicht konnte ich die Sache noch geradebiegen, ohne dass wir alle furchtbaren Ärger bekamen.

Er war eigentlich ein bemerkenswerter Mann. Nicht umwerfend, nicht einmal sonderlich gutaussehend, aber er hatte ein interessantes Gesicht: kantig und voller Runzeln, die der ständige Kampf geprägt hatte, nicht das Alter. Sein Haar war blond, und er trug es wie Vater zu einem langen Zopf geflochten, in den Bänder in der Farbe seiner Uniform eingewoben waren. Er war groß, aber nicht zu groß. Im Grunde sah er ganz gewöhnlich aus, und trotzdem hätte ich mich auf der Straße nach ihm umgedreht, denn unter diesem schlichten Äußeren strahlte ungeheure Macht hervor. Ich konnte sie riechen - wie sonst Pheromone von Sex oder Angst.

Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder ausströmen. »Ich denke, es ist nachvollziehbar, weshalb Ihr so vorschnell gehandelt habt, wenn man die Dämonen bedenkt, gegen die Ihr antretet, und den Zorn der ehemaligen Königin auf Eure Familie. «

»Da ist noch mehr«, sagte Camille leise und trat wieder neben mich. »Die Banne um unser Grundstück wurden vor kurzem gebrochen. Wir waren draußen, um nach dem Verursacher zu suchen. Menolly ist auf Euch gestoßen, ehe wir den wahren Eindringling fanden - einen Dämon, den wir bisher nicht identifiziert haben und den wir anscheinend auch nicht bekämpfen können.«

Ich lächelte sie dankbar an. Dass Yssak für unseren Vater arbeitete, bedeutete noch lange nicht, dass man uns solche Fehler einfach durchgehen ließ. Vater war strenger mit uns als jeder unserer Vorgesetzten.

Delilah war auf dem Sofa zusammengesunken. Sie sah sehr blass aus.

»Ich bitte um Verzeihung, Ehrenwerter Sekretär, aber unsere Schwester wurde von dem Wesen angegriffen. Darf ich mich um sie kümmern?« Ich hasste es, mich an solche Förmlichkeiten zu halten, aber das verlangte die Etikette. Vater hatte sie uns von Geburt an eingebleut. Davon abzuweichen, wenn uns Hof und Krone wahrhaftig gegenüberstanden, würde sich anfühlen wie Zähneziehen. Allein die Vorstellung war scheußlich.

Yssak blinzelte. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt? Du meine Güte, Mädchen, ich bin zornig, ja, aber ich hätte Euch doch nicht gezwungen zu warten, wenn Ihr mich gleich darum gebeten hättet. Euer Vater würde mir den Kopf abschlagen, wenn ich eine seiner Töchter in Gefahr brächte.«

Er trat zurück, und Camille kniete sich neben Delilah.

»Alles in Ordnung, Süße?« Camille nahm ihre Hand und fühlte ihren Puls. Besorgt drehte sie sich zu mir um. »Ihr Puls ist viel zu schnell. Scheiße, hat das Ding es etwa doch geschafft, ihr silbernes Band mit seinen Tentakeln zu berühren? Ich kann ihre Signatur nicht lesen, obwohl ich so dicht bei ihr bin.«

Roz schob sie beiseite. Er hob Delilahs Kinn an und sah ihr in die Augen. Delilah murmelte etwas. Roz fuhr zu uns herum. »Bei allen Göttern - das Ding hängt noch an ihr dran. Es saugt ihr langsam die Lebensenergie aus. «

»Kannst du uns auf die Astralebene bringen, damit wir es bekämpfen können?«, fragte Camille. »Smoky kann mich hinübertragen. «

»Smoky ist sehr viel mächtiger als ich«, entgegnete Roz. »Die Barriere, die ich errichten kann, ist nicht stark genug, um euch alle während der Reise zu schützen. Aber ich kann ihn holen. Er ist draußen bei seinem Hügel.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er ins Ionysische Meer.

Camille gab mir einen Wink. »Bring Decken. Wir müssen sie warm halten. Und Cognac oder Whisky - irgendetwas, womit wir sie bei Kräften halten können. Verdammt, verdammt, verdammt. Wir müssen herausfinden, was zum Teufel das für Dinger sind und wie wir sie aufhalten können.«

Yssak trat zu mir. »Wie kann ich euch helfen? Sagt mir, was ich tun kann.«

Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Bitte bleibt bei Camille, während ich die Decken und den Schnaps hole.«

Er nickte - nur eine knappe Neigung des Kopfs - und übernahm die Wache, während ich aus dem Schuppen raste und zum Haus lief.

In Situationen wie dieser hatte ich nichts dagegen, ein Vampir zu sein. Meine gesteigerten Kräfte sorgten dafür, dass ich wesentlich schneller Hilfe holen konnte als meine Schwestern. Ich platzte in die Küche und sah Iris dort mit Maggie sitzen, den Blick auf die Tür gerichtet. Sie war mit ihrem Zauberstab bewaffnet. Iris mochte klein sein, aber mit diesem Werkzeug aus Silber und Kristall konnte sie eine Menge Schaden anrichten.

Ich war erleichtert, auch Vanzir bei ihr zu sehen.

Er runzelte die Stirn. »Was ist los? «

»Diese verfluchten Dämonen - einer hat Delilahs silbernes Band erreicht. Es ist derselbe Dämon, der sie vorhin angegriffen hat. Das Mistvieh muss ihr auf der Astralebene nachgespürt haben oder so, denn sie verliert Energie. Iris, hol mir eine warme Decke und eine Flasche Cognac oder Portwein.« Ich wandte mich wieder Vanzir zu. »Wir müssen herausfinden, was das für ein Biest ist und wie wir es töten können, denn sonst nimmt das hier ein schlimmes Ende.«

Vanzir legte mir sacht die Hand auf den Arm, und ich erschrak. Er berührte nur selten eine von uns. Ich verstummte und starrte ihn an.

»Ich weiß, was das ist«, sagte er. »Deshalb war ich unterwegs Nachforschungen.«

Ich wartete. »Nur zu. «

»Dieses Wesen gehört zu einer uralten Rasse von Dämonen, die man vorwiegend Erdseits findet, auf der Astralebene. Sie wurden vor vielen tausend Jahren von den großen Zauberern einer Kultur beschworen, die den Sumerern vorausging. Man nennt diese Dämonen Karsetii.« Vanzir sah blass aus. Wenn ein Dämon erbleicht - vor allem einer, der so Übles gesehen und getan hatte wie Vanzir -, dann weiß man, dass man in der Scheiße steckt.

»Du siehst nicht gut aus.« Ich blickte zu Iris hinüber, die eben mit der Decke und einer Flasche Cognac hereinkam. Sie reichte mir beides. »Bleib bei Maggie, Iris. Wir sind bald wieder da.« Ich bedeutete Vanzir, mir zu folgen, und ging zur Hintertür. Allerdings konnte ich allein schneller laufen. »Wir treffen uns im Gästehaus. Schnell.« Und damit lief ich los. Roz war noch nicht zurück, als ich das Gästehaus erreichte, also half ich Camille, Delilah in die Decke zu wickeln und ihr etwas Weinbrand einzuflößen. Sie wollte ihn nicht - sie war bei Bewusstsein, aber offensichtlich benommen -, doch wir zwangen sie, ihn zu trinken.

»Ich wünschte, ihre Zwillingsschwester könnte ihr helfen. Sie ist auf der Geisterebene.«

»Ja, aber die Geisterebene ist nicht dasselbe wie der Astralraum. Arial kann vielleicht nicht einfach so auf die Astralebene überwechseln.« Der Name war mir immer noch fremd. Wir hatten erst kürzlich festgestellt, dass Delilah einen Zwilling gehabt hatte, der bei der Geburt gestorben war. Anscheinend war ihre Zwillingsschwester eine Werleopardin gewesen und wachte über sie.

Dass Delilahs Panthergestalt hervorgetreten war, mochte etwas mit Arial zu tun haben, oder auch nicht. Wir blickten bei der Sache noch nicht ganz durch, und Vater sprach nur widerstrebend darüber. Er hatte uns so wenig wie möglich gesagt.

Vanzir erschien, als Kätzchen endlich einen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit trank. Er warf einen einzigen Blick auf sie und presste die Lippen zusammen.

Camille stellte ihn rasch Yssak vor. »Vanzir arbeitet jetzt mit uns zusammen.« Yssak nickte. »Das habe ich bereits gehört.« Er wandte sich Vanzir zu und sagte: »Du bist ein tapferes Geschöpf, dass du dich dem Knechtschaftsritual unterzogen hast. «

»Kann sein«, nuschelte Vanzir. »Wie ich Menolly eben schon gesagt habe, habe ich herausgefunden, was das für Dämonen sind.«

Camille atmete auf. »Den Göttern sei Dank. Endlich gute Neuigkeiten. Was sind sie? Wie können wir sie töten? Glaubst du, sie sind mit Schattenschwinge im Bunde?«

»Du wirst die Neuigkeit vielleicht nicht mehr so gut finden, wenn ich dir erst gesagt habe, was ich weiß. Das sind Karsetii, eine Dämonenrasse, die in den Astralreichen entsteht. Sie ernähren sich von Wesen der physischen Welt. «

»Du sprichst doch nicht etwa von Geisterdämonen?«, fragte Camille.

Ich warf ihr einen Blick zu. »Guter Gedanke. Geisterdämonen sind sehr, sehr übel. Aber wir können sie von der physischen Welt aus treffen, wenn wir Silber benutzen.«

Vanzir schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl sie ihnen durchaus ähnlich sind. Aber Karsetii sind schlimmer als Geisterdämonen. Sie sind auch als Dämonen der Tiefe bekannt, und seit über zweitausend Jahren wurde keiner mehr gesehen.«

Er seufzte tief.

Heilige Scheiße. Dann musste das Mistvieh verdammt hungrig sein. »Zweitausend Jahre? Da steckt doch bestimmt Schattenschwinge dahinter ... «

»Nicht so hastig«, unterbrach er mich. »Im Gegensatz zu typischen Geisterdämonen gehören die Karsetii nicht in die Unterirdischen Reiche. Ich habe dort drüben nie von ihnen gehört. Carter, einer meiner Freunde, ist Experte in Dämonologie. Er ist selbst ein Dämon und befasst sich ausschließlich mit dem Studium der Dämonen. Ich habe ihn besucht. Er ist sich ganz sicher, dass Schattenschwinge sie nicht beschworen haben kann, weil die Karsetii sich weigern, irgendeinem anderen Dämon zu gehorchen.«

Vanzir kniete sich neben Delilah und fühlte ihren Puls. »Ich kann das Wesen spüren, das mit ihr verbunden ist. Es nährt sich von ihr. Wir müssen sie am Leben erhalten, bis wir eine Möglichkeit finden, das Ding zu vernichten. «

»Der Dämon gehört also nicht zu einem Degath-Kommando?« Das wünschte ich mir inzwischen beinahe. Mit Höllenspähern wurden wir fertig, obwohl sie jedes Mal schwieriger zu besiegen waren.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Sie gehören nicht zu den Höllenspähern, und sie gehen weder Dienstverhältnisse noch Allianzen ein. Sie leben nach ihren eigenen Regeln. Und wie gesagt, Carter hat seine Akten durchstöbert - er hat sie jetzt alle im Computer - und in den letzten zweitausend Jahren keine verifizierte Sichtung entdeckt.«

Ich tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Wie bringen wir das Ding um und befreien sie? «

»Das ist der Teil, der euch nicht gefallen wird. Man kommt von der physischen Ebene aus nicht heran. Man muss sich auf der Astralebene befinden, um sie zu töten. «

»Wunderbar.« Camille ging zum Fenster, kam wieder zurück, beugte sich über das Sofa und strich Delilah sacht den Pony aus dem Gesicht. »Also müssen wir in den Astralraum reisen, um das Biest in Stücke zu hacken. Und dann herausfinden, wie zum Teufel es hierher gelangt ist. «

»Da ist noch mehr.« Vanzir hob den Kopf und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen in der Farbe von ... was auch immer das eine Farbe sein mochte, ich hatte jedenfalls keine Bezeichnung dafür.

»Raus damit«, sagte ich.

»Zunächst einmal weiß ich nicht, wie man es töten kann. Niemand weiß das. Es ist über zweitausend Jahre her, dass zuletzt eines dieser Biester Ärger gemacht hat. Und zweitens ist der Dämon, der mit Delilah verbunden ist, wahrscheinlich nur ein Ausläufer des Mutterwesens. «

»Wie bitte?« Das klang nicht gut.

»Der Dämon, der Delilah erwischt hat, und die anderen, die die Gäste des Avalon Club getötet haben, sind alle nur Avatare des Mutterdämons. Es ist nur eine Karsetii unterwegs, aber sie ist wie ein riesiges Wespennest, das zahllose Inkarnationen ihrer selbst hervorbringt. Diese Schatten machen sich dann auf die Suche nach Nahrung, die wiederum die Mutter absorbiert. Selbst wenn wir auf die Astralebene reisen und es schaffen, das Ding zu vernichten, das sich von Delilah nährt, wird sich der Dämon als Teil der Mutter einfach wieder neu bilden. «

»Aber wenn wir diesen da in sein Nest zurückschicken, ist Delilah dann gerettet?« Das zentrale Miststück interessierte mich im Augenblick weniger; ich wollte, dass meine Schwester von diesem Scheißding befreit wurde.

Vanzir zögerte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er langsam.

»Aber wir können es versuchen. «

»Dann überlegen wir uns erst mal, wie wir alle in den Astralraum kommen.« Als ich mir die Jacke herunterriss, platzten Smoky und Rozurial in den Raum, frisch aus dem Ionysischen Meer eingetroffen. Ohne ein Wort der Erklärung winkte ich sie herbei. »Kommt schon, Jungs, wir müssen in den Astralraum, Dämonen jagen.«

Smoky warf einen Blick auf Delilah und sah dann mich an. »Ich kann zwei von euch tragen. Camille und Menolly, ihr kommt mit mir.«

Roz winkte Vanzir zu sich. »Wahrscheinlich kann ich dich sicher rüberbringen, aber bei den Mädels würde ich das nicht riskieren. «

»Ich schaffe das auch allein, ich brauche nur länger als du und der Drache«, wandte Vanzir ein.

»Länger haben wir nicht«, sagte ich. »Geh mit Roz.«

Yssak tippte mir auf die Schulter. »Was kann ich tun?«

Ich zeigte auf die Tür. »Lasst niemanden herein, außer es kommt jemand namens Chase Johnson oder Iris. Bewacht Delilah. Wir gehen körperlich hinüber. Ihr seid also auf der physischen Ebene ihr einziger Schutz.«

Yssak nickte und tätschelte seinen Dolch. Weder Smoky noch Vanzir fragten, wer er war, während wir uns für den Übertritt bereitmachten.

Smoky breitete die Arme aus, und Camille trat in den Schutz seines linken Arms, während ich mich zögerlich unter den rechten schob. Ich mochte Smoky zwar ganz gern, aber ich war beileibe nicht so hingerissen von ihm wie meine Schwester. Als ich unter seinen ausgestreckten Arm schlüpfte - der Mann war eins neunzig groß und ragte über mir auf -, traf mich der moschusartige Drachengeruch mit voller Wucht. Wieder einmal eine Erinnerung daran, dass er nicht menschlich war. Man konnte die Teilchen mischen, herumschieben und umsortieren, wie man wollte, aber am Ende ergab das Puzzle immer einen verdammt gewaltigen, feuerspeienden, heißblütigen Sohn eines weißen und eines silbernen Riesenreptils.

Smoky blickte auf mich herab, beinahe als wüsste er, was ich dachte, und lächelte sanft. »Gehen wir und retten Delilah«, sagte er.

Als ich mich in seine Armbeuge schmiegte und über seine Brust hinweg Camille anstarrte, die sich ganz heimisch zu fühlen schien, wurde mir etwas klar: Bis auf Reisen durch Portale und während des Rituals, durch das ich mich von Dredge, meinem Meister, getrennt hatte, war ich nie bewusst in den Astralraum gereist. Ich war in meinem Körper gefangen, auch wenn es mir in meinen Träumen manchmal so vorkam, als wanderte ich kreuz und quer durch die Welten.

Camille schob eine Hand über Smokys Bauch, um meine zu berühren, die an seiner Seite an der neutralsten Stelle lag, die ich hatte finden können. Sie verschränkte die Finger mit meinen, und ich sah ihr in die Augen und war froh, dass sie mich so gut verstand.

»Du brauchst nicht nervös zu sein - wir gehen körperlich rüber. Dir passiert nichts«, sagte sie. »Das ist nichts im Vergleich zu einer Reise über das Ionysische Meer. Es ist auch nicht anders, als durch ein Portal zu treten. «

»M-hm.« Ich verließ mich bei so etwas nicht gern auf andere Leute, aber uns blieb nichts anderes übrig. Und wenn sie recht hatte, na ja ... ich war schon oft genug durch Portale gereist, um zu wissen, was mich erwartete.

Smokys Aura begann zu summen. Sogar ich konnte das hören, und was Auren und Energiesignaturen anging, war ich so kopfblind, wie man mit einem Schuss Feenblut überhaupt nur sein konnte. Dämonen konnte ich spüren, und andere Untote, und körperliche Manifestationen wie die Witterung von Angst oder Erregung, oder Wärme. Aber Magie - sei es Mondmagie oder die eines Drachen - ging über mein Gespür. Ich erschauerte, als die Welt um mich versank, sich überall auflöste außer im Schutz von Smokys Armen. Camille hatte unrecht. Das war überhaupt nicht wie die Reise durch ein Portal. Wenn man durch ein Portal trat, fühlte es sich so an, als ginge man zwischen zwei Magneten hindurch, die einem Körper und Seele in verschiedene Richtungen auseinanderrissen und dann binnen eines Augenblicks anderswo wieder zusammensetzten. In einem Portal hatte man einen Moment lang das Gefühl, als hätte die Welt sich mitsamt einem selbst in Stücke gesprengt. Aber das hier war anders.

Alles außerhalb der Barriere, die Smoky errichtet hatte, war nebulös und wurde allmählich ausgeblendet. Der Schuppen, Delilah und Yssak verblassten langsam in einem grauen Nebel, in dem silberne und weiße Lichtpunkte glitzerten wie Tau auf Wolkenbänken.

Und dann wurden wir anderswo langsam wieder eingeblendet. Der Nebel um uns war immer noch dicht, als Smoky die Arme ausbreitete und Camille und ich aus seinem Schatten traten. Der Dunst wallte um unsere Knöchel, bis hinauf zu den Knien. Vage Umrisse in der Ferne ähnelten verkrüppelten Bäumen.

»Wo zum Teufel sind wir?«, fragte ich und machte einen vorsichtigen Schritt. Der Boden - oder was immer da unter dem Nebel war - fühlte sich fest an, aber die Luft war irgendwie ... ätherisch, seltsam. Ich drehte mich rasch um und starrte Camille an. »Kannst du atmen? Gibt es hier Sauerstoff für dich? Ich merke es ja nicht einmal.«

Sie nickte langsam. »Ja, anscheinend schon. Das hier ist... nicht wie das Ionysische Meer. Ich war schon oft körperlich auf der Astralebene, vor allem mit der Wilden Jagd. Aber hier ist es ... irgendwie anders. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es ist beinahe so, als brauchte ich nicht zu atmen.«

Smoky räusperte sich. »Es gibt mehrere Astralebenen, die zu den Ionysischen Landen gehören, und sie alle existieren nach anderen Prinzipien als Erdwelt oder Anderwelt. Uns passiert schon nichts, solange wir nicht ins Meer fallen. Oder auf einen Flecken wilder Magie treffen. Haltet die Augen auf nach allem, was ungewöhnlich hell glitzert - vor allem mit roten und orangefarbenen Wirbeln darin, die für gewöhnlich auf Hexerei hindeuten. Einige Schattenzauberer kommen gern zum Spielen hierher. «

»Okay ... also, wo ist dieses Wesen ...« Ich verstummte, als ich einen dunklen Schemen rechts von uns bemerkte. Es war schwer abzuschätzen, wie weit er entfernt war, weil es hier auf der Astralebene keine richtige Perspektive gab, aber für mich sah er ganz so aus wie die dämonischen Kraken, gegen die wir gekämpft hatten. Allerdings konnten wir das Ding hier ganz deutlich sehen, und der Anblick war nicht unbedingt ermutigend. Das Ding war riesig - viel größer, als es auf der anderen Seite erschienen war. Es war schwarz und hatte einen dicken, knollenartigen Kopf mit so vielen Beulen daran, dass er mich an ein Riesenhirn oder einen Blumenkohl erinnerte. Und zwei seiner Tentakel hingen an einem silbernen Band, das ... Scheiße! Da war Delilah. Sie war nicht im Astralraum, aber da das Wesen mit ihr verbunden war, erschien sie als gespenstischer, zarter Schemen.

»Da - es saugt das Leben aus ihr heraus!« Ich stieß ein lautes Knurren aus. »Reißen wir es in Fetzen.«

In diesem Moment erschienen Rozurial und Vanzir neben uns. Ich zeigte auf Delilah, und sie nickten, als Camille und ich uns in Bewegung setzten.

»Wartet - lasst mich erst nach Gefahren sehen ...«

Smokys Worte verhallten ungehört, denn wir stürmten vorwärts. Jemand vergriff sich hier an unserer Schwester, und mehr brauchten wir nicht zu wissen. Als wir näher kamen, bereitete Camille irgendeinen Zauber vor, während ich rasch überlegte, aus welchem Winkel ich den Dämon angreifen sollte. Ich wollte Delilah nicht weh tun, also mussten wir sie von ihm weg bekommen, ehe wir anfingen, das Ding zu vermöbeln. Das hieß, dass ich zuerst die Tentakel lösen musste, die ihr durch das silberne Band Energie absaugten.

Als hätte Camille meine Gedanken gelesen, schleuderte sie einen Energiestrahl - auf der Astralebene viel heller als sonst - auf den Ansatz der beiden Tentakel. Der Strahl traf, mit einem grellen Blitzen wurden die Tentakel von dem riesigen Mantel abgetrennt, der den hässlichen Kopf schützte. Als Delilahs Band davonglitt und sie ebenfalls verschwand, stieß die Karsetii ein schrilles Kreischen aus und wirbelte zu uns herum.

»Na, komm schon, Mädchen«, flüsterte ich und winkte sie heran. Anscheinend hörte das Ding gut. Es wandte sich von Camille ab und kam direkt auf mich zu. Ich wappnete mich für den Aufprall, und als eines seiner Tentakel nach mir schlug, rannte ich vor, sprang in die Luft und trat ihm gegen den Kopf. Im Gegensatz zum Avalon Club landete ich hier einen Treffer. Eins zu null für uns!

Mein Fuß traf es direkt unter dem riesigen Auge, einer run den Pupille, die in einem Meer aus Weiß schwamm. Der Körper der Karsetii war längst nicht so schwammig, wie er aussah. Ja, wenn ich noch lebendig gewesen wäre, hätte ich mir bei diesem Tritt vermutlich das Bein gebrochen. So jedoch hinterließ ich einen hübschen Abdruck auf der Stirn des Mistviehs.

Es brüllte und schlug wieder nach mir, und diesmal erwischte es mich an der Seite, als ich in Deckung hechten wollte. Eine Schockwelle raste durch meinen Körper, der sich verkrampfte, ich prallte auf, rollte mich ab und kam gekrümmt wieder auf die Beine.

Ich ignorierte den Schmerz und rief Camille zu: »Pass auf die Tentakel auf. Die versetzen einem einen hässlichen Energieschlag!«

Sie nickte und bereitete einen weiteren Zauber vor. »Verstanden!«

Nun kam Smoky wie üblich als donnernder Güterzug an mir vorbeigepfiffen, die Arme ausgestreckt, die Fingernägel zu Klauen ausgefahren, und sein knöchellanges Haar peitschte sich selbst aus dem Weg. Er landete einen Treffer und fügte dem Dämon einen gut dreißig Zentimeter langen Riss an der Seite zu. Das Ding wehrte sich mit einem Schlag der kurzen Fühler, die sich dicht an seinem Kopf wanden und wiegten. Smoky schrie auf, wurde zur Seite geschleudert und landete flach auf dem Rücken.

»O Scheiße«, flüsterte ich. Etwas, das stark genug war, den Drachen umzuhauen, musste mächtig hinlangen können. »Ich glaube, die Tentakel, die näher am Kopf sind, haben mehr Kraft«, sagte er, sprang auf und rückte seinen Trenchcoat zurecht. Erstaunlich. Kein Fleckchen war an ihm zu sehen. Roz erschien rennend an meiner Seite. »Wollen doch mal sehen, ob Technik hier drüben funktioniert«, sagte er und zog eine fies aussehende Handfeuerwaffe.

»Heilige Scheiße, steck das Ding weg ...«

Ich wurde vom Knattern eines Kugelhagels unterbrochen, der auf den Dämon zuflog. Die Geschosse prallten ab, genau wie ich erwartet hatte, und zischten in alle möglichen Richtungen davon. Den Göttern sei Dank, dass niemand von uns getroffen wurde. »Idiot! Tu das Ding weg. Die meisten Dämonen kann man nicht erschießen. Das solltest du doch wissen!« Vanzir trat zu uns, riss Roz die Waffe aus der Hand und warf sie auf den Boden.

»Vanzir hat recht. Wir haben sowieso nicht vor, das Mistvieh zu töten. Es geht einfach immer wieder heim zu seinem Mutterschiff, bis wir diese Mutter töten.« Camille knurrte leise. »Ich wünschte, ich könnte hier einen Blitz herbeirufen, aber das funktioniert nicht so wie drüben. Das Beste, was ich ohne Morio zustande bringe, sind Energiestrahlen. Wenn er hier wäre, könnten wir es mit Todesmagie versuchen.«

Während sie sprach, hatte sich das riesige Mistvieh in unsere Richtung aufgemacht, und nun schlug es mit einem Tentakel zu und zielte direkt auf ihren Kopf. Ich hatte keine Zeit mehr, sie zu warnen, also stieß ich mich ab, packte sie bei den Schultern und hechtete mit ihr zu Boden. Wir verschwanden in dem dicken Nebel, der aufwallte und uns einhüllte. Camille stieß ein lautes »Uff!« aus, als wir hart aufschlugen, und ihr Rock wickelte sich um meine Beine. Das Tentakel der Dämonendame zischte über uns hinweg.

Während ich noch versuchte, mich von mehreren Lagen von Camilles Chiffon zu befreien, trat Vanzir vor, und seine Augen wirbelten wie die Steinchen in einem Kaleidoskop. Er hob die ausgebreiteten Arme, und aus seinen Handflächen brachen schillernde Fäden hervor, die in der astralen Brise flatterten. Vanzir stieß ein lautes, tiefes Lachen aus, als die Fäden länger wurden und wie ein Schwärm bizarrer Neonwürmer auf den Karsetii-Dämon zuflogen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht jagte mir eine Scheißangst ein, und zum ersten Mal wurde mir klar, wie froh wir sein konnten, dass er auf unserer Seite stand.

»O gute Götter, seht ihn euch an.« Camille schauderte, und ich half ihr auf. »Kannst du diese Fäden sehen? «

»Ja«, antwortete ich. »Was zur Hölle ist das? «

»Ich bin nicht ganz sicher, aber sie - heilige Scheiße, schau dir das an. Sie haben sich an der Karsetii festgesetzt!« Sie wich zurück, den Blick wie gebannt auf die beiden Dämonen gerichtet. Vanzirs Fäden, die immer noch mit seinen Handflächen verbunden waren, hatten tatsächlich die Karsetii erreicht. Sie bohrten sich seitlich in den Kopf des Wesens, genau so, wie die Tentakel des Dämons an Delilahs silbernes Band gelangt waren. Er warf den Kopf zurück, und ein Ausdruck schierer Wonne breitete sich über sein Gesicht. Keine entrückte Seligkeit, sondern finstere, wüste, wilde Wonne, die in mir den Wunsch weckte, diese Energie zu berühren, obwohl ich zugleich davor weglaufen wollte.

»Er nährt sich«, flüsterte Camille. »Vanzir ist Traumjäger. Er verzehrt Träume. Offenbar ist er auch in der Lage, astralen Wesen Energie abzuzapfen. «

»Was auch immer er da tut, es funktioniert.« Smoky deutete auf die Karsetii. »Schaut.«

Der Dämon verblasste vor unseren Augen. Die Aura darum herum begann sich aufzulösen, und ohne Vorwarnung verschwand das Mistvieh mit einem Knall. Vanzir taumelte und stürzte, als die Verbindung plötzlich abriss.

»Alles in Ordnung?« Ich eilte zu ihm und kniete mich hin, um mich zu vergewissern, dass ihm nichts fehlte. »Bist du verletzt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ich streckte ihm die Hand hin, und er starrte mich einen Moment lang an, ehe er sie nahm. Als ich ihn auf die Füße zog, erhaschte ich einen Hauch von seinem Geruch. Er sah nervös aus, hektisch. »Fehlt dir wirklich nichts?«

Er beugte sich vor. »Du weißt doch, was der Geruch von Blut mit dir macht, Mädchen. Das hier ist meine Art von Blut. Energie abzuzapfen, berauscht mich. Wir alle haben etwas, das uns in Erregung versetzt. Das hier ist es für mich.«

Während er sprach, brach eine Woge erotischer Spannung durch meine Schilde, und ich biss mir auf die Lippe, als meine Reißzähne ausführen. Er bemerkte es und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen. Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen.

Ich schluckte und versuchte, die Gedanken zurückzudrängen, die auf einmal meinen Kopf stürmten. Ich sollte mich auf gar keinen Fall mit einem Dämon einlassen - jedenfalls nicht mit einem echten, wahrhaftig bösen Dämon, der unserem Willen unterworfen war. Aber Vanzir hielt meinen Blick fest, und mit einem leichten Lächeln, das beinahe höhnisch wirkte, hauchte er einen Kuss in die Luft.

Ich kehrte ihm den Rücken zu und ging zu Camille und Smoky hinüber. »Verschwinden wir hier, ehe das Ding zu rückkommt.« Ohne ein weiteres Wort machten wir den Dimensionssprung nach Hause, um nachzusehen, wie es Delilah ging.