Kapitel 16

 

Die Geräusche aus der Küche waren laut, und ich ärgerte mich darüber, während ich ungeduldig darauf wartete, dass Iris alle hinaus scheuchte, damit ich aus meinem Versteck kommen konnte. Abgesehen von meinen Schwestern, Iris und Smoky wusste niemand, dass der Eingang zu meinem Unterschlupf hinter dem Bücherregal in der Nähe von Maggies Laufstall verborgen war, und dabei wollte ich es auch belassen. Zu viele Köche verderben den Brei, und zu viele Eingeweihte erhöhten die Chance, dass Feinde jemanden zum Sprechen brachten. Es wurde immer schwieriger, überhaupt irgendein Geheimnis zu bewahren, da nun so viele Leute in unserem Haus ein und aus gingen.

Ich presste das Ohr an die Wand. Es hörte sich so an, als schrien Roz und Vanzir, und ich begann mich zu fragen, was zum Teufel da draußen los war. Ich kam auf die Idee, dass es vielleicht ganz gut wäre, ein Guckloch in die Rückwand des Bücherregals zu bohren und es von dieser Seite aus mit dickem Stoff zu verhängen. Dann könnte ich hinausschauen und sehen, was los war, wenn es nötig sein sollte. Das würde zwar die Gefahr erhöhen, dass mein Unterschlupf entdeckt wurde, aber mit etwas Einfallsreichtum ließ sich das Risiko vielleicht in Grenzen halten.

Gleich darauf hallte Iris' Stimme durch die Küche. »Alle Mann raus.«

Ich hörte Vanzir sagen: »Wir wissen doch, dass sie irgendwo hier heraufkommt. Warum könnt ihr nicht einfach offen sein? Wir sind doch keine Gefahr. «

»Das ist Blödsinn, und das weißt du selbst«, konterte Iris. »Ihr wisst nicht genau, wo der Eingang ist, und ihr werdet es auch nicht erfahren. Und jetzt raus. Na los.«

Iris' Stimme übertönte das Gemurmel der anderen, und ich hörte Stühle über den Boden schrammen und Schritte auf den Fliesen. Gleich darauf klopfte sie leise ans Bücherregal.

»Du kannst herauskommen«, flüsterte sie, und ich schob das Regal auf, das an gut geölten Scharnieren aufschwang. Ich schlüpfte in die Küche und schloss die Geheimtür sicher hinter mir. Sie war schwer. Ich konnte sie leicht öffnen, aber meine Schwestern und Iris hatten Mühe damit.

Camille saß am Tisch. Umgedreht ausgebreitete Spielkarten und Stapel von Jetons vor jedem Stuhl enthüllten mir, dass hier eine Pokerpartie lief. Iris trug zu ihrem Dirndl eine Schirmmütze wie ein Croupier und sah absolut hinreißend aus, wenn auch ein wenig verwirrend.

»Danke«, sagte ich. »Ich dachte schon, die gehen nie. «

»Die Jungs wollten nur nicht riskieren, dass ich ihnen in die Karten gucke«, entgegnete Iris augenzwinkernd. »Ich habe versprochen, nicht zu linsen.« Sie verzog den Mund zu einem schelmischen Grinsen, und ihre Augen blitzten. »Das ist auch nicht nötig. Ich habe einen Straight Flush. «

»Du bist mir vielleicht ein Hai«, sagte ich. »Nimmst sie wohl so richtig aus?« Iris war ein ausgesprochen vielseitig begabter Hausgeist. Wir wussten, dass sie eine Priesterin der Undutar, der finnischen Nebel- und Eisgöttin, war - oder zumindest einmal gewesen war. Außerdem konnte sie verdammt gut kämpfen und offensichtlich auch verflixt gut spielen.

»Wie immer«, sagte sie. »Ich bluffe diese Jungs unter den Tisch.« Sie steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Kommt wieder rein«, rief sie.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Zehn nach acht. Die Sonne war vor ein paar Minuten untergegangen, doch sie würde nur allzu bald wieder aufgehen. Wieder einmal sehnte ich mich nach Herbst und Winter. Eines war sicher, ich würde niemals nach Alaska ziehen, außer für die dunkle Hälfte des Jahres.

Als Vanzir, Roz und Morio wieder hereinströmten, fiel mir etwas auf. »Wo ist denn Yssak? Ist er noch da?«

Camille schüttelte den Kopf. »Nein. Shamas ist gekommen, und die beiden sind zusammen in die Anderwelt zurückgekehrt. Nach allem, was Iris erzählt hat, ist unser Cousin am Boden zerstört. Er hat vielleicht mehr Zeit mit Tante Rythwar verbracht, weil sie ihn großgezogen hat, aber er hat seine Mutter sehr geliebt. Und Smoky ist draußen bei seinem Hügel. Anscheinend hat er Streit mit Titania, wegen Morgana. Er kann sie nicht ausstehen, weißt du? «

»Ich auch nicht«, sagte ich. »Es ist mir gleich, ob sie unsere Ururahnin ist. Morgana wird früher oder später Ärger machen. Sie hat ihre wahren Absichten nur noch nicht offenbart. Und da wir gerade davon sprechen, warum müssen wir zu dieser Sonnwendfeier? Ich habe keine Lust, mir die Krönung anzuschauen. «

»Ist das dein Ernst? Wir müssen darüber auf dem Laufenden sein, was an den Höfen der Drei Königinnen geschieht. Die Beziehungen zwischen der Drohenden Dreifaltigkeit und den Königinnen der Anderwelt sind sehr angespannt. Denk daran, Vater wird auch dort sein. Und Königin Asteria. Wir sind praktisch verpflichtet, uns da sehen zu lassen. Außerdem will Delilah unbedingt hin. «

»Delilah?« Das klang gar nicht nach Kätzchen.

»Ja, obwohl ich gar nicht verstehe, warum. Seit zwei Wochen ist sie deswegen schon ganz aufgeregt. Und ich will auch hin.« Camille warf mir einen Blick zu, der mir sagte, dass die Diskussion hiermit beendet war.

Ich zuckte mit den Schultern. »Na schön, aber nur unter Protest.«

Morio nickte. »Du magst die Königinnen vielleicht nicht, aber Camille hat recht. Es ist sehr wichtig, dass wir alle die Höfe im Auge behalten. Seit Camille Aeval aus dem Kristall befreit hat, damit sie ihren Thron als Dunkle Königin wieder besteigen kann, ist euer Schicksal mit dem ihren verbunden. Die Auswirkungen sind sehr weitreichend. Die Feen ergreifen die Herrschaft, sie werden zu einer eigenen Hoheitsgewalt. Und die Erdwelt-Regierungen sind begeistert davon, ihre eigenen Feenköniginnen zu haben. Das ist ein Punkt für sie und einer gegen die Anderwelt - obwohl ich bezweifle, dass irgendein Politiker das so klar und offen aussprechen würde. «

»Testosteronkrieg«, grummelte ich. »Meiner ist größer als deiner. Ich weiß, ich weiß. Aber deswegen braucht es mir noch lange nicht zu gefallen. Titania ist ja ganz in Ordnung. Aeval traue ich nicht, aber zumindest ist sie einigermaßen vernünftig. Morgana allerdings ... «

»Morgana ist ein Tornado, der jeden Augenblick den Boden erreichen könnte«, sagte Iris. »Sie wird mit der Zeit nur schwieriger werden. Und weil sie sich auf die Verwandtschaft mit euch berufen kann, könnt ihr sie nicht einfach ignorieren. Jedenfalls nicht ohne wirklich guten Grund. «

»So ist es«, sagte Camille. »Sie spielt guter Bulle - böser Bulle mit uns. Aber wir werden dabei die bösen Bullen sein, wenn wir ihre freundliche Geste abweisen. Ich glaube ja immer noch, dass du dich irrst und der Wiederaufbau der Feenhöfe das Beste für die Erdwelt ist, aber ich will nicht darüber streiten. Da sie Smoky zusammen mit Titania an seinem Bau aufsucht, kann ich nur hoffen, dass er noch ein paar Federn dranlässt, wenn er ein Hühnchen mit ihr rupfen will. «

»Du meinst wohl eines Raben?« Ich lächelte. »Das ist aber eine schöne Vorstellung. Ich hätte nichts dagegen, wenn er die ganze Bande gründlich versengt, aber sie als Allererste.«

Camille runzelte die Stirn. »Zugegeben, Morgana kann schwierig sein, aber ich glaube immer noch, dass sie uns nicht im Stich lassen wird. Es ist offensichtlich, dass wir uns darin nicht einig werden, also reden wir nicht mehr darüber. «

»Ist mir recht.« Ich setzte mich an den Tisch. »Heute Morgen hast du den ganzen Heimweg über geschlafen. Ich wollte dir noch eine Nachricht schreiben, aber als wir endlich da waren und Roz dich nach oben getragen hat, ging schon fast die Sonne auf, und ich musste sofort nach unten.« Ich sah Roz an. »Hast du ihnen gesagt, was ich dir erzählt habe?«

Er nickte knapp, ohne von seinen Karten aufzublicken. »Jawohl, Ma'am. «

»Komm mir nicht mit Ma'am.« Ich schnaubte.

Camille ergriff wieder das Wort. »Wir haben heute Vormittag als Erstes in der Bar vorbeigeschaut, um Delilah zu erzählen, was los ist. Und Chase hat angerufen. Noch eine Leiche. Jetzt, da Sharah weiß, wonach sie suchen muss, konnte sie eine weitere Karsetii-Attacke bestätigen. «

»Scheiße. Immer mehr Tote. «

»Ja. Ach, übrigens, die beiden Männer, die ins Krankenhaus gekommen sind ... Einer von ihnen ist heute gestorben. Der andere schafft es anscheinend noch, sich gegen den Dämon zu wehren. Ich habe Chase versprochen, dass wir nachher vorbeischauen und in den Astralraum springen, um den Dämon von dem armen Kerl zu lösen. Ich weiß aber nicht, was wir hinterher mit ihm machen sollen. «

»Hm, wir könnten ihn zu Kätzchen stecken, aber es gefällt mir nicht, sie einem Fremden auszuliefern.« Noch während ich den Gedanken aussprach, wusste ich, dass das gar nicht in Frage kam.

»Nein. Wir haben nur einen sicheren Raum, und da drin bleibt sie. Allein.« Camille schüttelte den Kopf. »Wir können das Ding vorerst zurückschlagen, aber wir können unmöglich jeden retten, den dieses Wesen angreift. «

»Na ja, wir verschaffen ihm zumindest ein wenig Zeit.«

Mehr konnten wir nicht tun. »Habt ihr heute irgendetwas über Harold in Erfahrung gebracht? «

»Ja, allerdings. Mehr als wir eigentlich wissen wollten.« Camille schlug ihr Notizbuch auf. »Morio und ich haben ein bisschen herumgeschnüffelt. Soweit wir wissen, ist Harold Youngs Haus am College als offizielle Studenten-Organisation registriert, aber nicht als richtige Studenten-Verbindung. Anscheinend sind die Jungs alle Mitglieder einer exklusiven Bruderschaft oder eines Ordens, in den man nur auf Einladung reinkommt und dem schon die meisten ihrer Väter angehörten, als sie dort studiert haben. Ein recht elitärer Verein also. Harolds sehr wohlhabender Onkel hat ihm das Haus überschrieben, damit er und seine Freunde darin wohnen können.«

Das kam mir merkwürdig vor. »Sein Onkel? Nicht sein Vater? «

»Sieht so aus. Sein Vater hat auch Geld, aber sein Onkel war derjenige, dem das Haus vorher gehört hat. «

»Altes Geld? «

»Blaublütig alt«, entgegnete sie. »Und jetzt kommt etwas, das dich richtig freuen wird. Die Gruppe nennt sich Dantes Teufelskerle. «

»Dantes Teufelskerle? Ich glaube nicht, dass mir das gefällt. Erzähl mir bitte nicht, dass sie Dantes Inferno als ihre Bibel betrachten?« Ich konnte mir gut vorstellen, wie ein Haufen VBM-Jugendlicher das Buch als Nachschlagewerk heranzog.

»So ähnlich.« Morio streckte die Arme über den Kopf und legte dann den linken um Camilles Schulter. Sie lehnte sich an ihn, und er strich ihr übers Haar. »Gerüchteweise heißt es, dass sie ihrem Namen alle Ehre machen. Diese Burschen haben im Lauf der Jahre eine Menge Ärger gehabt.«

Der Name klang mir schon gar nicht gut. »Ich nehme an, sie sind ziemliche Außenseiter? «

»Das ist die Untertreibung des Jahres«, sagte Camille. »Delilah ist natürlich besser darin als ich, so etwas herauszufinden, aber eines kann ich dir sagen: Alle jungen Männer, die zu diesem Club gehören, sind hochintelligent, sogar Genies, fast alle studieren Informatik, und ein Großteil stammt aus Familien, die in der Tradition der Rosenkreuzer verwurzelt sind.«

Der Rosenkreuzer-Orden war eher esoterisch, ein bisschen wie die Freimaurer. Ich dachte an das Schaubild mit den Dämonenrunen an der Wand. »Ich glaube nicht, dass diese Jungs Rosenkreuzer sind. Die Runen waren weniger herme tisch als dämonisch. Und ich rede hier nicht von so etwas wie dem Siegel Salomons. «

»Nach allem, was Roz uns erzählt hat, hast du recht.« Camille blätterte in ihrem Notizbuch. »Deshalb habe ich dort angerufen und einen Termin mit den Jungs gemacht, in einer Dreiviertelstunde sollen wir dort sein. Ich habe behauptet, ich sei Reporterin aus der Anderwelt und studiere die menschlichen Gepflogenheiten rund um Lehre und Ausbildung. Sie glauben, wir wollten eine Story über sie schreiben, die ich dann in einem Feen-Newsletter veröffentlichen will. Um Viertel nach neun sollen wir dort sein. Ich wollte, dass du mitkommst, deswegen habe ich behauptet, früher ginge es nicht. Morio spielt meinen Assistenten, und du wirst meine Fotografin und Kamerafrau sein. Versuch nur, dich nicht vor irgendwelche Spiegel zu stellen, sonst verrätst du dich noch.«

Morio lächelte mit leuchtend weißen Zähnen. Sie waren zwar nicht so nadelspitz, wie sie werden konnten, wenn er seine Dämonengestalt annahm, aber sie sahen trotzdem furchtbar scharf aus. Ab und zu schimmerte eben doch der Yokai in ihm durch.

»Ich habe Camille bei der Recherche geholfen, und ich kann euch sagen, diese Typen mögen keine Studenten-Verbindungen.« Er strich den dunkelgrauen Rollkragenpulli über seinem flachen Bauch glatt und steckte eine Strähne hinters Ohr, die seinem gut schulterlangen Pferdeschwanz entwischt war. Seine Augen glommen zwischen Tiefbraun und einem leuchtenden Topaston. Mir fiel auf, dass er ein bisschen wilder aussah als sonst.

»Die meisten wurden von den echten Verbindungen abgewiesen«, fuhr er fort. »Alles, was wir erfahren haben, deutet darauf hin, dass die ganze Gruppe aus Außenseitern besteht. Sie sind nicht beliebt. Sogar die Computerfreaks, HardcoreRollenspieler und alle möglichen anderen Randgruppen wollen nichts mit ihnen zu tun haben. «

»Wunderbar. Klingt sehr sympathisch. Wir wissen ja bereits, dass Harold Sabele verfolgt hat. Und letzte Nacht habe ich gehört, wie zwei von den Burschen, Larry und Duane, darüber geredet haben, dass sie einem Mädchen Z-fen in den Drink gekippt und sie dann zu mehreren vergewaltigt haben. Ich hätte ihnen am liebsten die Köpfe abgerissen, aber ich dachte mir, dass wir sie vorerst noch lebend brauchen. «

»Scheiße. Dafür werden sie bezahlen, ganz egal, was wir sonst noch unternehmen.« Morio sah ausgesprochen mordlüstern aus. »Sind schon so gut wie tot. Also, der Plan ist folgender: Wir gehen da rein, versuchen sie dazu zu bringen, dass sie uns ihr Haus zeigen, schmeicheln ihrem Ego. In dem Alter dürfte der Testosteron-Pegel ziemlich hoch sein.« Camille grinste. »Ja, das müsste hinhauen.« Langsam schwebte ich zur Decke hinauf. »Sag mal, Morio, hast du noch was von dem Blut, das wie Ananassaft schmeckt?«

Er blickte zu mir auf. »Nein, aber ich habe dir eine Flasche mitgebracht, die nach Erdbeersirup schmecken müsste, und eine, aus der es nach Rindersuppe riecht. Ich würde dir allerdings empfehlen, den Inhalt der Suppenflasche aufzuwärmen.« Iris wies mit einem Nicken auf den Kühlschrank. »Sie sind deutlich beschriftet. Wasch aber bitte dein Geschirr selbst ab. Ich versuche mühsam, Delilah darauf zu trainieren, dass sie ihr Katzenklo selbst sauber macht. Da kannst du mindestens deine blutigen Suppenteller abspülen.«

Ich landete mit einem sanften, dumpfen Schlag auf dem Boden.

»Jawohl, Miss Iris. Jetzt habe ich keine Zeit mehr, aber ich werde sofort etwas davon trinken, wenn ich nach Hause komme. Also, wenn ich deine Kamerafrau sein soll, brauche ich eine Kamera. «

»Nimm den Camcorder«, entgegnete Camille. »Die glauben, dass ich für ein Boulevardblättchen arbeite, da ist es wohl nicht überraschend, wenn wir keine teure Ausrüstung haben. Ich ziehe mich jetzt um. Vanzir, du und Rozurial geht schon vor zum AETT-Hauptquartier und wartet dort auf uns. Wir werden eure Hilfe brauchen, und Smokys auch, wenn wir auf die Astralebene wollen.«

Während Morio ihr nach oben folgte, gab ich Rozurial einen Wink. »Komm mal mit nach draußen. Ich will kurz mit dir reden, während die anderen sich fertig machen.«

Ich schloss die Tür hinter uns und wandte mich Roz zu, der an der eingebauten Arbeitsfläche der hinteren Veranda lehnte, die mit Blumentöpfen und Gartenwerkzeug übersät war. Er trug eine schwarze Lederhose, die atemberaubend eng saß, und ein ärmelloses schwarzes T-Shirt. Das Haar hing ihm offen auf die Schultern. Er legte die Hände auf die Arbeitsplatte hinter sich und spreizte die Beine gerade so weit, dass ich mich dazwischen stellen konnte.

»Wir haben zu wenig Zeit dafür«, flüsterte ich, denn auf einmal hungerte ich nach ihm. Der Kuss hatte bis in meine Träume nachgehallt. Als ich mich zwischen seine Beine drängte, schlang er die Arme um mich, senkte den Kopf und streifte meine Lippen mit seinen. Wieder sprühten Funken auf, und sein moschusartiger Duft verlockte mich zu mehr.

Er spielte mit den Hüften, reizte mich, kratzte mit den Zähnen ganz sacht über meine Haut und ließ leicht die Zunge in meinen Mund schnellen. Hätte ich noch gelebt, wäre es endgültig um mich geschehen gewesen. Er hätte mit mir machen können, was er wollte, und ich hätte mich nicht beklagt. Schon als Vampirin war ich so scharf, dass ich hätte schreien mögen. Ich schaffte es, mich von ihm zu lösen. »Wir müssen gehen. Aber später - später ...«

Seine dunklen Augen glitzerten, und er lächelte mich auf seine ironische Art an. »Später werde ich dich hinlegen und mich zwischen deine wunderschönen Beine schieben, und du wirst einen Orgasmus erleben, der dir den Atem verschlägt.«

Da musste ich lachen. »Ich brauche nicht zu atmen, kein Problem. Aber ja ... ich glaube, ich bin bereit, Roz. Ich glaube, ich bin bereit für dich. «

»Gut«, sagte er und streifte mit den Lippen leicht meine Stirn. »Denn ich bin schon bereit für dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«

Und damit gingen wir hinein, um unsere Jacken zu holen. Als wir alle zusammen das Haus verließen, blieb Iris zurück, um auf Maggie aufzupassen und einsam darauf zu warten, dass ihr betrunkener Idiot von einem Leprechaun anrief, um sich zu entschuldigen. Meine Gedanken hingen immer noch an einem gewissen lockenköpfigen Incubus. Was er mir wohl so alles zeigen konnte?

Vanzir und Roz verschwanden, ehe wir Camilles Auto erreicht hatten. Ich schüttelte den Kopf, als die beiden sich in Luft auflösten. »Wir stecken schon mit ein paar seltsamen Gestalten unter einer Decke, was?«

Camille grinste. »Ich habe das Gefühl, dass eine von ihnen demnächst tatsächlich unter eine gewisse Decke schlüpfen wird.« Sie überließ Morio das Steuer und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Ich setzte mich mit der Kamera und dem anderen Kram nach hinten.

Als Morio rückwärts aus der Einfahrt setzte, begann ich alles, was ich letzte Nacht gesehen hatte, so detailliert wie möglich zu wiederholen. Camille hörte zu und nickte hin und wieder. Als ich zu den benutzten Kondomen und dem Staub unter dem Bett kam, stieß sie ein ersticktes »Iih« aus und schüttelte sich.

»Ja, das war ziemlich eklig«, sagte ich. »Und ich bin an eklig eigentlich gewöhnt. «

»Ich bin so froh, dass wir keine Kondome benutzen müssen«, bemerkte Camille und warf Morio einen Blick zu, der nur lächelte und weiter auf die Straße schaute.

»Lässt diese Spritze, die du und Delilah bekommen habt, ehe wir hierher gezogen sind, eigentlich irgendwann nach? Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich mit einem Halbdämon-Kind machen würdest... oder einem kleinen Halbdrachen. «

»Drachen können Feen nicht schwängern, und die Spritzen wirken so lange, bis wir nach Hause gehen und das Gegenmittel einnehmen«, erwiderte sie. »Aber ... ich weiß nicht - Morio, kann ich von dir schwanger werden? Theoretisch, meine ich?«

Er zog eine Augenbraue hoch, immer noch breit lächelnd. »Ja. Kannst du. Ich hätte nichts dagegen, aber dies ist wohl nicht der günstigste Zeitpunkt, wenn man alle Umstände bedenkt. «

»Es gibt keinen günstigen Zeitpunkt, was mich und Kinder angeht«, murmelte sie.

Morio hielt vor dem Haus der Höllenbrut am Straßenrand. Ich zeigte auf das Fenster im zweiten Stock. »Das da ist Larrys Zimmer.«

Camille warf mir einen Blick zu. »Bist du bereit? Sie wissen übrigens, dass du und ich Halbfeen sind. Ich dachte, dann wären sie vielleicht noch mehr daran interessiert, mit uns zu reden, und ich kann dir sagen, sie haben sofort angebissen.«

Sie glitt vom Beifahrersitz. Wie üblich hatte Camille keinerlei Zurückhaltung an den Tag gelegt, was ihre Aufmachung anging. Sie hatte sich sogar extra schön gemacht und trug einen langen Chiffonrock in einem satten Pflaumenblau, ein schwarzsilbernes Bustier, das ihre Brüste zu einer Show machte, bei der einem die Augen rausfallen konnten, und dazu Spitzenhandschuhe und einen Spitzenschal.

Morio trug eine schwarze Jeans zu einem Tanktop aus schwarzem Netzstoff, darüber eine Lederjacke. Er hatte sein Haar aus dem ewigen Pferdeschwanz befreit, und es hing ihm seidig, glänzend und in ganz sachten Wellen auf den Rücken. Die beiden gaben ein umwerfendes Paar ab. Genau genommen sah Camille mit jedem ihrer Männer phantastisch aus. Alle mochten es ein bisschen extravagant und passten zusammen wie ein Puzzle.

Ich hatte immer noch das an, was ich beim Aufstehen angezogen hatte: eine indigoblaue Jeans, hauteng, und einen seidenen Rollkragenpulli in einem hellen Blau. Der verbarg meine Narben, ohne allzu warm auszusehen. Die Hitze - oder auch Kälte - hätte mir nichts ausgemacht, aber so etwas half mir, als normal durchzugehen, wenn ich mich unter Men sehen befand. Dazu trug ich ein Bolero-Jäckchen und kniehohe Schnürstiefel mit Bleistiftabsätzen. Ich nahm die Kamera, hielt sie so, dass es hoffentlich professionell wirkte, und folgte Camille und Morio die Stufen hinauf zur Haustür.

Ich war froh, dass ich zufällig auf meine Füße schaute, als die Haustür aufging, denn sonst hätte ich mich womöglich verraten. Es war Larry, der da stand und uns hereinbat. Als ich seine Stimme hörte, setzte ich eine nichtssagende Miene auf und sah ihn nur ganz kurz an, aber er hatte ohnehin keinen Blick für mich übrig. Der hing nämlich an Camilles Brüsten, und Larry machte ein Gesicht wie ein kleiner Junge am Schaufenster eines Süßwarenladens. Ja, ihre Bewaffnung war schon beeindruckend.

»Ich bin Camille, die Reporterin. Ich möchte gern mit Harold Young sprechen. «

»Ja, natürlich ... kommen Sie rein.« Er führte uns in ein riesiges Wohnzimmer. Aber Größe ist eben nicht alles. Es war nur allzu offensichtlich, dass hier ein Haufen College-Studenten wohnte. Pizzaschachteln und Kartons vom China-Restaurant waren über die Tische verstreut, ein Kickertisch stand in einer Ecke, Penthouse-Poster: hingen an den Wänden, und ein Durcheinander von Büchern und Unterlagen bedeckte einen langen Tisch, der aussah, als wäre er aus einer Bibliothek gestohlen worden.

Larry wies aufs Sofa. »Schmeißt den ganzen Kram einfach auf den Boden«, sagte er. »Wollt ihr ein Bier oder so?«

Camille murmelte eine höfliche Ablehnung, Morio ebenfalls. Ich schüttelte den Kopf und hielt die Kamera hoch. »Ich brauche eine ruhige Hand«, sagte ich ganz locker.

»Ha«, sagte Larry und sah mich zum ersten Mal an. Er wollte den Blick schon wieder abwenden, doch dann hielt er inne und glotzte mich an. Ich erstarrte. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck kam mir seltsam vor. Beinahe als hätte er mich erkannt. Aber das war unmöglich. Ich hatte gestern sorgfältig darauf geachtet, in meinem Versteck nicht gesehen zu werden. Camille sah ihn an, als spürte auch sie etwas Seltsames, und griff rasch ein, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

»Danke, dass ihr euch die Zeit nehmt, mit uns zu reden. Wie gesagt, ich bin Camille, und das ist Morio. Und unsere Kamerafrau Menolly.« Sie blickte sich um. »Wird Mr. Young denn auch dazukommen? Soweit ich weiß, ist er doch der Vorsitzende von Dantes Teufelskerlen.«

Larrys Blick huschte trotzdem kurz zurück zu mir, doch dann wandte er sich wieder Camille zu. »Ja, er kommt gleich runter. Ich bin Larry Andrews. Ich werde bei dem Interview dabei sein, wenn Sie nichts dagegen haben. Harold wollte es so. «

»Natürlich, kein Problem«, entgegnete Camille glatt.

»Ihr Mädels kommt also aus der Anderwelt, ja?« Er sabberte beinahe. Ich bemerkte, dass Camille, der es normalerweise nichts ausmachte, angestarrt zu werden, ganz leicht ihren Glamour herunterfuhr. Morio sah auch nicht besonders glücklich aus. »So ist es«, sagte ich. »Camille und ich sind vor etwa einem Jahr Erdseits gekommen, um die Kultur zu studieren, vor allem die Bildungsstrukturen. So sind wir auf die Idee gekommen, eine Story über euch für Front Line zu schreiben, die Feen-Zeitung, für die wir arbeiten.«

Larry sah mich an, und wieder war da dieser Funke des Wiedererkennens. Ich runzelte die Stirn. Wie zum Teufel hätte er mich sehen können? Ich wusste, dass ich mich die ganze Zeit über, während ich in seinem Zimmer gewesen war, versteckt gehalten hatte. Vielleicht wurde ich ja allmählich paranoid.

In diesem Moment nahm ich eine Bewegung an der Tür des Wohnzimmers wahr, und da stand ein schlaksiger junger Mann. Er war durchschnittlich groß und etwa Mitte zwanzig, mit sehr kurz geschnittenem Haar und Bartstoppeln von der gleichen Farbe wie meine Zöpfe. Er trug eine Brille mit schwarzem Metallrahmen, eine zerrissene Jeans, die nur allzu teuer aussah, und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Du mich auch«. Er sah aus wie der typische Studenten-Computerfreak. Bis auf die Tatsache, dass seine Energie bestialisch nach Dämonen stank.

Ich hörte, wie Camille nach Luft schnappte, dann legte sie die Hand an die Kehle, lächelte gezwungen und stand auf. »Harold, nehme ich an? Harold Young?«

Er musterte uns, kam mit einem dünnen Lächeln, das alles andere als freundlich war, zu uns herüber und streckte ihr die Hand hin. Camille starrte sie einen Augenblick lang an, ehe sie sie ergriff.

»Ja, ich bin Harold. Du bist Camille, die Reporterin?« Er begaffte sie mit einem schmierigen, besitzergreifenden Blick.

»Ah ... ja.« Camille versuchte, den Händedruck zu beenden, aber Harold ließ sie nicht los, bis sie ihm ihre Hand entriss. Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste hämisch, als sie sich die Hand am Rock abwischte. Es sah aus, als merkte sie selbst nicht, dass sie das tat.

Morio straffte die Schultern, und ich legte ihm eine Hand auf den Arm. Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Diese kleine Geste blieb nicht unbemerkt. Harolds Blick fuhr prüfend über Morio, und dann wandte er sich mir zu, ohne den Yokai weiter zu beachten.

»Und du? Bist du auch eine Fee?«

Ich nickte. »Mein Name ist Menolly.« Ich streckte ihm entschieden die Hand hin, denn ich wollte feststellen, ob ich etwas an ihm spüren konnte. Außerdem wollte ich es ihm heimzahlen. Als er meine Hand ergriff, drückte ich zu. Fest. Er japste und versuchte loszulassen, aber ich hielt einen Augenblick länger fest, als nötig war, und drückte noch einmal zu, während ich ihm ein breites Lächeln schenkte. O ja, dieses Treffen würde ganz traumhaft verlaufen, keine Frage. Wie das am O. K. Corral. Harold starrte seine Hand an, dann mich, und bedeutete uns schließlich, wieder Platz zu nehmen. Vorsichtig setzte er sich uns gegenüber auf den Sessel, von dem Larry eben aufgestanden war. Larry setzte sich neben ihn auf den gepolsterten Hocker, und die Hierarchie war augenblicklich klar. Harold war hier das hohe Tier, kein Zweifel.

Camille holte ihr Notizbuch hervor und wies mit einem Nicken auf mich. »Wenn ihr nichts dagegen habt, wird Menolly unser Interview filmen. «

»Nein.« Harold schüttelte den Kopf. »Keine Filmaufnahmen. «

»Tja, dann.« Camille runzelte die Stirn und bedeutete mir, den Camcorder wegzustecken. »Würdest du mir etwas über die Entstehung von Dantes Teufelskerlen erzählen? Warum und wann hast du den Club gegründet?«

Harold stieß ein lautes Schnauben aus. »Ich habe ihn nicht gegründet. Mein Vater hat ihm angehört, und mein Onkel. Ich bin in meinem ersten Studienjahr eingetreten. «

»Warum nicht eine der anderen Studenten-Verbindungen?«

Camilles Augen blitzten, und ich sah ihr an, dass sie ihn aufstacheln wollte. Und das gelang ihr auch.

Harold lachte heiser. »Weil die Schafe an diesem College eine Herde von Idioten sind und ich nicht die Absicht habe, mich ihren beschissenen Vereinen anzuschließen. Ich bin Vorsitzender von Dantes Teufelskerlen, weil die Universität von einem Haufen Schwachsinniger geleitet wird. Weil wir entschlossen sind, in dieser Ecke der Welt als Einzige zu überleben, wenn es losgeht.«

Er grinste uns betörend an, und in diesem Lächeln sah ich die unverwechselbaren Kennzeichen eines Raubtiers. Harold Young war gefährlich. Womit er wohl im Lauf der Jahre so herumgespielt hatte?