Kapitel 23

 

Carters »Büro« und Wohnung lag am Broadway in der Nähe der Gegend, wo sich die Junkies tummelten. Ein Metallgeländer verhinderte, dass Leute in den zementierten Lichtschacht fielen. Ich spähte über das Geländer auf die Treppe, die zur Höhle des Dämons hinunterführte. Wenn Carter nicht gewesen wäre, da war ich ziemlich sicher, hätten sich auf dieser Treppe die Nutten und Drogensüchtigen nur so gedrängelt, um ihre Geschäfte im Schutz des Schachts zu tätigen. Aber eine beinahe greifbare Energie umgab die Stufen, eine deutliche Warnung. Komm nicht näher, oder ich fress dich.

Vanzir blickte sich um, doch der Bürgersteig auf unserer Straßenseite war menschenleer. An der Ecke gegenüber lehnte eine Nutte in einem Pailletten-Minikleid und Plateaustiefeln an einer Häuserwand. Sie sah gelangweilt aus, wie eine Go-GoTänzerin, die aus einer Siebziger-Retro-Show entlaufen war. Ich fragte mich, wie alt sie sein mochte; sie hätte dreißig sein können, aber auch fünfzig. Wie lange war sie schon dabei, und wie oft hatte sie versucht, dem Gewerbe zu entkommen?

Glücklich sah sie jedenfalls nicht aus. Vielleicht sollten wir ihr eine Karte vom Green Goddess Women's Shelter geben, dem Frauenhaus von Lindsey Cartridge. Die halfen Frauen zwar in erster Linie, von gewalttätigen Ehemännern und Freunden wegzukommen, aber sie arbeiteten auch mit Reclamation zusammen, einer Hilfsorganisation für Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollten.

Drei unfertig lackierte, unüberhörbar frisierte Autos rasten viel zu schnell an uns vorbei. Gelangweilte Teenager, zweifellos. Ich warf einen Blick auf meinen Jaguar, der direkt vor Carters Haus stand.

»Meinst du, wir können unsere Autos hier einfach unbewacht stehen lassen? Die Gegend sieht nicht vertrauenerweckend aus«, sagte ich.

Vanzir nickte. »Ja, kein Problem. Carter hat eine Hexe engagiert, die vor seinem Haus einen Zauber bis auf die Straße und über die nächsten paar Parkplätze gelegt hat. Kein Diebstahl, keine Raubüberfälle. Wenn ein Dieb sich diesem Kreis auf drei Meter nähert, flippt er aus. Wenn du mal siehst, wie jemand sich plötzlich sehr unwohl zu fühlen scheint und hastig die Straßenseite wechselt, um dieses Haus zu umgehen, kannst du sicher sein, dass derjenige keine guten Absichten hegt. «

»Hm«, sagte Delilah. »Wo können wir so einen Zauber für unser Haus kaufen? Wenn wir einen kriegen könnten, der das ganze Grundstück abdeckt ... «

»Dafür müsstet ihr Unsummen hinblättern. Der Zauber muss einmal im Monat neu gestärkt werden, und glaubt mir, diese Hexe ist nicht billig«, erklärte Vanzir. »Aber dafür funktionieren ihre Zauber. Immer.« Er zwinkerte Camille zu, aber es klang trotzdem nach fieser Kritik.

Camille zog eine Augenbraue hoch. »Nicht so stürmisch, Traumtänzer. Sind wir heute ein bisschen passiv-aggressiv drauf, ja?«

Er starrte sie einen Moment lang an und lachte dann schnaubend. »Du bist gut. Du begreifst schnell.« Er wies mit dem Daumen auf die Tür.

Vanzir führte uns die Treppe hinab und klopfte viermal an die Tür. Gleich darauf hallte ein leises Klicken durch den Schacht, und die Tür ging auf. Wir folgten dem Dämon nach drinnen. Ich war noch nie in der Behausung eines Dämons gewesen und wusste nicht, womit ich rechnen sollte, aber was auch immer ich insgeheim erwartet hatte, das war es nicht. Der Raum, den wir betraten, war groß, und mehrere Türen führten nach hinten zur Wohnung. Es war düster hier; die Fenster am oberen Rand der Kellerwand waren geschwärzt. Kein Wunder, dass ich sie nicht bemerkt hatte, als wir die Treppe hinuntergestiegen waren. Der milde Schein einer Schirmlampe fiel auf die Rot- und Goldtöne des Stoffs, mit dem ein Sofa und ein passender Ohrensessel bezogen waren. Die beiden Beistelltischchen daneben waren aus satt schimmerndem Walnussholz, und die Möbel strahlten dieselbe Atmosphäre aus wie die Einrichtung von sehr alten Vampiren. Die meisten Gegenstände schienen Antiquitäten zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass Carter schon sehr, sehr lange Erdseits war, jedenfalls nach menschlichen Maßstäben.

Die Wände waren mit Wandbehängen bedeckt, die Kriege und Schlachtenszenen zeigten. Ein riesiges Bücherregal nahm eine ganze Wand ein, und es war von oben bis unten mit Büchern in allen Formaten und Größen vollgestopft. Unser Dämon las gern, so viel stand fest.

Ein Schreibtisch stand rechts von einer der hinteren Türen, so dass derjenige, der daran saß, jeden sah, der das Gebäude betrat oder verließ. Und hinter dem Schreibtisch - ebenfalls aus dunklem Walnussholz - saß ein unauffälliger Mann, den ich auf Anfang dreißig geschätzt hätte. Er hatte welliges Haar, fast genau meine Haarfarbe, und seine Augen waren wie Vanzirs, ein Wirbel von Farben, die man unmöglich benennen konnte. Nur dass diesem Dämon zwei spitze, gewundene Hörner aus dem Kopf wuchsen, die mich ein bisschen an die einer Impala erinnerten; sie waren rückwärts geschwungen, majestätisch und glänzend poliert. Der Dämon selbst war makellos gepflegt, obwohl sein Haar auf den ersten Blick wie eine wilde Mähne aussah. Aber das war eine sorgsam gestylte Mähne, zweifellos von reichlich Haarspray festgehalten.

Als er aufstand und um den Schreibtisch herumkam, sah ich, dass er am Stock ging. Sein rechtes Knie steckte in einer Schiene. »Willkommen. Ich nehme an, Vanzir hat euch bereits gesagt, dass ich Carter heiße.« Mit einer anmutigen, ausladenden Geste wies er auf das Sofa. »Wollt ihr euch nicht setzen, bitte?«

Carter trug eine burgunderrote Smokingjacke über einer makellos sauberen schwarzen Hose. Wir hingegen starrten vor Blut und Dreck, und zweifellos klebten hier und da ein paar Stückchen Ghul-Eingeweide.

»Wirklich? Wir könnten Ihnen Flecken aufs Sofa machen.«

Er lachte, und seine Stimme klang melodisch. »Bitte, nicht so förmlich. Und mach dir wegen des Sofas keine Gedanken. Alle paar Wochen kommt eine Reinigungsfirma ins Haus. Ich empfange eine ganze Reihe von Gästen, die nicht begreifen können, warum sich jemand waschen sollte.«

Wir ließen uns auf dem Sofa und einigen Stühlen nieder, die im Raum verteilt standen, und Carter schnippte mit den Fingern. Eine bezaubernde junge Frau, zart und zierlich und möglicherweise zum Teil chinesischer Abstammung, betrat lautlos den Raum. Still wartete sie ab.

»Kim, bring uns bitte Tee. Und«, er warf mir einen Blick zu, »einen Kelch warmes Blut.« Als ich protestieren wollte, winkte er ab. »Unsinn. Nicht der leiseste Zweifel soll je auf meine Gastfreundschaft fallen. Nicht, solange ich lebe.«

Er setzte sich auf den Stuhl neben mir, lehnte sich zurück und stützte seinen Gehstock an die hölzerne Armlehne. »Vanzir gab mir zu verstehen, dass ihr mit einem Karsetii-Dämon zu kämpfen habt.« Er hörte sich beinahe begierig an.

Ich warf den anderen einen Blick zu. Camille nickte leicht. »Ja. Wir haben das Mutterwesen vertrieben, aber ich glaube nicht, dass sie endgültig fort ist. Wir haben allerdings eine Vermutung, wer sie beschwört, und wir wollten dich fragen, ob deine Aufzeichnungen Hinweise auf dämonische Aktivität in einem bestimmten Stadtgebiet in den letzten, sagen wir, etwa einhundert Jahren enthalten.«

Carter sah mir ruhig in die Augen. Sein Blick wirkte alt in diesem recht jungen Gesicht, und ein wenig müde. »Ich habe mich hier niedergelassen, als Seattle noch sehr jung war. Ich kam von der Ostküste hierher und baute eine Druckerei auf. Einige der ersten Zeitungen in dieser Stadt habe ich gedruckt, dann habe ich beschlossen, langsam zu verschwinden und mich als jemand anderes wieder neu zu erfinden. Damals wäre die Bevölkerung sicher nicht besonders freundlich zu mir gewesen, wenn sie herausgefunden hätte, dass ich ein Dämon bin. «

»Dann bist du schon sehr lange hier«, sagte ich. Carter faszinierte mich. Ich wusste ja, dass er ein Dämon war, aber er fühlte sich nicht an wie irgendein anderer Dämon, der mir je begegnet war - Vanzir und Rozurial eingeschlossen. Ich fragte mich, wie seine Art genau hieß, aber es erschien mir unhöflich, danach zu fragen.

»Ja, ich habe zugesehen, wie die Stadt gewachsen ist und sich entwickelt hat. Meine Druckerei lag in Seattle Underground, ehe sie unterging.« Carter lächelte strahlend. Gute Zähne hatte er jedenfalls. »Ich kann meine Hörner verbergen, wenn ich merke, dass sich ein Fremder nähert, aber ich spreche im Allgemeinen mit sehr wenigen Leuten und habe mich an ein Leben in Abgeschiedenheit gewöhnt. «

»Womit verdienst du denn jetzt deinen Lebensunterhalt?« Morio lehnte sich zurück und musterte Carter aufmerksam. Ich beobachtete den Fuchsdämon - er wirkte vorsichtig, aber nicht verschlossen. Morio hatte gute Instinkte, denen auch ich traute. »Ich betreibe eine Recherche-Agentur übers Internet. Ich bin der virtuelle Forschungsassistent einer ganzen Reihe von Professoren und Wissenschaftlern. Ich verdiene mehr als genug, um davon zu leben. Und niemand belästigt mich.«

In diesem Moment kam die entzückende Kim zurück, ein Tablett mit Tassen und Untertassen und einer Teekanne in den Händen. Sie hatte auch an den Kelch voll Blut gedacht, den ich etwas verlegen annahm. Ich trank eigentlich nicht gern vor anderen, weil ich wusste, dass manchen Leuten davon übel wurde, aber ich wollte nicht unhöflich erscheinen. Ich schnupperte an dem Blut. Frisch. Meine Reißzähne fuhren langsam aus, denn in meinem Magen wuchs der Hunger, und ich trank rasch einen Schluck und konzentrierte mich bewusst wieder auf die Selbstbeherrschung.

Während Kim den anderen ihre Teetassen reichte, beob achtete ich, wie Carter ihr dabei zusah. Erst hatte ich sie für sein Dienstmädchen gehalten, aber da war mehr als nur ein Dienstverhältnis. Er sprach sehr sanft und freundlich mit ihr, obwohl er ganz selbstverständlich Befehle erteilte.

Als sie fertig war, sagte er: »Danke. Geh jetzt zu Bett und schlaf gut.« Sie neigte den Kopf vor ihm und verließ, immer noch stumm, rückwärts den Raum. Neugierig neigte ich den Kopf zur Seite. »Du fragst dich, was sie hier zu suchen hat, nicht wahr?«, bemerkte Carter.

Verblüfft nickte ich. »Ja, um ehrlich zu sein. Sie ist ein Mensch? «

»Ja, aber nur zur Hälfte. Ihre Mutter war ein Dämon -ein Succubus, aber ein schwacher. Ihr Vater war ein VBM. Kims Mutter konnte das Kind nicht gebrauchen und wollte es gerade auf dem Markt verkaufen, als ich es zufällig bemerkt habe. Kim ist jetzt zweiundzwanzig, also war das vor ... hm ... etwa einundzwanzig Jahren. Mehrere der Dämonen, die damals auf sie geboten haben, waren ... abscheulich. Ich wusste, dass die Kleine bei ihnen ein kurzes, elendes Leben haben würde, also habe ich sie überboten, Kim gekauft und mit hierhergebracht.« Alle starrten ihn an. Morio nickte. Camille und Delilah wirkten ein wenig schockiert. Rozurial hörte einfach nur zu.

»Hattest du denn vor, sie zu behalten?«, fragte ich. »Nein, eigentlich nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ursprünglich wollte ich sie vor einer Kirchentür ablegen, doch dann wurde mir klar, dass ihre halb dämonische Natur sie zum Untergang verurteilte, weil die Menschen versuchen würden, sie als Ihresgleichen großzuziehen. Sie würde entweder in einer Irrenanstalt landen oder im Gefängnis. Also habe ich ein Kindermädchen eingestellt und sie selbst großgezogen. Für mich ist sie wie meine eigene Tochter. Kim ist stumm; sie hat noch nie ein Wort gesprochen, und wir wissen nicht, warum. Der Heiler, den ich für sie engagiert habe, glaubt, es könnte an einer genetischen Mutation aufgrund ihrer gemischten Abstammung liegen. Aber sie beherrscht die Zeichensprache und hört ganz normal. Ich ermuntere sie schon lange, aufs College zu gehen, aber sie bleibt lieber zu Hause und kümmert sich um die Wohnung.«

Kim sah alt genug aus, um seine Frau zu sein, doch falls er solche Gedanken ihr gegenüber hegte, waren sie ihm jedenfalls nicht anzumerken.

»Über welches Gebiet braucht ihr denn Informationen? Die Stadt als Ganzes oder ein bestimmtes Viertel?« Carter trank seinen Tee aus, erhob sich und trat an ein Bücherregal, wo er den Blick über die Titel gleiten ließ, bis er ein großes, in Leder gebundenes Buch herausholte. Er schlug es auf und legte es auf den Couchtisch. Das Buch war ein Atlas voller Hologramme. Stadtpläne von Seattle. Zweifellos magisch.

Ich nannte ihm die nächste Straßenkreuzung bei Harolds Haus. Mehr brauchte Carter im Moment nicht zu wissen. Er schien in Ordnung zu sein, aber ich fragte mich, warum er sich dafür entschieden hatte, Erdseits zu leben, und das so lange. Man konnte nie wissen. Bei Dämonen durfte man einfach keinerlei unnötiges Risiko eingehen.

Carter betrachtete den Stadtplan und strich mit dem Zeigefinger an Straßen entlang. Dann hielt er inne, betrachtete die Seite mit einem eigenartigen Stirnrunzeln und humpelte zu einem Aktenschrank neben seinem Schreibtisch. Er sah eine breite Reihe säuberlich aufgehängter Mappen durch, holte eine heraus, kehrte damit zu seinem Stuhl zurück und reichte mir die Akte.

»Ich glaube, diese Unterlagen müssten die gewünschte Information enthalten«, sagte er und presste grimmig die Lippen zusammen. »Ich habe das Gefühl, dass du nach einem bestimmten Namen suchst, und auch den wirst du vermutlich darin finden.«

Ich schlug die Mappe auf den Knien auf, und Camille und Delilah spähten mir über die Schultern. Der Hefter enthielt säuberlich getippte Berichte, alte Zeitungsausschnitte - ein paar davon aus dem Seattle Tattler, fiel mir auf - und einige wenige Fotos. Ich blätterte rasch die Akte durch.

Zwei Fotos von etwas, das aussah wie ein rotäugiger, gehörnter Troll und offenbar in einer winzigen Parkanlage herumwühlte. Ein verschwommenes Foto, das an die Ghule erinnerte, denen wir eben auf dem Friedhof begegnet waren, nur dass diese hier durch einen Garten liefen und - hallo? Was war denn das? Ein Foto von Harolds Haus mit einer dunklen Wolke darüber. Allerdings war das gar keine Wolke, sondern irgendeine Art dämonische Ausdünstung. Obwohl das Foto ein Datum von vor zwanzig Jahren trug, konnte ich spüren, wie die Aura dieses Nebels noch von dem Foto ausstrahlte.

Langsam reichte ich das Bild an Camille weiter und nahm mir den dicken Teil mit den Berichten vor. Ich überflog sie und sah, dass auf jedem Dokument Datum, Adresse und Art der Beobachtung festgehalten waren. Harolds Adresse tauchte auf sieben Seiten auf, und die Daten erstreckten sich fast bis 1920 zurück. Die beschriebenen Ereignisse reichten von der Wahrnehmung milder dämonischer Auren bis hin zu einer Periode in den sechziger Jahren, in denen derjenige, der diese Aufzeichnungen gemacht hatte, eine Häufung magischer Spannungsspitzen bemerkt hatte. Was mich zu der Frage führte ...

»Carter, warum hast du das alles gesammelt? Diese vielen Berichte?«

Sein Blick huschte zu mir herüber, und seine milde Art fiel von ihm ab. Ich blickte plötzlich in einen Strudel wirbelnder Farben und verlor mich rasch darin. Zum ersten Mal seit meinen frühesten Tagen als Vampir rang ich unwillkürlich nach Luft, während ich versuchte, seine Energie von mir zurückzudrängen. Sie überrollte mich wie eine Woge, riss mich mit sich und zwang mich, ihr zu folgen. Ich musste zu ihm hingehen. Ich stand auf, trat zögerlich einen widerwilligen Schritt vorwärts, und dann standen Morio und Camille zwischen dem Dämon und mir.

»Zieh sie hübsch wieder ein, Kumpel, sonst ist sie weg«, erklärte Camille. »Ich kann spüren, was du da tust, und wenn du das noch einmal machst - mit irgendeinem von uns -, bist du tot. «

»Spiel nicht mit mir, kleines Mädchen«, sagte er in neutralem Tonfall. »Du besitzt nicht die Macht, mich aufzuhalten.« Doch der Zwang, ihm zu gehorchen, löste sich, und Carter war wieder der milde, sanfte Dämon, den wir bisher erlebt hatten.

»Was zum Teufel sollte das?« Ich hob die Hand und hätte ihn am liebsten geschlagen. Die letzte Person, die mich zu irgendetwas gezwungen hatte, war inzwischen Staub und Asche. »Ich lasse mich nicht gern zwingen. Kapiert? Und du solltest uns niemals, niemals unterschätzen. Wir sind stärker, als wir aussehen

Carter hob die Hand. »Nicht gleich hysterisch werden. Ich habe nicht die Absicht, dich zu irgendetwas zu zwingen. Ich wollte nur deine Frage beantworten. Es muss genügen, dass ich Dinge wahrnehme. Ich beobachte. Ich führe die Aufzeichnungen. Und ich unterfliege Schattenschwinges Radar. Hast du das verstanden?«

Nicht so ganz, aber seine kleine Demonstration sagte mir, dass er keine von Schattenschwinges Marionetten war. Nein, er war sogar noch viel älter, als ich anfangs gedacht hatte, seine Macht konnte sich mit der des stärksten Vampirs messen, der mir je begegnet war. Und doch saß er hier, in einer trübseligen Kellerwohnung in einem üblen Viertel von Seattle, mit einer Pflegetochter namens Kim und einer Schiene am Bein. Carter war sehr viel mehr, als man ihm oberflächlich ansah, aber er würde seine Geheimnisse nicht so leicht enthüllen. Und aus irgendeinem Grund war er bereit, uns zu helfen.

Ich griff nach den Berichten. »Könnten wir Kopien davon haben?«

Er stand auf und streckte die Hand aus. »Gib sie mir.« Ich reichte sie ihm, und er humpelte geschickt zu einem All-inone-Drucker auf seinem Schreibtisch. Während er die Unterlagen kopierte, beobachtete ich ihn und versuchte dahinterzukommen, was zur Hölle er eigentlich war und warum er uns half. Ein Blick auf Vanzir sagte mir, dass er nicht freiwillig mit dieser Information herausrücken würde, so er denn Bescheid wusste. Wir konnten ihn zwingen, es uns zu sagen, und falls es nötig sein sollte, würden wir das auch tun, aber jetzt noch nicht, und nur falls es wirklich nicht anders ging. Wer Macht besitzt, darf sie nicht missbrauchen. Und was Vanzir anging, so besaßen wir die Macht über Leben und Tod. Carter kam mit einem Stapel Unterlagen zurück. »Hier. Nehmt sie und tut damit, was immer euch nützen könnte. Seid vorsichtig. Das Böse kennt viele Verkleidungen, und nicht alles, was böse erscheint, will euren Tod. Dennoch ist Paranoia im Augenblick euer bester Schutz.«

Vanzir erhob sich wie auf ein unhörbares Stichwort hin. »Ich glaube, mehr können wir hier nicht mehr erreichen. «

»Haben wir alles, was wir brauchen? Wie identifizieren wir denn manche dieser Kreaturen, die in den Berichten erwähnt sind?« Ich blätterte sie noch einmal durch und stellte fest, dass ich etwa die Hälfte der Geschöpfe, die hier genannt wurden, nicht einmal dem Namen nach kannte.

»Müsst ihr denn mehr wissen, als dass diese bestimmte Gegend seit fast hundert Jahren konstant die stärkste dämonische Aktivität in ganz Seattle aufweist? Ich rate euch, die Vermisstenmeldungen eurer Polizei daraufhin durchzusehen, wie viele Frauen im Lauf der Jahrzehnte nie von einem Spaziergang in dieser Gegend zurückgekehrt sind. Gebraucht euren Verstand«, sagte Carter und erhob sich. »Manchmal braucht man nur zu wissen, dass etwas geschieht, ohne sämtliche Details kennen zu müssen.«

Er geleitete uns zur Tür, und wir fanden uns recht plötzlich auf dem Bürgersteig wieder, höflich, aber flott hinauskomplimentiert.

Ich wandte mich Vanzir zu. Er hob leicht das Kinn an, als forderte er mich dazu heraus, zu fragen, was ich fragen wollte. Während ich mich auf der Straße umsah, strich eine kühle Brise vorbei, und ich hörte darin murmelnde, flüsternde Stimmen. Die Nacht hatte Augen und Ohren, und nicht alle von ihnen waren uns freundlich gesinnt.

»Fahren wir«, sagte ich. »Am besten treffen wir uns in der Bar und besprechen dort, was wir eben gehört haben.« Ohne ein weiteres Wort verteilten wir uns auf die Autos und fuhren davon, aber an Carter musste ich noch lange danach denken.

Als wir uns in meinem Büro im Wayfarer versammelten, klopfte Luke an die Tür. Ich bedeutete den anderen, still zu sein, und bat ihn herein. Werwölfe hatten ein unglaublich scharfes Gehör. Er musste nicht unbedingt mit anhören, worüber wir sprachen. Das Bartuch hing ihm locker über der Schulter, aber ich sah ihm an, dass er nervös war. Auch er musste den nahenden Vollmond spüren.

»Was gibt's?« Luke unterbrach mich eigentlich nie, wenn er glaubte, ich hätte zu tun, also musste etwas passiert sein. »Es gibt Ärger, Chefin.« Er deutete auf den vorderen Bereich der Bar. »Da draußen sind Freiheitsengel, die Feenmaiden belästigen.«

O Scheiße. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war eine Truppe selbsternannter Sittenwächter, die in meiner Bar meine Gäste anging. Ich wandte mich Camille zu. »Ruf Chase an, er soll sofort hierherkommen.« Während ich Luke nach draußen folgte, konnte ich schon laute, streitlustige Stimmen hören.

Sie waren zu dritt. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Biker, aber die Lederjacken waren aus dem Supermarkt-Sonderangebot, die Jeans nagelneu und ungetragen, und die Bartstoppeln auf ihren Gesichtern nicht mehr als zehn Stunden alt. Der Geruch von staubigem Papier, Toner und schaler Büroluft hing an ihnen wie eine Wolke alten Zigarrenrauchs. Diese Männer waren keine Schläger, wollten aber für welche gehalten werden. Sie hatten vielleicht schon ein paarmal mitgemacht, wenn jemand drangsaliert wurde, aber ich hätte meinen rechten Reißzahn darauf verwettet, dass noch keiner von ihnen je einen richtigen Kampf erlebt hatte. Noch.

Die Gruppe belästigte zwei Feenmaiden, die an einem der Tische ganz vorn saßen. Die Mädchen mochten sich aufgedonnert haben, um Feen anzuziehen, aber das war ja wohl kein Verbrechen. Jedenfalls nicht in meiner Bar. Und diese Feenmaiden hier bestellten zwar immer erbärmlich wenige Drinks pro Abend und geizten auch noch mit dem Trinkgeld, aber sie waren immerhin meine Stammgäste.

»Gibt es hier irgendein Problem, meine Herren?« Ich schlenderte auf das Trio zu und schob mich vor die Mädchen. »Ich würde es sehr ungern sehen, wenn sich jemand in meiner Bar bedroht fühlen würde.«

Einer der Männer - offenbar der Anführer - trat vor und beugte sich so dicht zu mir herab, dass er mir seinen schalen Bieratem ins Gesicht blies. Anscheinend hatten sie noch nichts davon gehört, dass der Wayfarer einer Vampirin gehörte, denn sonst wäre er nicht so dumm gewesen.

Luke stieß ihn sofort zurück, verschränkte dann die Arme vor der Brust und baute sich neben mir auf. Ich spürte, wie er bebte, und sein Wolfsgeruch stieg dicht unter die Oberfläche. Der Vollmond war schon so nah, dass der Stress ihm zu schaffen machte. Werwölfe waren im Allgemeinen sowieso Hitzköpfe.

Ich warf ihm einen Blick zu.

»Luke, du wolltest doch heute früher Schluss machen. Ich kümmere mich schon darum. «

»Ich lasse dich nicht allein ...« Seine Augen blitzten gefährlich auf und begannen, die Farbe zu wechseln.

»Doch, das wirst du. Ich bin deine Chefin. Ich befehle dir, sofort nach Hause zu gehen.« Ich ließ die Maske vor meinem Glamour fallen und starrte den Werwolf an. Luke hielt meinem Blick stand, aber nur eine Sekunde lang. Ich war das Alphatier in der Bar. Ich war sein Chef.

Er schlug die Augen nieder. »Na schön, aber das gefällt mir nicht.« Er stapfte zur Bar hinüber, klatschte das Poliertuch auf den Tresen und ging nach hinten. Ich nahm an, dass er zum Hintereingang wollte, um nicht etwa weiteren Freiheitsengeln zu begegnen und eine Prügelei auszulösen. Sobald er außer Sicht war, wandte ich mich wieder den Männern zu.

»Was zum Teufel wollt ihr? «

»Hören Sie mal, kleine Lady, vielleicht suchen Sie sich lieber woanders einen Job. Mit diesem Abschaum hier herumzuhängen, kann nicht gut für Ihre ...« Er verstummte und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Moment mal, haben Sie gerade gesagt, dass die Bar Ihnen gehört?« Er warf den anderen kopfschüttelnd einen Blick zu. »Nein, das kann nicht sein. Ich habe gehört, dass der Besitzer ...«

Ich öffnete den Mund, ließ meine Reißzähne ausfahren und lächelte ihn in boshaftem Vergnügen an. »Was ist? Ein Vampir? Fast richtig, Kumpel. Eine Vampirin. Also, was zum Teufel wollt ihr in meiner Bar, und warum belästigt ihr diese Frauen? Oder brauche ich das gar nicht erst zu fragen?«

Der Superheld straffte die Schultern, schob die Daumen durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans und betrachtete mich herablassend. »Du bist ein Vampir? Aber du bist doch nur eine halbe Portion. Wir sind hier, um die Sache der Erdgeborenen zu vertreten und die irregeleiteten Schäfchen wieder zur Vernunft zu bringen. Dies ist unsere Stadt und unsere «Welt, und wir werden dafür sorgen, dass das auch so bleibt. «

»Heilige Scheiße. Glaubst du eigentlich den Müll, den du von dir gibst?« Camilles Stimme hallte von der Tür zu meinem Büro durch die ganze Bar, und mir wurde klar, dass Luke den anderen gesagt haben musste, was hier vor sich ging.

»Ich mache das schon«, sagte ich, aber ehe ich noch ein Wort herausbrachte, wurde ich von Roz und Vanzir flankiert, und Morio, Camille und Delilah fächerten sich neben uns auf, so dass wir einen Halbkreis bildeten.

»Ich hab da einen Vorschlag«, sagte ich und stupste dem Anführer mit dem Zeigefinger an die Brust, so dass er rückwärts gegen seine Kumpels taumelte. »Ihr schafft eure jämmerlichen Hintern hier weg, ehe ich euch rauswerfe. Und wenn ich euch je wieder in der Nähe meiner Bar sehe, lasse ich euch festnehmen. Und wenn das nicht hilft, statte ich euch einen Besuch ab, mitten in der Nacht, während ihr schlaft, und sorge persönlich dafür, dass ihr meine Bar in Ruhe lasst.«

Mit weit aufgerissenen Augen wichen er und seine Freunde zurück. Seine Stimme nahm einen drohenden Tonfall an. »Du bist eine Irre. Du und alle von deiner Art. Und wir mögen keine Monster. «

»Und ich mag keine Wiederholungstäter«, sagte Chase, der eben mit zwei Polizisten zur Tür hereinkam. »Toby, ich habe es Ihnen schon mal gesagt, Sie gehen zu weit, und eines Tages werden Sie noch im Gefängnis landen.«

Ich warf Chase einen Blick zu. »Toby? «

»Toby und seine Jungs arbeiten für White Castle Insurers. Anscheinend haben sie nicht ganz zu Ende gedacht, was eine Verhaftung wegen eines Hassverbrechens für ihre weitere Karriere im Versicherungswesen bedeutet.« Chase blieb ganz ruhig und gelassen und bedeutete mir nur mit einem knappen Nicken, zurückzutreten. »Ich übernehme ab jetzt die Sache. Wir wollen doch alle schön auf der richtigen Seite des Gesetzes bleiben.«

Oh, er war wirklich gut, dachte ich und sah zu, wie seine Männer das plötzlich recht folgsame Trio zur Tür hinausbugsierten. Chase wandte sich noch einmal zu mir um. »Ach, übrigens, der Windige Willy ist wieder aufgetaucht, heil und ganz. Er war zu Besuch bei seiner Schwester.« Als die Tür hinter ihm zufiel, zog ich die Reißzähne wieder ein und drehte mich zu den anderen um.

»Danke für die Unterstützung. Ich musste Luke wegschicken ... «

»Ja, er stand kurz davor, sich zu verwandeln«, sagte Delilah. »Es lag schon so stark in seiner Aura, dass ich mich fast selbst verwandelt hätte. Aber auch so hätte ich nicht übel Lust, zum Panther zu werden und diese Idioten zu zerfleischen. «

»Idioten? Vielleicht«, sagte ich. »Aber denkt daran, andere Mitglieder dieser Gruppe haben schon getötet, und sie werden es wieder tun. «

»Es gibt gefährlichere Anti-Feen-Gruppierungen als die Freiheitsengel«, warf Vanzir ein. »Sie sind vielleicht nicht so auffällig, aber die Liga zur Reinerhaltung der Menschheit hat mehr Tote auf dem Gewissen. Es ist nur noch niemandem gelungen, ihnen etwas nachzuweisen. Ich habe ein paar Freunde, die sie im Auge behalten.«

Ich wandte mich zu Vanzir um. Wieder einmal überraschte er mich. »Wie viele Dämonenfreunde hast du eigentlich hier drüben?«

Er blinzelte. Er konnte sich nicht weigern, eine direkte Frage zu beantworten, dank des Seelenbinders, der sich während des Knechtschaftsrituals mit seinem Körper verbunden hatte.

»So aus dem Kopf weiß ich es nicht ganz genau, aber mindestens fünfzig bis sechzig. Niemand weiß, wie viele das Netzwerk umfasst. Das dient unser aller Schutz«, fügte er hinzu, und seine Augen glühten. Er wollte mir das nicht sagen - das war ihm deutlich anzusehen.

»Netzwerk? Was für ein Netzwerk?« Camille runzelte die Stirn. »Ich dachte, du kennst nur zufällig ein paar Dämonen, die sich auch hier drüben herumtreiben.«

Vanzir stieß ein leises Fauchen aus. »Also schön, ich sage es euch, aber das könnte mich das Leben kosten, wenn ich nicht aufpasse - nur, damit ihr es wisst. Ich bin über ein Netzwerk von Dämonen gestolpert, die es geschafft haben, in die Erdwelt zu fliehen. Sie haben sich gegen Schattenschwinge verbündet. Langsam formiert sich eine Widerstandsbewegung, aber deren Anhänger können nicht in den Unterirdischen Reichen bleiben. Die Gefahr ist viel zu groß.«

Wir wussten zwar schon, dass einige Dämonen mit Schattenschwinges Plänen nicht einverstanden waren, aber dass sich ein aktiver Widerstand bildete, war uns neu. Dies hier war allerdings nicht der passende Ort, um über Dämonen zu diskutieren oder über sonst irgendetwas, das wir geheim halten wollten.

Chase kam wieder herein. »Die dürften hier keinen Ärger mehr machen. Wenn doch, ruf mich an. Diese drei sind relativ harmlos, aber da gibt es auch andere. Halte eine Weile die Augen offen«, warnte er mich. »Ich muss endlich ein bisschen schlafen. Ich bin seit achtzehn Stunden im Dienst und brauche eine Pause. Was habt ihr so vor?«

Camille ergriff das Wort. »Ich finde, wir sollten noch mal zu Harold fahren. Ich habe mir die Berichte durchgesehen, die Carter uns mitgegeben hat, und es sieht ganz so aus, als hätte sich in den vergangenen achtzig Jahren eine Menge dämonischer Aktivität um dieses Haus konzentriert. Es sind auch gleich mehrfach Beweise für den Gebrauch von Dämonentor-Zauber gefunden worden.«

Ich verzog das Gesicht. »Wunderbar. Der reinste Abenteuerspielplatz. «

»So ungefähr«, sagte sie und wickelte sich eine Locke um den Zeigefinger. »Chase, würdest du einen deiner Männer in euren Akten nach Frauen suchen lassen, die in den vergangenen fünfzig Jahren in der Umgebung dieses Hauses verschwunden sind? Ob eine von ihnen zuletzt dort gesehen wurde oder auch nur in Richtung dieser Gegend unterwegs war, aber nie an ihrem Ziel ankam?«

Chase nickte. »Mache ich«, versprach er. »Seid vorsichtig.«

Delilah trat vor und küsste ihn zärtlich auf die Wange. »Ebenfalls versprochen«, sagte sie. »Und jetzt geh nach Hause und schlaf ein bisschen.«

Als der Detective in die Nacht hinausging, warf ich einen Blick in die Runde. »Jetzt bleibt uns wohl nichts anderes mehr übrig. Wir müssen noch mal da rein und zusehen, was wir herausfinden können.«

Es gab nichts mehr zu sagen. Ich vertraute die Bar für den Rest der Nacht Chrysandra an, und wir machten uns wieder auf den Weg zum Haus von Dantes Teufelskerlen.