Kapitel 9

 

Als wir wieder im AETT-Gebäude ankamen, hatten Sharah, Mallen und ihre Auszubildenden die Opfer schon im Leichenschauhaus aufgebahrt. Die Situation fühlte sich völlig falsch an. An keinem der Opfer war irgendeine Verletzung zu sehen, da war kein Blut, kein Grund, weshalb sie tot sein sollten. Aber tot waren sie.

Die Überlebenden lagen unter genauer Beobachtung oben auf der Intensivstation, aber die Ärzte hatten ihre liebe Mühe, herauszufinden, wie sie ihnen überhaupt helfen konnten. Tiggs, ein Polizist, war kaum mehr bei Bewusstsein. Der andere Yancy - wurde immer schwächer. Und niemand wusste, warum. Sharah hatte eine erfahrene Heilerin aus Elqaneve angefordert, doch die würde erst in ein paar Stunden eintreffen.

Als wir uns um die Edelstahltische versammelten, auf denen die Leichen lagen, wurde mir bewusst, dass ich ebenso tot war wie die Opfer. Der einzige Unterschied war der, dass ich vor meinem Tod noch ein kleines bisschen getunt worden war. Ein einfacher Schluck aus Dredges Adern, und bingo ... ich gehörte zu den wandelnden Toten. Eigentlich sollte ich längst zu Staub zerfallen sein, eine vage Erinnerung, Geschichte.

Camille drückte sich in die Ecke, weit weg von den Tischen. Wir wollten keine Unfälle provozieren, wenn die Leichenzunge eintraf. Smoky blieb bei ihr. Delilah setzte sich auf einen Stuhl ganz in der Nähe, die Beine im Lotussitz angezogen, das Notizbuch schreibbereit im Schoß. Vanzir setzte sich neben sie. Chase und ich warteten bei den Leichen. Sein Gesichtsausdruck war nüchtern und erschöpft.

Ein paar Minuten später betrat Sharah den Raum und führte die Leichenzunge herein. Niemand wusste auch nur, aus welcher Feenrasse sie hervorgegangen waren, oder wie sie aussahen. Die Leichenzungen verbargen sich in einer unterirdischen Stadt in der Anderwelt, die angeblich tief im Wald von Finstrinwyrd lag. Nur ihre Frauen wagten sich in die Welt hinaus, und nur die Frauen wurden Leichenzungen. Einige hatten schon den Verstand verloren, weil ihre Kräfte sich zu Gewalttätigkeit und Wahn verzerrt hatten. Sie streiften durch die Anderwelt, gefürchtet und gemieden. Die Mehrheit jedoch ließ sich von jenen anheuern, die von den Toten die Wahrheit erfahren wollten.

Sie trug die typische Kleidung ihres Standes. Ein Gewand mit Kapuze, so indigoblau wie der tiefste Ozean, hüllte sie völlig ein, und in den Handschuhen steckten lange, schlanke Finger. Die Kapuze verbarg auch ihr Gesicht, und nur ein schwaches, hellgraues Leuchten blitzte manchmal aus der finsteren Höhle hervor.

Ihre Augen, dachte ich. Wir wussten schon, dass sie uns ihren Namen nicht nennen würde, also fragten wir gar nicht erst. Sie blickte von einer Leiche zur nächsten - sieben waren es insgesamt -, und ihre Stimme hallte hohl aus den Falten ihrer Kapuze. »Wo soll ich beginnen?«

Chase zuckte mit den Schultern, also deutete ich auf die Leiche, die uns am nächsten lag. Der Mann war ein Halbblut gewesen, vielleicht halb Svartaner, halb Fee. Jedenfalls hatte er umwerfend gut ausgesehen, als er noch gelebt hatte, und lag jetzt still auf der Metallplatte. Immer noch wunderschön, aber nicht mehr lange.

Die Leichenzunge beugte sich über ihn. Ihre Kapuze verbarg nun auch sein Gesicht, aber wir wussten, was sie darunter tat. Als sie ihn küsste und dabei alles, was von seiner Seele übrig war, aus ihm heraussaugte, stieg ein leicht bläulicher Schimmer von seinem Körper auf. Ich konnte sie murmeln hören und wusste, dass sie den Geist ermunterte, in ihren Körper einzudringen und durch sie zu sprechen. Das Ritual war so alt wie die Feen selbst, und die Kunst derjenigen, die für die Toten sprachen, erstaunte mich jedes Mal wieder.

Einen Augenblick später hob sie den Kopf. »Fragt.«

Ich kaute auf der Unterlippe und überlegte, welches die besten Fragen waren. Wenn wir Glück hatten, würde jede Leiche uns zwei oder drei Antworten geben. Wenn nicht -vielleicht nur eine. Oder gar keine. Ich beschloss, mit der naheliegendsten anzufangen. »Was hat dich getötet?«

Die Leichenzunge stieß ein rauhes Seufzen aus und sagte dann mit einer Stimme so trocken wie altes Pergament: »Krake ... es war grässlich.«

Delilah schauderte. »Sie hat recht. Sie sind grauenhaft.«

Ich bedeutete ihr, still zu sein. »Lass mich meine Fragen stellen, ehe die Seele endgültig verschwindet.« Ich wandte mich wieder an die Leichenzunge. »Wo sind deine Wunden? Wir können sie nicht finden. Wie bist du gestorben?«

Wieder ein zitterndes Seufzen, dann die pfeifende Stimme.

»Ausgesogen ...«

Ehe die Seele zu Ende sprechen konnte, erschauerte die Leichenzunge, und wir verloren die Verbindung zu dem Toten. Ich bedeutete ihr, bei der nächsten Leiche weiterzumachen. Von der Kontaktaufnahme an blieb uns nur wenig Zeit. Sobald der Rest Seele vom Körper befreit war, begann er seine Reise zu den Ahnen. Dann war das Spiel vorbei, und wir hatten keine Chance mehr, die Seele herbeizurufen, außer es gelang uns an Samhain. Und auch dann nur, wenn die Seele bei den Silbernen Wasserfällen ruhte und nicht rastlos umherstreifte und in die Welt der Schatten hinüberglitt.

Die Leichenzunge küsste das zweite Opfer. Ich warf einen Blick zu Chase hinüber. Camille hatte mir erzählt, wie er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, als er zum ersten Mal eine Sprecherin der Toten erlebt hatte. Diesmal schien er sich gut im Griff zu haben.

Während sich die Seelenessenz aus dem Körper hob, merkte ich, dass Camille leise vor sich hin sang. Sie hauchte die Worte nur, aber ich kannte den Rhythmus. Das war ein Reim, den wir als Kinder zum Schutz gesungen hatten.

Da kommt der tief verhüllte Graus. Lippen an Lippen, Mund an Mund. Saug ein den Geist, spei Worte aus, Tu der Toten Geheimnisse kund.

Das zweite Opfer half uns ebenso wenig weiter wie das erste. Die einzige Frage, die der Mann beantworten konnte, war: »Wie bist du gestorben? «

»Weiß nicht... war da, dann ... mich gefressen ...«

Ich runzelte die Stirn und blickte zu den anderen hinüber, die ebenso verwundert dreinschauten wie ich. Die Seele verschwand, ehe ich fragen konnte, was sie damit meinte. Die Leichenzunge ging zum dritten Opfer weiter, das bereits fort war, und die vierte Seele war ebenfalls schon zu ihren Ahnen weitergezogen. Die fünfte jedoch gab uns einen Hinweis. »Was hat dich getötet?«, fragte ich nach dem rituellen Kuss. Mit der gleichen trocken raschelnden Stimme, in der alle Geister sprachen, sagte die Leichenzunge: »Dämon. Ein Dämon. Ich konnte ihn riechen. Ich hatte solche Angst ...«

Ich starrte den Leichnam an. Dieser Mann hatte erkannt, dass es ein Dämon gewesen war. »Wie bist du gestorben? «

»Etwas ist in meinen Geist eingedrungen und hat an mir gefressen, bis es das silberne Band durchtrennt hat, das mich mit meinem Körper verband.«

Delilah hatte erwähnt, dass es sich angefühlt hatte, als krieche etwas in ihrem Geist herum. Konnte dieses Etwas nach dem Band gesucht haben?

Ich war neugierig, wie der Mann seinen Mörder als Dämon erkannt hatte, und fragte: »Was warst du im Leben? Was hast du gemacht? «

»Ich habe in Y'Vaiylestar als Seher für Hof und Krone gearbeitet. Sie haben mich Erdseits geschickt, ich sollte erforschen ...« Seine Stimme wurde schwächer. »Mutter ...« war das letzte Wort, das er sprach, und dann verschwand er. Ich wusste, dass er zu seinen Ahnen gefunden hatte. Dankbar dafür, dass seine Mutter ihm entgegengekommen war, legte ich leicht die Hand auf seine.

Gleich darauf führten wir die Leichenzunge zu den zwei Opfern, wegen denen Chase uns ursprünglich hergeholt hatte, doch auch sie waren schon ins Reich der Silbernen Wasserfälle verschwunden. Die Leichenzunge stand schweigend da und wandte sich dann Sharah zu, die nickte.

»Kommt mit«, sagte sie. »Ich bringe Euch an einen Ort, wo Ihr warten könnt, bis ich ... Euren Lohn beschafft habe.« Als sie zur Tür hinausgingen, verzog Chase das Gesicht. »Alle ihre Herzen?« Camille schüttelte den Kopf. »Nur von denen, deren Seelen sie berührt hat. So verlangt es der Ritus. Sie verbindet sich mit den Toten, indem sie sich ihr Herz einverleibt. «

»Warum nicht die Herzen derer, die sie nicht erreichen konnte?«, fragte er.

»So bleiben sie ehrlich«, erklärte ich mit kurzem Lachen.

»Verhindert Täuschungen. Vielleicht interessieren sie sich auch nicht für die Herzen derjenigen, die schon fort sind. Ich weiß es nicht, und ich bezweifle, dass irgendjemand die Antwort darauf kennt.«

Chase schien kurz verwirrt und schob die Sache dann beiseite. »Also, was haben wir erfahren? Der letzte Leichnam wusste immerhin, dass wir es mit Dämonen zu tun haben. Und er hat gesagt, das Ding hätte ihn gefressen, oder?«

Ich nickte. »Ich würde darauf wetten, dass das Ding Seelen aussaugt.«

In diesem Moment trat Sharah mit einer Schale und mehreren undurchsichtigen Plastikbeuteln ein. »Ich werde ihnen jetzt die Herzen entnehmen. Ich schlage vor, ihr geht, es sei denn, ihr möchtet zusehen, wie ich unserem Gast das Abendessen zubereite.« Sie trug einen leichten Ausdruck von Abscheu auf dem Gesicht. Elfen und Leichenzungen mochten einander nicht besonders, aber Sharah tat immer, was nötig war.

Chase war wie der Blitz an der Tür. »Kommt, sehen wir nach den Überlebenden.«

Wir folgten ihm.

Als Camille an Sharah vorbeiging, legte sie ihr sacht die Hand auf die Schulter, und die Elfe lächelte sie tapfer an. Sharahs Arbeit war inzwischen unglaublich blutig im Vergleich zu der, die sie zu Hause in Elqaneve gehabt hätte. Aber obwohl sie Königin Asterias Nichte war, entschied sie sich dafür, es um der guten Sache willen hier auszuhalten.

Einer der Überlebenden wurde rasch schwächer, seine Vitalparameter fielen selbst in der kurzen Zeit, während wir an seinem Bett standen. Der andere dämmerte immer wieder weg und kam kaum noch richtig zu sich.

»Es ist in meinem Geist«, flüsterte er. »Ich kann es fühlen... «

»Was auch immer das ist, es frisst weiterhin ihre Lebensenergie«, sagte ich.

Vanzir meldete sich zu Wort. »Wahrscheinlich versucht es, so viel Angst wie möglich zu erzeugen. Angst bewirkt, dass Adrenalin ausgeschüttet wird, und das bedeutet noch mehr Energie. «

»Er hat recht«, sagte Camille.

»Okay«, begann Chase. »Wir haben hier also einen Haufen Dämonen, die in deinen Geist eindringen, sich davon ernähren und dir dann das Leben aussaugen, ohne dass du einen sichtbaren Kratzer hast. Aber warum hatte Delilah dann diese Wunden? «

»Ich wette, dass alle Opfer kurzzeitig verwundet waren.

Sympathetische Magie. Die Opfer wussten, dass sie angegriffen wurden, also haben ihre Körper Spuren eines Angriffs gezeigt. Warum sie wieder verheilt sind, weiß ich nicht. Als Delilah ihren Angreifer abgeschüttelt hatte, sind ihre Wunden beinahe augenblicklich verheilt. «

»Manifeste Wunden brauchen sie nur, bis sie die Kontrolle übernommen haben«, erklärte Vanzir. »Ich wette, dass diese beiden immer noch angegriffen werden. Die Dämonen sind noch da.«

Ich fuhr zu Chase herum. »Wenn das stimmt, warum wurde dann kein Alarm ausgelöst?«

Smoky meldete sich zu Wort. »Was wetten wir, dass sich die Dämonen auf einer der Astralebenen befinden? So muss es sein. Wenn sie auf der physischen Ebene existieren würden, müssten wir das merken - auf die eine oder andere Weise.« Er wandte sich an Chase. »Sind eure magischen Sensoren so eingestellt, dass sie auch bei astraler Präsenz von Dämonen Alarm geben?«

Chase erbleichte. »Ich weiß es nicht. Niemand hat je erwähnt, dass das nötig wäre, und ich wäre todsicher nie auf die Idee gekommen. Der AND hat die Alarmanlage eingestellt, als wir die Einheit gegründet haben. Als sie während dieses Vampir-Fiaskos halb zerstört wurde, konnte der AND sie nicht reparieren, also musste ich ein paar meiner eigenen Leute aus der Anderwelt bitten, es zu versuchen. Ich bin nicht sicher, was sie an dem System gemacht haben. «

»Mist. Wir können davon ausgehen, dass die Anlage nicht auf astrale Eindringlinge eingestellt ist«, sagte ich. »Der Tote da unten hat gesagt, der Dämon hätte an dem silbernen Band gefressen, das ihn mit seinem Körper verband. Dieses Band existiert bei Menschen und Feen auf der Astralebene. Also ja, die Dämonen sind noch da und fressen an ihnen, aber auf der Astral ebene. Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Ich biss mir auf die Lippe.

Was sollten wir jetzt bloß tun?

»Können wir sie angreifen? Kommt ihr irgendwie an sie ran?« Chase betrachtete die still daliegenden Männer, und ein nachdenklicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.

»Nicht solange wir nicht wissen, was für Dämonen das sind«, erwiderte ich. »Es ist so schon ungeheuer gefährlich, und auf der Astralebene zu kämpfen, ist nicht leicht. Oder auch nur dahin zu kommen. «

»Wir müssen also herausfinden, mit was für Dämonen wir es zu tun haben, wie sie in die Stadt gekommen sind und was zum Teufel wir gegen sie unternehmen können«, sagte Chase. »Und das vorzugsweise, ehe noch jemand getötet wird.«

Delilahs Handy klingelte. Sie trat beiseite, um zu telefonieren.

Chase schaute ihr kurz nach und wandte sich dann wieder mir zu. »Übrigens, ich habe in den Akten nach dieser Frau geschaut, nach der du dich erkundigt hast - die Elfe. Sie hat tatsächlich Anzeige bei der Polizei erstattet, aber das war vor ein paar Jahren. Sie hat gesagt, irgendein Mann würde sie verfolgen. Ich erinnere mich, dass ich einen Officer losgeschickt habe, der den Mann befragen sollte, aber das hat nichts gebracht. Der Kerl hat geleugnet und behauptet, das sei Zufall, er wohne eben in der Nähe und so weiter. Da Sabele sich nie wieder bei uns gemeldet hat, haben wir den Fall zu den Akten gelegt. «

»Lass mich raten. Er hieß Harold Young. «

»Ja, Harold Young. Woher weißt du das ? Er war im ersten Semester an der Universität. Ich kann dir seine letzte bekannte Adresse geben. Wenn ich mich recht erinnere, ist er der jüngste Sohn von irgendeinem Millionär.« Sein Blick huschte zu seiner Armbanduhr. »Also, du hast erwähnt, du hättest Informationen über den Clockwork Club und Claudette? Erzähl mir davon, solange wir auf Delilah warten. «

»Der Clockwork Club besteht aus Vampiren mit altem Geld, und es ist praktisch unmöglich, da reinzukommen, außer auf Empfehlung von jemandem, der schon drin ist. Anscheinend gibt es den Club schon seit dem achtzehnten Jahrhundert, und er tritt erst jetzt allmählich ans Licht der Öffentlichkeit. Nach allem, was ich weiß, halten sie keine abscheulichen Rituale oder so etwas ab. Sie bleiben einfach unter sich, so wie die meisten exklusiven Clubs.«

Delilah klappte ihr Handy zu. »Wovon sprecht ihr? «

»Vom Clockwork Club«, antwortete ich. »Chase sucht nach einer Vampirin, die kürzlich verschwunden ist. Sie gehörte einem exklusiven Vampir-Club an, war nicht geoutet, ist immer noch verheiratet und jetzt plötzlich verschwunden. Keine Anzeichen für einen Selbstmord oder dafür, dass ihr Mann sie getötet haben könnte. «

»Also, hast du eine Chance, da Zugang zu bekommen und die Mitglieder nach Claudette zu fragen?«, wollte Chase wissen.

Ich presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern. »Ich kann es versuchen. Meine Quelle hat mir den Namen eines Mitglieds genannt, das ganz verrückt nach Feen ist. Mal sehen, ob ich irgendwie eine Einladung zu einem geselligen Abend rausschlagen kann, aber versprechen kann ich nichts. «

»Tim hat angerufen«, mischte sich Delilah ein. »Er hat unseren Burschen gefunden, diesen Harish. Ich habe seine Adresse.« Sie hielt ihr Notizbuch hoch. »Es ist noch früh genug. Was meint ihr - sollen wir ihm einen Besuch abstatten und feststellen, ob Sabele ihn doch geheiratet hat und irgendwo einen Haufen Kinder großzieht? «

»Klingt gut«, sagte ich. »Also los.«