Kapitel 1

 

Könntest du wenigstens warten, bis ich das Fenster geöffnet habe, ehe du das Ding ausschüttelst?« Iris warf mir einen giftigen Blick zu, weil ich den gemusterten Flickenteppich vom Boden hochgerissen und gegen die Wand geschlagen hatte. »Ich kriege kaum noch Luft, so viel Staub fliegt hier herum.«

Verärgert über mich selbst, ließ ich den Teppich fallen und sah sie verlegen an. Staub störte mich nicht, und manchmal vergaß ich einfach, dass andere Leute atmen mussten. »Entschuldigung«, sagte ich. »Mach das Fenster auf, dann schüttle ich ihn draußen aus.«

Sie verdrehte die Augen gen Himmel, schob das Fenster so weit hoch, wie sie konnte, und ich übernahm den Rest. Ein Schwall warmer Sommerluft drang herein, dazu lautes Hupen, plärrende Musik und Gelächter von ein paar Kids, die in der Gasse hinter dem Wayfarer Gras rauchten. Die Luft fühlte sich unbeschwert und leicht an, Aufregung lag darin, als würde gleich spontan eine Straßenparty ausbrechen.

Ich beugte mich über das Fensterbrett und winkte einem der Jungen zu, der zu mir hochstarrte. Er hieß Chester, wurde aber Chit genannt, und er und seine Kumpels waren in den letzten Monaten immer öfter hier aufgetaucht. Da sie zu jung waren, um die Bar betreten zu dürfen, hingen sie in der Gasse dahinter herum, und ich sorgte dafür, dass sie ab und zu eine ordentliche Mahlzeit von unserem Grill bekamen. Die Kids waren in Ordnung - ein bisschen verloren vielleicht, aber sie machten keinen großen Ärger, und sie waren keine Schläger, Vergewaltiger oder Junkies. Sie hielten sogar einige der weniger angenehmen Zeitgenossen davon ab, sich hinter der Bar herumzudrücken.

Chit winkte zurück. »Yo, Menolly! Was geht ab, Babe?«

Ich grinste. Ich war sehr, sehr viel älter als er, auch wenn ich nicht so aussah. Doch wie einige jüngere männliche VBM, die mir schon begegnet waren, flirtete er mit jeder Frau, die jünger aussah als vierzig, und vor allem mit Feen. Ich war zwar nur halb Fee, und Vampirin obendrein, doch er behandelte mich genauso wie jedes andere weibliche Wesen.

»Nur eine längst überfällige Putzaktion«, rief ich zu ihm hinunter und winkte noch einmal, ehe ich mich zu Iris umdrehte. Die kramte in einer altmodischen Truhe herum, die in einer Ecke des Raums versteckt gewesen war.

Da mir jetzt das gesamte Gebäude gehörte, in dem mein Wayfarer Bar & Grill lag, hatte ich beschlossen, dass es höchste Zeit sei, ein paar der Zimmer über der Bar auszumisten und richtig zu nutzen. Meine Schwestern und ich wollten sie renovieren und einrichten und dann an Besucher aus der Anderwelt vermieten, für ein hübsches Sümmchen, versteht sich. Obwohl wir offiziell wieder auf dem Gehaltszettel von Hof und Krone standen, ging das Geld immer noch viel schneller raus, als es reinkam. Vor allem, seit wir Tim Winthrop dafür bezahlten, dass er die ganze Computerarbeit rund um die UW-Gemeinde übernahm.

Im ersten Stock über dem Wayfarer befanden sich acht Zimmer und zwei Bäder. Und es sah ganz so aus, als wären sie alle seit Jahren unberührt geblieben. Haufen von Müll und dicke Staubschichten zogen sich durch das gesamte Stockwerk. Mit einem Zimmer waren Iris und ich schon fertig, aber wir hatten zwei Nächte gebraucht, um die Kisten voller Zeitungen und alter Klamotten zu sortieren.

Ich streckte mich, dehnte den Rücken und schüttelte den Kopf.

»Was für ein Chaos

Das Zimmer war offensichtlich als eine Art Lagerraum genutzt worden, zweifellos von Jocko - nicht dem reinlichsten Wirt, den der Wayfarer so gehabt hatte. Leider war der kleinwüchsige Riese unschön und frühzeitig zu Tode gekommen, ermordet von Bad Ass Luke, einem Dämon aus den Unterirdischen Reichen.

Jocko hatte in einer vom AND zur Verfügung gestellten Wohnung in der Stadt gehaust, und ich war ziemlich sicher, dass er nie im Wayfarer gewohnt hatte. Wir hatten keine Kleidung in Riesengröße gefunden, jedenfalls noch nicht. Aber es war offensichtlich, dass eine Frau aus der Anderwelt einmal hier gelebt hatte, denn sie hatte eine Menge von ihren Sachen dagelassen. Ich erkannte das Webmuster einiger Tuniken -die waren ganz gewiss nicht hier in der Erdwelt hergestellt worden.

Iris schnaubte. »Chaos ist wirklich das richtige Wort, nicht?

Also, wenn du jetzt deinen blassen Hintern hier herüber bewegen würdest ... ? Ich könnte bei dieser Truhe etwas Hilfe gebrauchen.« Die Hände in die Hüften gestemmt, wies sie mit einem Nicken auf die hölzerne Truhe, die sie unter einem Haufen alter Zeitungen zum Vorschein gebracht hatte.

Ich riss mich aus meinen Gedanken, hob die Truhe mühelos mit einer Hand hoch und trug sie in die Mitte des Raums. Ein Vampir zu sein, hatte auch seine Vorteile, und außergewöhnliche Kraft war einer davon. Ich war gar nicht so viel größer als Iris mit eins zweiundfünfzig überragte ich sie nur um gut dreißig Zentimeter -, trotzdem hätte ich mit Leichtigkeit ein Wesen hochheben können, das fünfmal so viel wog wie sie.

»Wo um alles in der Welt stecken nur deine Schwestern? Wollten sie uns nicht helfen?«

Die Talonhaitija - ein finnischer Hausgeist - strich sich eine verirrte Spinnwebe von der Stirn, wobei ihre schmutzige Hand einen kleinen Fleck hinterließ. Ihr knöchellanges goldenes Haar war zu einem langen Zopf geflochten und dann sorgfältig zu einem dicken Knoten hochgesteckt, damit es ihr nicht in die Quere kam. Iris trug Jeansshorts und eine rotweiße, ärmellose Baumwollbluse, die sie unter der Brust verknotet hatte. Blaue Segeltuchschuhe machten das Landmädchen-Outfit komplett.

Ich lächelte. »Sie helfen ja, auf ihre ganz besondere Art. Camille ist einkaufen gegangen und besorgt noch mehr Putzzeug und etwas zu essen. Delilah versucht, irgendwo für ein paar Stunden einen Pick-up zu borgen, damit wir schon mal etwas von diesem Müll wegschaffen können.« Die Leitung der Bar hatte ich für heute Abend Chrysandra überlassen. Sie wusste ja, wo ich war, und sie war meine beste Kellnerin. Luke stand hinter der Bar, und der wurde mit jedem Idioten fertig, der Ärger machen wollte. Tavah bewachte wie üblich das Portal im Keller.

»Besondere Art, dass ich nicht lache«, brummte Iris, warf mir aber ein strahlend weißes Lächeln zu. Sie hatte gute Zähne, so viel war sicher. »Schauen wir mal nach, was in dieser alten Truhe ist. Bei unserem Glück vermutlich tote Mäuse.«

»Wenn das tatsächlich stimmt, dann sag bloß Delilah nichts davon. Sonst will sie mit ihnen spielen.« Ich kniete mich neben sie und musterte das Schloss. »Sieht aus, als brauchten wir einen Dietrich, wenn du nicht willst, dass ich die Truhe aufbreche. «

»Vergiss Schlüssel«, entgegnete Iris. Sie beugte sich vor, schob geschickt eine Haarnadel in das überdimensionale Schlüsselloch und flüsterte ein paar klangvolle Worte. Binnen Sekunden klickte das Schloss. Ich warf ihr einen langen Blick zu, und sie zuckte mit den Schultern.

»Was denn? So einfache Schlösser kann ich öffnen. Nur bei Bolzenschlössern tue ich mich schwer. Es lebt sich viel leichter, wenn man sich um Schlösser und Riegel keine Gedanken machen muss.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte ich und öffnete den Deckel. Er quietschte leise, und der schwache Duft von Zedernholz stieg auf. Dass ich nicht zu atmen brauchte, bedeutete noch lange nicht, dass ich nichts riechen konnte wenn ich das wollte. Ich sog den Geruch tief ein. Er war mit dem Duft von Tabak und Weihrauch vermischt und staubig wie eine alte Bibliothek voller Leder und schwerer Eichenmöbel. Er erinnerte mich an unseren Salon zu Hause in der Anderwelt.

Iris spähte über den Rand. »Volltreffer!«

Ich warf einen Blick hinein. Keine toten Mäuse. Auch keine kostbaren Juwelen, sondern Kleidung, mehrere Bücher und etwas, das aussah wie eine Spieluhr. Langsam hob ich das Kästchen von dem weichen Kissen aus Kleidern, auf dem es geruht hatte. Das Holz stammte ganz sicher aus der Anderwelt.

»Arnikchah«, bemerkte ich und sah es mir genauer an. »Das hier kommt aus der Anderwelt.«

»Dachte ich mir«, sagte Iris und beugte sich vor, um das Kästchen zu bewundern.

Das Holz des Arnikchah-Baums war hart, von dunkler, satter Farbe, und wenn man es polierte, bekam es einen natürlichen Glanz. Die burgunderroten Schattierungen waren leicht zu erkennen, die Farbe lag irgendwo zwischen Mahagoni und Kirschbaum.

Das Kästchen hatte eine silberne Schließe, und ich öffnete sie und klappte vorsichtig den Deckel auf. Ein kleiner PeridotCabochon, der in die Innenseite des Deckels eingelassen war, blitzte auf, und erste Töne trieben hervor. Keine Panflöte, sondern eine Silberflöte, die das Lied der Waldvögel bei Sonnenuntergang nachspielte.

Iris schloss die Augen und lauschte der Melodie. Gleich darauf brach sie ab, und Iris biss sich auf die Lippe. »Das ist wunderschön.«

»Ja, ist es.« Ich untersuchte den Inhalt des Kästchens. »Meine Mutter hatte eine ganz ähnliche Spieluhr. Vater hat sie ihr geschenkt. Ich weiß gar nicht, was daraus geworden ist. Camille müsste es wissen, wenn überhaupt irgendjemand. Die Melodie ist ein bekanntes Schlaflied für Kinder.«

Die Innenseite des Kästchens war mit einem satten, samtigen Brokat ausgeschlagen. Ich hatte schon Röcke aus solchem Stoff gesehen, an Hofdamen in Y'Elestrial. Der violette Brokat hatte den Duft des Arnikchah-Holzes aufgenommen.

Ich erschauerte und war auf einmal unerklärlich traurig, als ich den leuchtenden Edelstein an der Unterseite des Deckels berührte. Wieder begann die Melodie zu spielen und flatterte leicht durch den staubigen Raum. Ich schloss die Augen und ließ mich zu den langen Sommerabenden meiner Jugend zu rückversetzen. Ich tanzte über die Wiese, während Camille ihre Zauber aufsagte und Delilah in ihrer Katzengestalt Glühwürmchen jagte. Diese Zeiten schienen mir jetzt sehr, sehr lange zurückzuliegen.

Iris lugte in das Kästchen. »Da liegt ein Medaillon drin.«

Vorsichtig stellte ich die Spieluhr auf den Boden und holte den herzförmigen Anhänger heraus. Er war aus Silber, mit Rosen und Ranken geprägt, und das Herz öffnete sich, als ich den Verschluss berührte. Darin lagen ein Bild und eine Haarsträhne.

Das Foto war eindeutig in der Erdwelt entstanden und zeigte einen Elf. Einen Mann. Die Strähne war so hell, dass man sie als platinblond bezeichnen konnte. Aber dieses Haar war niemals mit Farbe in Berührung gekommen. Ich zeigte Iris die Locke. Sie schloss die Faust um das Haar und kniff die Augen zusammen. »Elfenhaar, so wie es sich anfühlt. Was für ein hübscher Anhänger. Ich frage mich, wem er gehört.«

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete ich. »Was ist sonst noch in der Truhe?«

Iris holte die Bücher und den Stapel Kleidung hervor. Die Bücher gehörten eindeutig zur Erdwelt: Erdseits Leben für Dummies und Amerikanisches Englisch für Elfen.

Die Kleidung hatte einer Frau gehört. Eine Tunika, mehrere Paar Leggings, ein Gürtel, eine Jacke, ein hübscher BH. Ich hielt ihn hoch. Die Besitzerin hatte kleine Brüste. Der Stoff war nach Elfenart gewebt, so viel erkannte ich immerhin.

Unter der Kleidung, ganz unten in der Truhe, fanden wir ein großes Notizbuch. Ich schlug die erste Seite auf. Da stand »Sabele« in schnörkeliger Handschrift. Die Buchstaben waren Englisch, doch der Rest des Journals war in Melosealfor verfasst, einer seltenen und wunderschönen KryptoSprache der Anderwelt. Ich erkannte die Schrift, konnte sie aber nicht lesen. Camille schon.

»Das sieht aus wie ein Tagebuch«, bemerkte Iris, die es durchblätterte. »Ich frage mich ...« Sie stand auf und stöberte in den noch nicht sortierten Haufen Krempel herum. »He! Hier drunter ist ein Bett, und in der Ecke steht ein Schrank. Was wetten wir, dass dieser Raum mal ein Schlafzimmer war? Vielleicht das Zimmer der Person, der dieses Medaillon und das Tagebuch gehört haben?«

Ich starrte die Stapel alter Zeitschriften, Zeitungen und verblassten Weinkartons an. »Räumen wir erst mal den ganzen Müll weg. Wir bringen ihn vorerst nach nebenan. Mal sehen, was darunter zum Vorschein kommt.«

Als ich die Spieluhr und die Klamotten wieder in die Truhe räumte, hallte Lachen über den Flur, und gleich darauf stand meine Schwester Camille in der Tür, zwei ihrer Männer im Schlepptau.

»Pizza!« Camille trat ein und machte vorsichtig einen großen Schritt über einen aufgerollten Teppich hinweg. Wie üblich war ihr Outfit einfach umwerfend - ein schwarzer Samtrock, ein pflaumenfarbenes Bustier und dazu Highheels mit bleistiftdünnen Absätzen. Morio folgte ihr mit fünf Pizzaschachteln, und hinter ihm ragte Smoky auf, dessen Miene darauf schließen ließ, dass er belustigt, aber nicht eben begeistert davon war, hierher mitgeschleift zu werden.

Iris sprang auf und wischte sich die Hände an den Shorts ab. »Ich habe solchen Hunger, dass ich ein Pferd verschlingen könnte.«

»Psst, am Ende tut Smoky dir noch den Gefallen und schafft eines heran«, entgegnete Camille und warf dem Drachen mit gerümpfter Nase einen frechen Blick zu.

Er sah vielleicht aus wie ein eins neunzig großer Mann mit silbrigem Haar bis zu den Fußknöcheln, aber wenn er sich verwandelte, kam hinter dieser schneeweißen Fassade ein waschechter Drache zum Vorschein. Er fraß Pferde, Kühe, hin und wieder auch eine Ziege. Direkt von der Weide. Manchmal behauptete er auch scherzhaft, Menschen zu fressen, und keine von uns nahm das ernst; allerdings hatte ich schon den Verdacht, dass man den einen oder anderen Vermisstenfall ihm zuschreiben sollte. Jedenfalls war Smoky nicht nur ein Drache, der menschliche Gestalt annehmen konnte, er war obendrein der Ehemann meiner Schwester. Oder vielmehr einer ihrer Ehemänner.

Morio, ein japanischer Yokai-kitsune - was man im weitesten Sinne mit Fuchsdämon übersetzen könnte -, war ihr zweiter Ehemann. Er war nicht annähernd so groß wie Smoky, aber auch er sah gut aus, auf schmale, zierliche Art. Er trug einen Pferdeschwanz, der ihm bis über die Schultern hing, einen Anflug von Ziegenbärtchen und einen dünnen Schnurrbart. Camille hatte noch einen dritten Liebhaber: Trillian, ein Svartaner, galt offiziell schon länger als vermisst, und ich wusste, dass sie sich Sorgen um ihn machte.

»Kein Wort mehr über meine Essgewohnheiten, Weib«, sagte Smoky und tätschelte sacht ihre Schulter. Er ließ ihr Dinge durchgehen, für die er andere Leute knusprig grillen würde. Liebe machte ja angeblich blind, aber bei Smoky hatte ich eher das Gefühl, dass er sich damit abgefunden hatte, entweder Geduld mit meiner Schwester zu haben oder sich unglücklich zu machen.

Sehnsuchtsvoll betrachtete ich die Pizzas. Ich würde eine Menge darum geben, Pizza essen zu können. Oder überhaupt irgendwas. Meine ständige Blut-Diät ernährte mich zwar, aber ich war nicht besonders begeistert davon. Immer nur salzig, nie was Süßes.

Morio zog mit leuchtenden Augen eine Thermoskanne aus seiner Umhängetasche und reichte sie mir.

»Ich habe keinen Durst«, sagte ich. Blut aus der Flasche war schon gar kein Geschmackserlebnis. Ein bisschen so wie billigstes Dosenbier. Es enthielt zwar das, was man brauchte, konnte aber unter keinen irgendwie denkbaren Umständen als Haute Cuisine bezeichnet werden. Wenn ich nicht wirklich Hunger hatte, ließ ich die Finger davon.

»Trink einfach«, drängte er.

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Was hast du ausgeheckt?« Doch als ich die Thermosflasche öffnete, roch das Blut nicht wie Blut. Nein, es roch nach ... Ananas? Zaghaft probierte ich einen Schluck. Wenn ich irgendetwas anderes als Blut zu verdauen versuchte, bekam ich furchtbare Magenkrämpfe.

Es war tatsächlich Blut, das mir durch die Kehle rann, aber zu meiner fassungslosen Freude schmeckte ich nur Kokosmilch und Ananassaft. Ich starrte die Thermoskanne an, dann Morio. »Bei den Göttern, du hast es geschafft!«

»Ja, habe ich«, sagte er, und ein triumphierendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht. »Ich habe den Zauber endlich hinbekommen. Ich dachte, Pina Colada wäre eine nette Abwechslung, so als erster Versuch.«

Morio arbeitete seit einiger Zeit an der Entwicklung eines Zaubers, der Blut den Geschmack von Essen verleihen sollte, das ich nach meinem Tod für immer hatte aufgeben müssen.

»Tja, er hat funktioniert!«

Ich setzte mich lachend in das offene Fenster aufs Fensterbrett, zog ein Knie an die Brust und lehnte mich an den Fensterrahmen. Während ich trank und meine Geschmacksknospen Freudentänzchen aufführten, konnte ich nur daran denken, dass ich zum ersten Mal seit über zwölf Jahren etwas anderes als Blut schmeckte.

»Dafür könnte ich dich küssen.«

»Nur zu«, sagte Camille zwinkernd. »Er küsst gut.«

Schnaubend stellte ich die Thermoskanne weg und wischte mir sorgfältig den Mund ab. Meistens hatte ich nach dem Trinken ein paar Spritzer um den Mund, und ich wollte lieber nicht aussehen wie irgendein blutgieriges Ungeheuer.

»Bei allem Respekt vor den Fähigkeiten deines lieben Ehemannes werde ich seine Küsse doch lieber dir überlassen. Er ist nicht so ganz mein Typ«, sagte ich und zwinkerte Morio zu.

»Nimm's nicht persönlich.«

»Kein Problem«, erwiderte er. »Nächstes Mal versuchen wir es mit irgendeiner Suppe. Was magst du am liebsten?«

»Hm ... Rindfleischsuppe mit Gemüse wäre toll.«

Ich blickte mich im Raum um; so fröhlich war ich schon lange nicht mehr gewesen. »Während ihr eure Pizza esst, fange ich schon mal an, diesen Müll hier rauszuschaffen. Iris und ich haben etwas Interessantes entdeckt. Werft nichts weg, das so aussieht, als hätte es in ein Schlafzimmer oder zu einer Elfe gehören können.«

Ich räumte einen Haufen Zeitschriften in einen Karton, trug ihn hinaus und lagerte ihn vorerst im Nebenzimmer. Smoky ignorierte die Pizza und half mir, Morio ebenfalls. Iris und Camille saßen auf einer ausrangierten Bank und ließen sich ihre Pizza Hawaii schmecken.

Zwischen den einzelnen Bissen erzählte Camille mir, was ich tagsüber verpasst hatte. So kurz vor der Sommersonnenwende war die Zeit, die ich wach und aktiv verbringen konnte, sehr beschränkt. Mir blieben zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang nur noch acht Stunden pro Nacht. Ich für meinen Teil freute mich schon auf den Herbst und den Winter. Es war ätzend, schon um halb sechs Uhr morgens ins Bett gehen zu müssen.

»Wir haben endlich die Einladung zu Jasons und Tims Hochzeit. Sie halten sie extra spätabends ab, damit du und Erin kommen könnt.« Camille griff sich das nächste Stück Pizza, hielt es hoch und ließ sich die Mozarella-Fäden in den Mund sinken.

»Ich bin froh, dass sie endlich heiraten. Sie sind ein tolles Paar.« Tim hatte sich meinen allerhöchsten Respekt verdient, als ich seine beste Freundin Erin hatte verwandeln müssen. Eigentlich hatte ich mir geschworen, niemals einen weiteren Vampir zu erschaffen, aber Erin wäre ansonsten ganz und gar gestorben, und sie hatte sich selbst dafür entschieden. So war ich also zu einer menschlichen Vampir-Tochter mittleren Alters gekommen. Tim war ihr bester Freund. Er war für uns da gewesen, als Erin und ich ihn am dringendsten gebraucht hatten, und seither hatte ich große Achtung vor ihm.

»Übrigens«, sagte ich, »Erin will Tim die Scarlot-Harlot-Boutique verkaufen. Sie kann tagsüber ja nicht mehr dort arbeiten, also übernimmt er den Laden. Und jetzt, da er seinen Abschluss hat, kann er seine IT-Beratung nebenbei aufbauen.«

»Ich weiß. Er hat es mir erzählt«, sagte Camille. »Es ist schade, dass Cleo Blanco damit der Vergangenheit angehört, aber ich fand ihn als Frau nie besonders überzeugend. Als Mann sieht er viel besser aus. Marilyn Monroe konnte er allerdings spektakulär synchron singen.« Sie leckte sich die Finger ab und fügte dann hinzu: »Ach ja, Wade hat angerufen, als wir gerade gehen wollten. Er will dich wegen irgendetwas sprechen. Ich habe ihm gesagt, er soll in der Bar vorbeikommen, also wird er irgendwann hier auftauchen.«

Scheiße. Ich wollte nicht mit Wade reden. Wir hatten uns in letzter Zeit ständig gestritten, und in diesem Fall wuchs die Liebe definitiv mit der Entfernung. Ob es an der Sommerhitze oder der Überdosis Schlaf lag, wusste ich nicht, aber wir gingen einander nur noch auf die Nerven, und es wollte irgendwie nicht besser werden.

»Großartig«, brummte ich. »Smoky, würdest du mir helfen, diesen Teppich zu tragen? Ich kann ihn hochheben, aber er ist zu unhandlich, um ihn allein zu schleppen.«

Smoky legte sich hilfsbereit ein Ende des zusammengerollten Perserteppichs auf die Schulter und ich das andere. Wir schleppten das Ding über den Flur und warfen es auf den immer größer werdenden Müllhaufen.

»Wo bleibt Delilah? Wir müssen so viel wie möglich von diesem Zeug hier rausschaffen, das ist brandgefährlich. Ein einziger Funken, und das ganze Haus geht in Flammen auf.« Ich trat gegen den Teppich, der ein wenig verrutschte.

»Nur Geduld«, sagte Smoky. »Ich kann gern einen Frostzauber auf diesen Raum legen. Dann ist alles mit einer Schicht Feuchtigkeit bedeckt und gerät nicht so leicht in Brand.«

Ich stöhnte. »Stattdessen wird es zur Brutstätte für Schimmel und Moder. Ach, nur zu. Dann muss ich mir wenigstens keine Sorgen mehr wegen eines Feuers machen.«

Eine Stunde später hatten wir alles aus dem Schlafzimmer entfernt, was nicht dorthin zu gehören schien. Wir hatten ein Bett, eine Kommode, die Truhe, einen Schreibtisch, ein Bücherregal und einen Schaukelstuhl ausgegraben. Alles wies darauf hin, dass die ehemalige Bewohnerin weiblich und eine Elfe gewesen war.

»Wer hat denn hier gewohnt?«, fragte Camille, die in den Resten ihrer zweiten Pizza herumstocherte. Smoky und Morio hatten sich ebenfalls zum Essen niedergelassen, und es war offensichtlich, dass auch die übrigen drei Pizzas bald verschwunden sein würden.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Niemand beim AND hat mir gesagt, wer vor Jocko meinen Job hatte.«

Iris setzte sich in den Schaukelstuhl und strich mit der Hand über die polierte Armlehne. »Könnte der AND dir diese Information denn jetzt geben, wenn du danach fragst?« Camille schüttelte den Kopf. »Die Behörde hat zwar offiziell die Arbeit wiederaufgenommen, aber höchstwahrscheinlich sind sämtliche Unterlagen während des Bürgerkriegs zerstört worden.«

Ich musste ihr zustimmen. »Ja, so ist das meistens. Ein Großteil des Personals wurde entweder gefeuert oder verhaftet, je nach Loyalität zu Lethesanar. Außer, und das ist interessant, der Direktor des Anderwelt-Nachrichtendienstes. Vater hat uns erzählt, er sei Doppelagent, und ich wusste nicht, ob ich das glauben soll. Aber ich will verdammt sein, wenn das nicht doch gestimmt hat.«

»Jocko ist tot. Er kann uns auch nicht mehr helfen«, fuhr Camille fort. »Weiß vielleicht eine deiner Kellnerinnen mehr? «

»Glaube ich kaum, aber das bringt mich auf eine Idee.« Ich sprang auf und ging zur Tür. »Ich bin gleich wieder da. Bis dahin könnt ihr ja mal den Wandschrank und den Schreibtisch durchsuchen. Vielleicht findet ihr etwas Interessantes. Und schaut auch unter der Matratze nach.« Ich eilte die Treppe hinunter. Chrysandra und Luke hatte ich zwar erst nach Jockos Tod eingestellt, aber es war noch eine Person da, die den sanften Riesen gekannt hatte: Peder, der Rausschmeißer der Tagschicht, war schon zu Jockos Zeiten hier gewesen. Ich blätterte das Adressbuch hinter der Bar durch, griff zum Telefon und wählte seine Nummer.

Wie Jocko war auch Peder ein Riese. Aber während Jocko als Kümmerling gegolten hatte, entsprachen Peders Größe und Gewicht ziemlich genau dem Durchschnitt seiner Art. Nach dreimal Klingeln ging er dran.

»Jo?« Seine Sprachkenntnisse waren immer noch begrenzt und sein Akzent einfach grauenhaft, aber ich beherrschte Calouk, den gewöhnlichen Dialekt der ungehobelteren Elemente der Anderwelt, und ging sofort dazu über.

»Peder, hier ist Menolly«, sagte ich, und meine Lippen holperten ein bisschen über die groben Worte, während ich meine Gedanken ins Calouk übersetzte. »Ich weiß, dass du für Jocko gearbeitet hast, aber erinnerst du dich zufällig, wie der Besitzer vor ihm hieß? Gab es mal eine Elfe als Chefin? Ihr Name müsste ... «

»Sabele«, sagte er. »Ja, Sabele war die Chefin vor Jocko. Aber sie ist nach Hause in die Anderwelt. Ist eines Tages verschwunden. Hat niemand nichts gesagt.«

Verschwunden? Es kam mir seltsam vor, dass sie das Medaillon und die Locke zurückgelassen haben sollte. »Wie meinst du das, verschwunden? «

»Sie hat gekündigt. Hat Jocko mir gesagt, als er hergekommen ist.«

Das fand ich sehr merkwürdig. Ich war ziemlich sicher, dass Peder mich nicht belügen würde, aber deshalb brauchte das, was er sagte, noch lange nicht zu stimmen. Riesen waren nicht die Allerneusten, und Peder war auch für einen Riesen keine Leuchte.

»Bist du sicher? Ich habe ein paar ihrer persönlichen Sachen gefunden, als ich eines der Zimmer oben ausgeräumt habe. Sachen, die sie bestimmt nicht einfach zurückgelassen hätte. «

»Das hat Jocko mir gesagt. Er hat gesagt ... er hat gesagt, der AND hat ihm gesagt, dass Sabele von ihrem Posten desertiert ist. Aber sie war echt nett. Ich hab sie gemocht. Hat sich nie über mich lustig gemacht.«

Sein Tonfall sagte mir, dass Peder, genau wie Jocko, sehr empfindlich auf Spott reagierte. Riesen waren überraschend sensible Wesen, nicht wie Trolle oder Oger. Ja, sie waren Trampel, aber sie konnten sehr gefühlvolle Trampel sein.

»Weißt du, ob sie hier irgendwelche Freunde hatte? Einen festen Freund vielleicht? Oder einen Bruder?« Das Gesicht des männlichen Elfen aus dem Medaillon stand mir vor Augen. »Freund? Ja, sie hatte einen Freund. Er ist oft in die Bar gekommen. Ich dachte, sie wären zusammen heim in die Anderwelt und hätten da geheiratet. Lass mich mal nachdenken ...«

Gleich darauf seufzte Peder. »Ich kann mich nur an seinen Vornamen erinnern, Harish. Und ihr Familienname war Olahava. Hilft dir das weiter? «

»Ja«, sagte ich und notierte mir die Namen. »Mehr als du ahnst. Vielen Dank, Peder. Ach, übrigens, du machst deine Sache hier sehr gut. Das weiß ich zu schätzen.« Jeder brauchte ab und zu mal ein Lob. Sogar Riesen.

»Danke, Chefin«, sagte er. Die Freude war ihm deutlich anzuhören.

Als ich auflegte, wurde die Tür geöffnet, ich blickte auf und sah Wade die Bar betreten. Sein schockierend blond gebleichtes Haar war jetzt noch weißer, dank einer weiteren Dosis Peroxyd, und er hatte die Brille aufgegeben, hinter der er sich früher versteckt hatte. Er trug eine schwarze PVC-Jeans - die Götter mochten wissen, wo er die herhatte - und ein weißes T-Shirt. Ein breiter, glänzender Lackledergürtel mit Metallnieten saß tief auf seiner Hüfte. Ich blinzelte überrascht. Wann war Wade denn zum Punk geworden?

Wade Stevens war Psychiater gewesen, ehe er gebissen und verwandelt worden war, und er hatte die Anonymen Bluttrinker gegründet, eine Selbsthilfegruppe für neue Untote. Er war mein erster vampirischer Freund überhaupt geworden, nachdem Camille mich zu seiner Gruppe geschleift hatte.

In letzter Zeit allerdings war er nervös und barsch gewesen, und ich wollte keine Energie darauf verschwenden, den Grund dafür herauszufinden. Ich hatte selbst genug Probleme am Hals, auch ohne einen launischen Vampir. Außerdem gehörte ich nicht zu der Sorte, die andere verhätschelt. Dafür war seine Mutter zuständig. Ja, seine Mutter war einer der Gründe dafür, dass ich nicht mehr mit ihm ausging. Sie war selbst ein Vampir und ein ausgesprochen wirkungsvolles Heilmittel gegen jegliche Anziehung, die Wade einmal auf mich ausgeübt haben mochte. Er beugte sich über den Tresen. »Wir müssen reden. «

»Ich habe zu tun«, brummte ich. Normalerweise war es nicht meine Art, solchen Dingen auszuweichen, aber ich wollte mir wirklich nicht die Stimmung vermiesen lassen. »Kann das nicht warten? «

»Nein. Wir müssen uns jetzt unterhalten«, sagte er, und seine Augen färbten sich rot.

Holla. Gleich so empfindlich, ja?

»Na gut. Hinten, wo die Gäste uns nicht hören.« Ich führte ihn in mein Büro und schloss die Tür hinter uns. »Also schön, was ist so verdammt wichtig, dass es nicht ein paar Stunden warten kann? Oder ein paar Tage?«

Ich wartete, aber er schwieg. Genervt wollte ich mich an ihm vorbeischieben und das Büro wieder verlassen, doch er hob den Arm und versperrte mir den Weg.

»Schön. Ich sage es einfach geradeheraus, weil ich nicht weiß, wie ich da sonst rangehen soll. Ich zermartere mir schon seit Wochen das Hirn, aber es gibt einfach keine andere Möglichkeit. Ich muss ein bisschen mehr Abstand zu dir halten, sonst verdirbst du mir meine Chancen, in den neuen VampirDomänen zum Regenten des Nordwestens zu werden.«

Ich starrte ihn an und konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Du machst wohl Witze. «

»Nein.« Er wedelte mit der Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich bitte dich darum, dich in aller Stille von den Anonymen Bluttrinkern zurückzuziehen. Komm nicht mehr zu den Gruppentreffen. Und nimm in der Öffentlichkeit keinen Kontakt zu mir auf ... wenn wir uns unterhalten oder treffen, muss das unter uns bleiben. Du bist zu einer Belastung für mich geworden, Menolly. Und für die Gruppe.«