Kapitel 6

 

Der Sonnenuntergang weckte mich wie eine sachte Berührung. Ich blinzelte, setzte mich abrupt auf und warf die Decke von mir, ehe mir so ganz bewusst war, wo ich mich befand. Ich brauchte keine Decke. Mir wurde nie kalt, aber ich fühlte mich zu verletzlich, wenn ich nackt schlief, ohne mindestens mit einem Laken zugedeckt zu sein.

Ich streckte mich und gähnte. Noch zwölf Jahre nach meinem Tod gähnte ich aus einem reinen Impuls heraus. Den Sauerstoff brauchte ich nicht, aber die Angewohnheit war während der sechzig Jahre meines Lebens so sehr ein Teil von mir geworden, dass ich sie immer noch nicht abgelegt hatte.

Manchmal überkam mich ein sehr seltsames, hohles Gefühl, wenn ich gähnte, die Luft in meinen Körper und meine Lunge eindrang, mir aber nicht die Erleichterung brachte, die ein lebender Mensch bei jedem tiefen Atemzug empfindet. Die Luftmoleküle sausten durch meine Adern, suchten nach einem Halt, wollten Blutzellen stimulieren, doch da war nichts, woran sie sich binden konnten, nichts, was sie erkannte. Ich stieß den Atem in einem langen Strom aus, und meine Lunge fiel wieder in ihr Schweigen zurück.

So viele Reflexe, die unserem Denken und Verhalten aufgeprägt sind, blieben unsichtbar, bis sie nach dem Tod neue Bedeutung gewannen.

Als ich mich aus dem Bett schob, öffnete sich am Kopf der Treppe die Geheimtür zu meinem Unterschlupf, und Delilah und Camille kamen heruntergetapst. Camille hatte Sabeles Tagbuch dabei.

»Gut, du bist wach. Iris möchte, dass du ihr mit Maggie hilfst.« Manchmal kam eine von ihnen herunter und wartete schon auf mich, wenn ich aufwachte, aber sie waren inzwischen klug genug, sich außer Reichweite zu halten. Wenn ich aufwachte, hatten meine Instinkte mich im Griff, und da konnte ich leicht jemanden verletzen, der mir zu nahe kam.

»Und, ist irgendetwas Weltbewegendes passiert, während ich geschlafen habe?« Und wenn die Dämonen durchbrächen und die ganze Welt in Flammen aufgehen ließen - im Gegensatz zu jemandem, der nur ein Nickerchen machte, würde ich es nicht merken, ehe die Sonne unterging.

»Ich habe Sabeles Tagebuch übersetzt«, sagte Camille, legte sich auf dem Bauch auf mein Bett, winkelte die Beine an und kreuzte die Knöchel in der Luft. Die Stilett-Absätze an ihren Schuhen sahen gefährlich spitz aus. »Und ich muss euch sagen, sie war eine sehr faszinierende Elfe. Außerdem wurde sie von irgendeinem unheimlichen Stalker verfolgt.«

Delilah reichte mir meine Jeans, und ich glitt hinein. Was Jeans anging, war meine Meinung klar: je enger, desto besser. Meine Blutzirkulation schnürte nichts mehr ab. Wenn ich darin nicht kämpfen konnte, waren sie natürlich nur eine Verschwendung von Stoff, aber ansonsten mochte ich sie schön eng. »Unerwiderte Liebe?«, fragte ich und zog mir einen seidenen Rollkragenpullover über den Kopf.

»Du solltest etwas mit Spaghettiträgern anziehen. Es ist sehr warm draußen«, bemerkte Delilah.

Ich schüttelte den Kopf. »So weit bin ich noch nicht. Außerdem machen Hitze und Kälte mir nichts aus.« Obwohl ich mich von meinem Meister befreit hatte, schämte ich mich immer noch der wirbelnden Muster, die Dredge mit seinen spitzen Fingernägeln und einem Dolch in meine Haut geritzt hatte. Ich war noch nicht so weit, dass ich mich in Kleidung wohl fühlte, die sie enthüllte. Ich beugte mich vor und schnürte meine Stiefel zu.

»Unerwiderte Liebe?«, wiederholte Camille. »Seltsamerweise nein. Das würde man vermuten, aber dieser Kerl - Moment, welche Seite war das?« Sie blätterte in dem Journal herum. »Ja, hier steht es. Der Kerl hieß Harold Young. Anscheinend hat er an der University of Washington studiert. Harold ist Sabele gefolgt, aber er hat nie versucht, sie anzusprechen, um eine Verabredung zu bitten oder so etwas. Sabele wurde er allmählich unheimlich. Dann hat er sie fünf Abende hintereinander nach Hause verfolgt. Am sechsten Tag ... na ja, die Seite ist leer. Danach hat sie nichts mehr geschrieben.«

Ich blickte von meinen Stiefeln zu ihr auf, und als ich den Kopf hob, verfing sich einer meiner Zöpfe in den Fransen der Tagesdecke. Die Fäden hatten sich um eine der Elfenbeinperlen verwickelt, die in meine dünnen Zöpfe eingeflochten waren. Delilah eilte herbei, als ich versuchte, mich zu befreien.

»Langsam, du machst noch die Decke kaputt, wenn du nicht aufpasst.«

Während sie die Fäden entwirrte, glomm ein verspieltes Blitzen in ihren Augen auf. Sie starrte wie gebannt meine kupferroten Zöpfe und die Fransen an. O Scheiße, ich wusste, was das bedeutete.

»Lass mein Haar los und tritt langsam zurück«, sagte ich und packte hastig meinen Zopf, den sie in der Hand hielt. »Ich mache das schon.«

Sie zitterte kurz, atmete schwer, und streckte dann mit glasigen Augen erneut die Hand aus. Einen Moment und einen kleinen, strudelnden Farbenwirbel später hing ein goldenes Tigerkätzchen an meinen Zöpfen und grapschte mit einer Begeisterung um sich wie ein Kind in einem Süßwarenladen. »He! Du kleines M...« Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber mein Zopf war immer noch in die Fäden verwickelt. Delilah packte mein Haar fester.

Camille eilte herbei und hob sie hoch, was ihr einen netten kleinen Kratzer am Arm eintrug. Ich beschloss, mir eben eine neue Tagesdecke zu kaufen, rupfte den Zopf mitsamt den Fransen ab und zerriss dabei den Stoff. Aber ich war frei. Ich drehte mich um und sah Camille, die Delilah über ihren Kopf hob, die Hände um die pelzige Mitte unserer Schwester geschlungen. Delilah miaute kläglich und wand sich mit aufgerissenen Augen und gespreizten Zehen, zwischen denen Haarbüschelchen hervorlugten.

»Bist du frei?«, fragte Camille.

Ich nickte, und sie warf Kätzchen auf mein Bett. Delilah schoss sofort los, quer durchs Zimmer und die Treppe hinauf auf der rasenden Suche nach - na ja, worauf immer Katzen es abgesehen haben mochten, wenn sie so etwas taten.

»Zum Teufel. So hatte ich die Nacht eigentlich nicht anfangen wollen«, sagte ich und betrachtete die ruinierte Tagesdecke.

»Aber es ist nicht so schlimm. Vielleicht kann Iris das flicken, wenn sie mal Zeit dazu hat.«

Camille löste die verhedderte Franse von meinem Haar und musterte mich von oben bis unten. »Hast du schon mal über eine andere Frisur nachgedacht? Dein Haar sah so hübsch aus, als du es lang und lockig getragen hast. «

»Was glaubst du, warum ich es so trage?«, erwiderte ich. »Denk mal darüber nach. Wenn ich kämpfe, kommt es mir nicht in die Quere. Wenn ich jage, ist es hinterher nicht mit Blut getränkt. Und ... na ja, ganz allgemein finde ich diese Frisur ziemlich cool. «

»Tja, dann mach die Zöpfe wenigstens ab und zu mal auf und wasch dir die Haare. Ich kann sie dir ja danach wieder flechten.« Sie warf die Franse in den Mülleimer. »Einfach nur den Kopf unter die Dusche zu halten und zu hoffen, dass das Shampoo irgendwie durch diese dichten Zöpfchen dringt, ist nicht gerade hygienisch.«

Ich starrte sie an, belustigt über diese bizarre Unterhaltung. »Ich bin tot, Camille. Glaubst du wirklich, dass es hygienisch ist, sich in allernächster Nähe zu mir aufzuhalten? «

»Ich weiß es nicht. Ist es das nicht?« Sie runzelte die Stirn. »Also, eigentlich denke ich überhaupt nicht mehr daran. Wenn jemand tot ist, bedeutet das für mich, dass er in der Erde verrottet oder nach einem Kampf in einer Blutlache am Boden liegt und nicht wieder aufsteht. Da du in keine dieser beiden Kategorien fällst, habe ich dich aus der Dead Zone aussortiert und irgendwo unter Geschöpfe der Nacht eingeordnet.«

Ich lachte laut. »Das ist das Abgefahrenste, was du heute gesagt hast.« Ich warf einen Blick zur Treppe. »Meinst du, Delilah kommt bald wieder runter? «

»Ich weiß es nicht. Kommt darauf an, ob irgendwas sie abgelenkt hat. «

»Ach, was soll's.« Ich bedeutete ihr, mir zu folgen. »Gehen wir nach oben. Also, du hast gesagt, der Mann, der Sabele verfolgt hat, hieß Harold?« Ich hatte mich schon gefragt, ob Sabeles Freund vielleicht von der üblen Sorte gewesen war, aber der hieß Harish.

Camille folgte mir die Treppe hinauf und schaltete oben das Licht aus. Wir schoben uns hinter dem Bücherregal hervor, das den geheimen Eingang zu meinem Unterschlupf verbarg, in die Küche und entdeckten als Erstes Iris, die auf einem Schemel saß und sich mit frustrierter Miene über Maggie beugte.

»Bitte, Kleine, nun iss doch dein Abendessen ...« Sie blickte auf, als wir die Küche betraten. »Bin ich froh, dass du da bist. Vielleicht bringst du sie dazu, etwas zu essen. «

»Was hat sie denn?« Ich beugte mich über Maggie, und das Gargoyle-Baby verzog das Gesicht und stieß eine Reihe ängstlicher Muuf-Laute aus. Ich streckte ihr die Arme entgegen, aber Maggie, die normalerweise auf mich zugewackelt kam, sobald sie mich sah, hockte schniefend vor mir.

»Sie will ihr Abendessen nicht, sie will ihre Sahnemischung. Aber sie muss feste Nahrung zu sich nehmen. Wir sollten sie bald von der Ersatzmilch wegbekommen.« Iris seufzte und schob das Tellerchen mit Lamm-Hackfleisch und Gemüse Maggie hin, die es prompt wegschob und eine Schnute zog.

Wir entwöhnten sie gerade von ihrer Mischung aus Sahne, Zucker, Zimt und Salbei, aus der ihre Nahrung bis vor kurzem hauptsächlich bestanden hatte. In dem Buch über WaldGargoyles stand, dass sie altersmäßig bereit war für ihre zweite Nahrungsstufe - Hackfleisch mit Kräutern und Gemüse zweimal täglich, und die Sahne -, die Gargoyle-Muttermilch nachahmte einmal pro Tag. Irgendwann würden wir ihr dann Mäuse zum Jagen vorsetzen und ihr schließlich beibringen, selbst für sich zu sorgen.

Iris bot Maggie erneut das Lamm an. Diesmal schnappte sich das kleine Schildpatt-Fellknäuel eine Handvoll der HackfleischGemüse-Mischung, doch statt sie zu essen, bewarf sie mich damit und traf mich mitten im Gesicht.

»Danke sehr«, sagte ich. Iris reichte mir ein Tuch, und ich wischte mir das Fleisch vom Gesicht. » Troll am Spieß, warum geben wir ihr nicht einfach eine Schüssel Sahne? Wir können sie nicht hungern lassen, und es ist offensichtlich, dass sie ihr Fleisch heute Abend nicht essen will. «

»Nein«, widersprach Camille. »Es wird ihr nicht schaden, eine Mahlzeit auszulassen, aber sie muss lernen, Fleisch zu fressen. Das braucht sie, damit ihre Knochen und Flügel gut wachsen. Sie kann heute Abend ruhig ohne Essen ins Bett gehen.« Iris seufzte. »Du hast recht. Ich bringe sie in mein Schlafzimmer und lege sie hin.«

Als Iris mit der heulenden Maggie hinausging, setzten Camille und ich uns an den Tisch. »Wo waren wir gerade?«, fragte sie. »Du wolltest mir von diesem Harold erzählen, den sie in ihrem Tagebuch erwähnt. Glaubst du, er hatte irgendetwas mit ihrem Elfen-Freund zu tun? «

»Ach ja, richtig! Nein, auf gar keinen Fall. Harish, ihr Freund, ist anscheinend von Königin Asteria dauerhaft hierher versetzt worden. Hier steht, er ist ein Technomagus, der so viel wie möglich über die Erdwelt-Technologie lernen soll, damit er die Information mit nach Hause bringen und Möglichkeiten finden kann, die menschliche Technik mit der Elfenmagie zu verbinden. «

»Glaubst du, dass er noch hier ist?« Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch, streckte die Hand aus und spielte mit einem der Zahnstocher aus dem Kristallbecher.

»Das kann ich herausfinden.« Delilah lugte vom Flur zu uns herein. Sie schlüpfte durch den Türspalt, öffnete den Kühlschrank, goss sich ein Glas Milch ein und schnitt sich ein Stück Apfelkuchen ab. »Das gerade eben tut mir leid«, sagte sie lächelnd. »Dein Kopf ist für eine Katze eine einzige Versuchung, weißt du?«

Camille rückte ihr einen Stuhl zurück. »Ja, wissen wir. «

»Wie gesagt, Tim und ich können das Register der UWGemeinde durchforsten, vielleicht finden wir etwas über einen Elf namens Harish. Das dürfte mit Hilfe der Suchfunktion nur ein paar Minuten dauern. «

»Gute Idee«, sagte Camille. »Wenn das nichts bringt, fragen wir Morgana, ob sie etwas weiß. Die Drohende Dreifaltigkeit behält die hiesige Elfen- und Feenpopulation gut im Auge.« Delilah schnaubte so laut, dass ihr Milch aus der Nase spritzte. »Eines Tages werden sie dir dafür den Hintern versohlen. Und du wirst nicht tief oder schnell genug kriechen können, damit sie dir je verzeihen.« Seit einer Weile bezeichnete Camille die drei Königinnen der Erdwelt-Feen als Drohende Dreifaltigkeit. Bisher hatten Titania, Aeval und Morgana sie sich deswegen noch nicht vorgeknöpft.

»Ach, und wenn schon - schießt Camille eben aus dem Horn des Schwarzen Einhorns einen Blitz auf sie ab. Der dürfte sie hübsch aufbacken«, sagte ich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Kommt schon, die Uhr tickt.

Ich habe im Sommer nicht viel wache Zeit, also machen wir uns an die Arbeit.«

Iris kehrte zurück. »Sie liegt in ihrem Bettchen. Hoffentlich bleibt sie da auch.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Ich bin heute Abend verabredet, also kann ich nicht auf sie aufpassen. «

»Bruce?«, fragte Camille.

»O ja, und er holt mich in etwa einer Stunde ab.« Ich räusperte mich. »Du magst Bruce wirklich, nicht wahr?«

Sie errötete. »Ja. Er mag ein Leprechaun sein, aber er hat ein gutes Herz. Auch wenn er zu gern flunkert. Wir haben heute Abend etwas zu feiern. «

»Was, ist eine neue Biersorte auf den Markt gekommen?« Ich mochte Bruce, aber um ehrlich zu sein, freute ich mich nicht gerade darüber, dass Iris außer uns noch ein anderes Leben hatte. Falls sie jemals beschließen sollte, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen, wären wir aufgeschmissen.

Iris warf mir einen vernichtenden Blick zu, während sie die letzten Teller in die Spülmaschine räumte. »Nein. Und rede nicht so gemein über meinen Freund. Bruce ist von der University of Washington eingestellt worden. Er wird irische Geschichte und keltische Mythologie unterrichten. Vorübergehend - nur ein Semester ab dem Herbst. Die Professorin, die das sonst lehrt, nimmt sich ein Semester frei, um ein Baby zu bekommen.«

Delilah schluckte den letzten Bissen Kuchen. »Findest du nicht, dass du ein bisschen netter zu ihm sein könntest? Er ist ein Schatz, und obendrein saukomisch. «

»Schon gut, schon gut«, sagte ich. »Es tut mir leid. Ich fürchte nur, du könntest mit ihm durchbrennen und hier ausziehen. Und glaub mir, das würde keiner von uns gefallen.« Mit einem Lachen so hell und klar wie ein Bergbach schüttelte Iris den Kopf. »Bei meinen Sternen, bist du deshalb immer so unhöflich zu Bruce? Er glaubt schon, du magst seinesgleichen nicht! Menolly, gerade du solltest wissen, dass ihr Mädchen jetzt meine Familie seid. Falls Bruce und ich heiraten, müssen wir uns eben hinten im Garten ein Häuschen bauen und da wohnen. Ich habe geschworen, in diesem Krieg gegen Schattenschwinge an eurer Seite zu kämpfen. Ich werde euch nicht im Stich lassen.«

Ich war gerührt von ihrer Loyalität und kam mir vor wie der letzte Idiot. »Es tut mir leid. Ganz ehrlich. Bitte richte Bruce aus, dass ich mich bei ihm entschuldigen möchte. Geh mit ihm aus, und feiert schön. Wir finden schon einen Babysitter für Maggie.«

In diesem Moment erglühten die polierten Quarznadeln, die in einem Kreis auf dem Beistelltisch standen. Der Kreis begann laut zu summen, so durchdringend und unangenehm, dass ich das Gesicht verzog. Camilles Banne waren gebrochen worden. Ein Eindringling war auf unserem Grundstück - jemand, der uns nichts Gutes wollte.

»Scheiße, es gibt Ärger«, sagte Delilah.

»Ach, um Himmels willen. Das muss ausgerechnet jetzt passieren, wo ich mich gerade fertig machen wollte«, brummte Iris und warf den Kristallen einen finsteren Blick zu. Sie riss sich die Schürze herunter.

Camille sprang auf. »Wer geht draußen nachsehen? Morio und Smoky sind nicht da, und ich habe keine Ahnung, wohin Roz und Vanzir verschwunden sind. «

»Warte hier, wir sagen Bescheid, wenn wir dich brauchen. Ich gehe zuerst«, sagte ich, »weil ich mich lautlos anschleichen kann. Kätzchen, willst du auf vier Pfoten mitkommen?«

Als ich zur Tür ging, nahm Delilah rasch ihre andere Gestalt an und tapste mir hinterher. Camille ging ins Wohnzimmer, holte ihren und Delilahs Silberdolch und baute sich kampfbereit in der Küche auf. Iris verzog sich in ihr Schlafzimmer, um Maggie zu bewachen.

Leise öffnete ich die Hintertür und beugte mich hinaus in die warme Nacht. Die Sterne leuchteten, und der Mond war noch am Himmel zu sehen, zunehmend und golden. Die Bäume schwankten leicht in einer gemächlichen Brise, so dass ihre dunklen Silhouetten vor dem indigoblauen Himmel tanzten. Ich lauschte, ließ mich von der Nacht umströmen und sortierte die Eindrücke danach, was normal war und was nicht hierher gehörte.

Unser Haus war ein altes viktorianisches Gebäude, drei Stockwerke hoch, wenn man meinen Keller nicht mitzählte. Es stand auf einem riesigen Grundstück am Rand von Belles-Faire, einem Vorort von Seattle. Unser Land war wild und zugewuchert, und ein Pfad durch das Wäldchen führte hinab zum Birkensee, wo wir mitternächtliche Rituale und die Feiern zu den Festtagen abhielten. Das Haus selbst stand auf einem offenen Stückchen Land, umgeben von ein paar riesigen, schattenspendenden Bäumen. Im eigentlichen Garten lagen diverse Beete: Camilles Kräutergarten, Iris' Küchengarten und ein paar berauschend duftende Blumenbeete, die ich nie bei Licht betrachten konnte, um die wahren Farben der Blüten zu sehen.

Während ich abwartend vor der Tür stand, erregte ein Geräusch meine Aufmerksamkeit. Zunächst war es kaum hörbar, dann wurde es lauter. Es kam von dem Pfad, der zum Weiher führte, und ich glitt die Hintertreppe hinab und durch die Schatten in diese Richtung. Delilah folgte mir und verschmolz in ihrer Katzengestalt so gut mit den Schatten der Büsche, dass ich nur anhand ihrer Körperwärme erkennen konnte, wo sie war.

Ich schlich mich durch den Garten und wünschte, meine Fähigkeit, mich in eine Fledermaus zu verwandeln, würde sich endlich entfalten. Aber die Gestaltwandlung hatte ich noch nicht gemeistert, sosehr ich mich auch bemühte. Sobald ich mich in Mausengel-Gestalt in die Luft erhoben hatte, war ich zu zögerlich und wurde von den Aufwinden und sonstigen Luftbewegungen davongeweht. Meine besonderen Kräfte waren dabei eher ein Hindernis.

Als ich mich der Stelle näherte, wo der Pfad zwischen den Bäumen verschwand, wurde der Lärm auf einmal ganz deutlich. Blätterrascheln, Zähneknirschen. Eins mit den Bäumen, bewegte ich mich wie ein Schatten durch die Nacht und berührte dabei kaum den Boden.

Der Lärm nahm zu; er wich nach rechts ab, vom Pfad weg in den Wald. Ich musterte abschätzend das Unterholz. Vampirin hin oder her, ich konnte immer noch Zweige zerbrechen, wenn ich unglücklich darauf trat. Ich sprang an einer der Tannen hoch und hielt mich am Stamm fest. Im Leben war ich Akrobatin gewesen - eine Spionin, die sich an Decken festkrallen und jeden noch so kleinen Halt in einer Mauer finden konnte, solange mein halb menschliches Erbe nicht alles durcheinanderbrachte, so dass ich plötzlich auf den Boden knallte. Meistens hatte es funktioniert. Das eine Mal, als ich wirklich dringend darauf angewiesen war, hatte es nicht funktioniert, weshalb ich jetzt ein Vampir war. Doch vampyr zu werden, hatte meine Fähigkeiten gesteigert.

Ich glitt von Baumstamm zu Baumstamm weiter, lief leichtfüßig auf Asten entlang und sprang von einem Baum zum nächsten. Der Wald war sehr dicht, die Bäume wuchsen nah beieinander, und das machte es mir leicht, mich der Lärmquelle zu nähern, ohne den Waldboden zu berühren.

Eine Lichtung vor mir versprach endlich einen Blick auf das, was die Banne durchbrochen hatte. Zumindest hoffte ich, dass ich dem richtigen Lärm auf der Spur war und nicht Speedo, den Bassett der Nachbarn, verfolgte. Doch während ich mich an eine der riesigen Zedern am Rand der kleinen Wiesenfläche klammerte, verrauchte meine Sorge. Was ich sah, war allerdings auch nichts, was ich mir erhofft hätte.

Auf der Lichtung, über einen umgestürzten Baum gebeugt, stand ein gedrungener, kleiner Mann. Seine Haut war ledrig, hatte die Farbe von altem Schimmel und hing im Gesicht schlaff in Falten. Das Gesicht war außerdem mit Geschwüren und Fisteln bedeckt, die bei jeder Bewegung seines Kiefers zu platzen drohten. Er kaute an etwas, und als ich die Augen zusammenkniff, um meinen Blick zu fokussieren, erkannte ich, dass ein totes Opossum auf dem Baumstamm lag. Unser hässlicher Besucher zerrte mit scharfkantigen, gelben, teils abgebrochenen Zähnen an dem glitschigen, rohen Fleisch.

Ein Ghul. Es drehte mir den Magen um. Wir hatten einen Ghul im Garten. Was bedeutete, dass irgendwo in der Nähe ein Nekromant stecken musste, der Tote beschwor. Nicht die Sorte Nachbar, die wir uns so wünschten.

Ghule waren fiese Gegner. Wenn man sie nicht vollständig zerstörte, kämpften sie immer weiter, bis von ihnen buchstäblich nur noch Brei übrig war. Feuer war gut, aber mit Feuer hatte ich es nicht so. Ich konnte ihn binnen Sekunden niedermachen, aber bis wir eine Möglichkeit fanden, ihn dauerhaft außer Gefecht zu setzen, würde das, was von ihm übrig blieb, einfach immer weiter auf uns losgehen. Schlimmer noch, der Nekromant würde sein abscheuliches Geschöpf bis zu uns verfolgen können. Ich blickte unter mich. Delilah verbarg sich im Gebüsch unter mir und starrte den Ghul wie gebannt an. Sie blickte zu mir auf. Langsam glitt ich an dem Baum hinunter und achtete darauf, den Ghul ja nicht auf mich aufmerksam zu machen. »Delilah«, flüsterte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob sie mich gehört hatte, bis sie nickte. »Lauf zurück und sag Camille und Iris, dass wir einen Ghul hier draußen haben. Camille soll das Horn mitbringen - falls da noch Kraft drin-steckt. Wir müssen dieses Ekel vollständig verbrennen, wenn wir ihn am Boden haben. Ich bleibe hier und behalte ihn im Auge. Vielleicht kann ich ihn irgendwie festsetzen.«

Wieder nickte sie und sauste dann in Richtung Haus davon. Ich wandte mich wieder dem Ghul zu. Komm spielen, dachte ich, während die widerlichen Geräusche, mit denen sein Kiefer an den Sehnen des Opossums rupfte, meine Ohren bombardierten. Mein Gehör war außerordentlich scharf, und ich konnte Geräusche ausblenden, wenn ich wollte, aber im Augenblick musste ich aufmerksam und voll konzentriert sein. Ich schätzte den Abstand zwischen uns ab, sammelte mich und sprang. Der Ghul hörte mich erst, als ich einen guten halben Meter hinter ihm landete. Er riss den Kopf hoch, als ich das Bein seitlich durch die Luft sausen ließ und ihn mitten auf den Rücken traf. Er taumelte und trug obendrein eine hässliche Schnittwunde von meinem spitzen Absatz davon. Diese OmaSchnürstiefel waren gleich mehrfach praktisch, fand ich, vor allem die hochhackigen.

Der Ghul grunzte - die meisten konnten nicht reden, von schreien ganz zu schweigen -, kippte nach vorn über den Baumstamm und landete genau auf dem Opossum-Kadaver. Ich konnte ihn natürlich nicht töten. Er war schon tot. Aber vielleicht konnte ich ihn außer Gefecht setzen, bis Camille mit dem Einhorn-Horn hier ankam.

Er wollte sich wieder hochrappeln. Wie Zombies, so machten auch Ghule einfach immer weiter, bis sie zerstört wurden. Ein bisschen wie ein durchgeknallter Duracell-Hase. Das eigentliche Problem bei Ghulen war jedoch, dass sie im Gegensatz zu Zombies noch ein gewisses Maß an Verstand besaßen. Sie waren keine Genies, aber noch bewusst genug, um Befehle zu befolgen. Ich war nicht sicher, was diesen Unterschied verursachte musste irgendwie an der Magie liegen, mit der sie erweckt wurden. Dieser Kerl war sicher nicht nur ein dahinschlurfender Leichnam.

Als er sich aufrichtete, trat ich ihm wieder in den Rücken, sprang auf ihn und verzog das Gesicht ob des Gestanks, der von ihm aufstieg. Überreif um ein gutes Jahr, schätzte ich. Ich packte seinen Kopf mit beiden Händen und brach ihm das Genick. Auch das würde ihn nicht umbringen, aber je mehr Glieder ich unbrauchbar machen konnte, desto schwieriger würde es für ihn werden, uns anzugreifen. Und dann kam mir ein Gedanke - er würde sich ohne Kopf noch genauso bewegen, aber er würde uns nicht mehr sehen können. Zumindest sollte es so sein.

Ich riss energisch an seinem Kopf, denn ich wollte nicht unbedingt die Zähne einsetzen, um ihm den Hals durchzubeißen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Ich war wesentlich stärker als der Ghul, und es könnte zwar ein Weilchen dauern, aber ich war sicher in der Lage, ihm sämtliche Glieder eins nach dem anderen auszureißen.

Bedauerlicherweise war ich so darauf konzentriert, unseren Besuch in seine Einzelteile zu zerlegen, dass ich nicht darauf achtete, was hinter mir geschah. Ein heftiger Tritt in den Rücken brachte mich aus dem Gleichgewicht.

Ich ging zu Boden, rollte mich ab und schnellte à la Bruce Lee sofort wieder auf die Füße. Als ich herumwirbelte, starrte ich in das Gesicht eines großen Mannes in einer Lederjacke. Buschiges Haar fiel ihm bis über die Schultern, ein noch buschigerer Bart hing ihm auf die Brust. Er erinnerte an die Typen von ZZ Top, nur muskulöser und wesentlich weniger freundlich.

Mit ausgefahrenen Reißzähnen und glühend roten Augen nahm ich meine Kampfhaltung an, bereit, es mit ihm aufzunehmen.

Er lächelte sanft, hob einen langen, hölzernen Pflock und zielte damit direkt auf mich. »Möchtest du dich wirklich mit mir anlegen? Wenn du versuchst, gegen mich zu kämpfen, werde ich dich so schnell zu Staub zerblasen, dass du nicht mal mehr dazu kommst, mit diesen entzückenden, blutroten Augen zu zwinkern. Jetzt tritt langsam von dem Ghul zurück, oder ich verarbeite dich zu Shish Kebab. Du kannst es dir aussuchen. Also?«