Kapitel 22

 

Während wir um die besten Angriffspositionen rangelten, bewegten sich die Ghule als geschlossenes Rudel auf uns zu. Ich bedeutete den anderen, sich ein bisschen zu verteilen. Delilah und Chase rückten nach rechts, Camille, Morio und Vanzir zogen nach links hinüber. Roz und ich hielten uns in der Mitte. Die Ghule zögerten und spiegelten dann unsere Strategie allerdings waren sie sehr viel mehr als wir. Wie nett, eine solche Auswahl zu haben, dachte ich trocken und versuchte, die Stärksten aus dem Pujk herauszupicken. Roz und ich waren am besten dafür geeignet, uns diejenigen mit der größten Kraft vorzunehmen. Wir hatten Glück; die massigsten Mistviecher hielten direkt auf uns zu.

Ich hörte, wie die anderen tief Luft holten, als unsere Gegner uns erreichten. Und dann - in diesem Sekundenbruchteil, da im Kampf alles still ist, die Linien stehen und man nur noch auf das letzte Signal wartet - machte ich mich bereit und sprang vor, gefolgt von Roz.

Gebrüll erhob sich, als die anderen ebenfalls vordrangen, aber ich sah nur noch die beiden Ghule, die auf mich losrannten. Oder jedenfalls schlurften, so schnell sie konnten. Das Fleisch hing ihnen an den Knochen wie leere Kartoffelsäcke. Schimmel klebte an der fauligen Masse, und die eitrigen Geschwüre verliehen ihren Gesichtern ein klumpiges Aussehen.

»Du brauchst dringend Clearasil«, brummte ich und schlug auf den größten ein. Trotz der herabhängenden Schultern und des humpelnden Gangs überragte er mich bei weitem. Ich rammte ihm die Faust in den Bauch in der Hoffnung, dass er sich krümmen würde und ich an seinen Kopf gelangen konnte. Toten Dingern konnte ich den Kopf einfach abreißen, wenn ich mir etwas Mühe gab. Nicht angenehm, aber es behinderte sie ziemlich, wenn sie ihren Feind nicht mehr ausmachen konnten. Das erlaubte es jemandem mit einer Klinge, vorzustoßen und sie in Stücke zu hauen.

Der Ghul gab ein tiefes Röhren von sich - was bei ihm wohl einem Schrei gleichkam -, und ich sprang auf seinen Rücken und verzog das Gesicht, als ich die Arme um seinen Hals schlang.

Mein Satz brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er taumelte rückwärts. Ich stieß ihn zu Boden, trat hinter seinen Kopf und schob ihn an den Schultern hoch, bis er saß. Ich kam schlecht an seinen Hals heran, während er am Boden lag. Er schlug nach mir und versuchte, sich zu entwinden, aber in diesem einen Punkt war ich im Vorteil: Ich war sehr viel stärker als er.

Ich brachte mich so in Position, dass ich sein Kinn in der linken Hand hielt und mit der rechten seinen Nacken fixierte. Mit einem scharfen Ruck nach links knallte mir das Krachen berstender Knochen in den Ohren, aber ich war noch nicht fertig. Mit einem gebrochenen Genick hatten Ghule kein Problem. Nein, ich musste den Kopf schon ganz abreißen.

Ich drückte noch fester zu, hörte verwesende Haut reißen, und dann sah ich Muskeln - nicht mehr fest und geschmeidig, sondern schwammig und faulig. Mit noch mehr Kraft riss ich den Kopf herum, die Halswirbelsäule zerfiel vollends, und binnen Sekunden hockte ich da, den Kopf des Ghuls in den Händen. Die Augen blinzelten mich überrascht an, drückten aber keinerlei Schmerz aus.

»Bäh«, murmelte ich und warf den Kopf möglichst weit weg vom Körper. »Ich brauche hier eine scharfe Klinge!« Morio kam mit blankem Schwert auf mich zu. Während der Ghul blindlings um sich schlug, sprang Morio vor und zurück und hackte auf ihn ein. Ich überließ ihm die restliche Arbeit allein und sah mich nach den anderen um.

Delilah und Chase arbeiteten zusammen und droschen auf einen der Ghule ein, während ein zweiter Untoter vom Boden aus nach Chase schlug. Für mich sah es aus, als hätte der Ghul schon ein paar gute Treffer gelandet. Wir würden dafür sorgen müssen, dass nachher alle behandelt wurden; Wunden von Untoten, vor allem Ghulen und Zombies, entzündeten sich leicht.

Camille hielt eine Energiekugel in den Händen, und als einer der Ghule sie angriff, wich sie zur Seite aus. Doch statt auf ihren Gegner zu zielen, warf sie die Kugel mitten in das Rudel hinein, wo sie den meisten Schaden anrichten würde. Ich wandte mich schnell ab und bedeckte die Augen, als sie aufschlug und krachend explodierte. Der Gestank von versengtem Fleisch verbreitete sich, und Camille begann zu husten.

In diesem Moment war ein lautes Kreischen zu hören, und ein großer Vogel stieß herab, aber nicht auf uns, sondern auf einen der angekokelten Ghule. O Mist, ein Vulturaptor -ein untoter Geier. Die waren viel gefährlicher als die Ghule. Wir hatten definitiv einen ausgewachsenen Nekromanten in der Gegend, der ernsthaften Schaden anrichten konnte. Zum Glück für uns waren Vulturaptoren nicht wählerisch bei ihren Mahlzeiten.

Ich warf einen Blick hinüber zu Vanzir, der gerade kurzen Prozess mit seinem zweiten Ghul machte. Mit einer Hand packte er das Wesen an der Kehle, die andere verkrallte er in dessen Haar und riss. Kräftig. Mir war nicht klar gewesen, wie stark er tatsächlich war, denn er riss dem verdammten Ghul den Kopf einfach von den Schultern. Die Knochen splitterten wie Zweiglein. Aber es war durchaus möglich, dass dieser weibliche Ghul zu Lebzeiten Osteoporose gehabt hatte und ihre Knochen deshalb so mürbe waren. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Roz ging mit einer tödlichen Klinge zu Werke. Er hackte und schlitzte sich durch den Ghul, der vor ihm stand, um dann Chase zu Hilfe zu kommen. Er schleuderte den Ghul beiseite, der versuchte, am Ellbogen des Detectives zu kauen.

»Danke, Mann!«, rief Chase ihm zu und wich einem Schlag des Ghuls vor ihm aus.

Delilah hob ihren langen Dolch. Die Klinge hatte einen bedrohlichen, bläulichen Schimmer. Unser Vater hatte nicht nur jeder von uns einen silbernen Langdolch geschenkt -Delilahs Klinge hatte sogar kürzlich mit ihr gesprochen und ihr ihren Namen genannt, was bedeutete, dass die beiden nun eng verbunden waren.

»Lysanthra!« Delilahs Stimme hallte durch das abendliche Dunkel und schreckte einen Vogel aus einem nahen Baum auf. Als ich hochschaute, blinkten die ersten Sterne vor diesem Himmel auf, irgendwo zwischen Blau und Dunkelgrau. Einen Moment lang sah es so aus, als fahre von einem der fernen Himmelskörper ein silbriges Licht herab in die Spitze der Klinge, aber das konnte nicht sein. Delilah lachte und stieß den Dolch in den Ghul, gegen den sie und Chase gerade kämpften. Für den Bruchteil einer Sekunde schien alles still zu stehen, dann nuschelte der Ghul etwas und kippte einfach um.

Was zum ...? Das muss die Silberklinge sein, dachte ich und sah zu, wie Roz übernahm und den Ghul zerhackte, während Delilah und Chase sich den nächsten vornahmen. Ich verschaffte mir einen kurzen Überblick.

Camilles Zauber hatte drei Gegner ausgeschaltet. Gut gemacht! Sie roch selbst ein wenig angesengt, aber immerhin stand sie noch, und sie hatte sich nicht wieder schwer verbrannt. Vanzir kümmerte sich gerade um den nächsten Ghul, und es sah aus, als hätten wir schon das halbe Rudel geschafft.

Ich schnappte mir den nächsten, schwächer als mein erster Gegner und leichter zu packen. Ich dachte mir, Warum eine Strategie ändern, die funktioniert?, und versuchte es noch einmal mit der Kopf-ab-Nummer. Gleich darauf machte ich mich über den dritten her, während Morio hinter mir endgültig aufräumte.

Gemeinsam mit Chases Männern schlugen wir eine Schneise in das Rudel, ohne selbst größere Verletzungen zu erleiden, obwohl Chase ein paar Kratzer abgekriegt hatte, die versorgt werden mussten.

Während ich dastand und die Lage einschätzte, bemerkte ich einen letzten Ghul ein Stück abseits, aber der duckte sich hinter einen Azaleenbusch, als hätte er Angst. Ghule waren emotional eher zurückgeblieben, und Angst kannten sie eigentlich gar nicht, weshalb mich sein Verhalten sehr wunderte. Verdammt, der machte es mir fast zu leicht. Ich lief hinüber, um ihn in sein Grab zurückzuschicken, doch plötzlich hielt ich inne.

Martin. Dieser Ghul war Martin. Großartig. Steckte unser Nachbar Wilbur hinter alledem? Ich stöhnte, als die anderen mich einholten.

»Was hast du denn - ach, du Scheiße«, sagte Delilah. »Das ist Martin, oder?«

»Ja, das ist er, aber er will wohl nicht mit uns reden.« Ich schüttelte den Kopf und überlegte, ob ich uns von ihm erlösen oder ihn in Ruhe lassen sollte.

Er versuchte nicht, uns anzugreifen, und falls er auch etwas von dem alten Mann gefressen haben sollte, war davon jedenfalls nichts zu sehen. Er hatte kein verschmiertes Blut im Gesicht und keine fragwürdigen Flecken auf dem Hemd. Er war sogar ziemlich konservativ gekleidet, in einen fadenscheinigen Nadelstreifenanzug, und sein Genick, das ich ja gebrochen hatte, war in Ordnung gebracht worden. Wilbur hatte ein hübsches, glattes Stahlhalsband darumgelegt und verschweißt, mit einer Stütze im Nacken, die den Kopf oben hielt. Hurra, Frankensteins Monster im schicken Zwirn.

»Wartet - bitte tut ihm nichts!« Die Stimme drang schwach an meine Ohren, und ich wirbelte herum. Aus der Dunkelheit, die rasch immer tiefer wurde, kam Wilbur herbeigerannt. Wilbur, der Nekromant.

Chase blickte verwirrt drein. »Sollten wir das Ding da nicht ausschalten?«

»Der da heißt Martin, und er gehört unserem Nachbarn.« Ich sah ihn an und legte ein Ich weiß, ich weiß in meinen Blick. »Ach so. Wunderbar. Na, dann ist ja alles klar.« Chase schnaubte genervt und gab seinen Männern einen Wink.

»Sammelt diese Schweinerei ein, aber seid vorsichtig. Manche dieser ... Teile ... könnten noch nicht ganz tot sein. «

»Augenblick mal«, sagte ich. »Vielleicht kann uns da jemand helfen.« Als Wilbur mit besorgter Miene zu uns trat, deutete ich auf Martin. »Verlierst du das Ding eigentlich ständig?«

Er starrte mich an, und seine Sorge ließ rasch nach. »Martin läuft gern mal davon, ja. Ich bemühe mich aber, dafür zu sorgen, dass er keinen Ärger macht...« Seine Stimme erstarb, als er sich umsah. »Was zum Teufel ist denn hier passiert? Wem gehören all diese Ghule? «

»Wir dachten, das könntest du uns vielleicht sagen«, entgegnete ich. »Da du ja Nekromant bist und dein eigener Ghul fröhlich hier herumläuft, dachten wir, du wüsstest vielleicht, wer den Rest dieser Bande wiedererweckt hat. Gute Arbeit an seinem Genick übrigens.«

Wilbur brummte. »Irgendetwas musste ich mir ja einfallen lassen, nachdem du ihn dir vorgenommen hattest.« Er betrachtete die anderen Ghule und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wo die herkommen. Aber sie sehen aus, als hätte jemand sie ziemlich grob erweckt. Habt ihr auf dem Friedhof nach leeren Gräbern geschaut?«

Chase stöhnte. »Wir haben es doch nicht auch noch mit Grabräubern zu tun? «

»Woher sollten Nekromanten sonst die Leichen haben, aus denen sie Ghule und Zombies machen?« Wilbur schien sich inzwischen gut zu amüsieren. »Martin hier hat seinen Leichnam testamentarisch der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Ich habe damals zufällig in dem Labor gearbeitet, an das er geliefert wurde. Sie meinten dann, dass sie ihn doch nicht brauchten, und wollten die Leiche beerdigen, also habe ich mich freiwillig dafür gemeldet. Martin war nur auf der Durchreise - ein Landstreicher. Niemanden hat es gekümmert, was aus der Leiche wurde, niemand hat um ihn getrauert. Also habe ich ihn mit nach Hause genommen. «

»Erkennst du irgendwelche energetischen Signaturen hier in der Nähe? Wenn ja, bitte sag es uns«, entgegnete Delilah. »Wir können wirklich Hilfe gebrauchen. «

»Und warum sollte ich euch helfen?«, erwiderte Wilbur. »Erst brecht ihr meinem Ghul das Genick, dann benehmt ihr euch, als sei ich der Abschaum der Menschheit - ach, spart euch die Mühe, mich anzulügen«, fügte er hinzu, als Camille protestierte.

»Ich weiß ganz genau, was ihr drei von mir haltet.« Er warf ihr wieder einen Blick zu. »Na ja, die beiden anderen. Du - du bist seltsam. Deine Energie ist mir ein Rätsel, Hexe. Also, gebt mir einen guten Grund, warum ich euch helfen sollte. «

»Weil ich es dir rate«, sagte Vanzir und trat vor. »Ich bin ein Dämon. Ich würde in deine Träume schlüpfen und dir die Lebensenergie absaugen, ohne einmal mit der Wimper zu zucken. «

»Aus, pfui«, brummte Delilah. Vanzir warf ihr einen giftigen Blick zu. »Entschuldigung - ich meine, lass das, Vanzir.«

Ehe irgendwer das Testosteron noch weiter in die Höhe schnellen ließ, ging ich dazwischen. »Das reicht. Jetzt hört mal zu, und zwar alle. Wir haben es mit einem Haufen gefährlicher Gegner zu tun. Erst läuft ein Karsetii-Dämon frei im Astralraum herum und macht Jagd auf Feen. Oder vielmehr auf jeden, der starke Magie wirkt.« Ich betonte das Wort;jeden, und Wilbur erbleichte. »Dann lässt jemand ein Rudel Ghule auf die Stadt los, und Wilbur zufolge hat derjenige ziemlich schlampig gearbeitet. Was darauf hinweist, dass wir es mit einem nicht besonders fähigen Nekromanten zu tun haben, oder mit irgendeinem Idioten, der keine Ahnung hat, was er da tut. Ich vermute Letzteres, wenn man bedenkt, was wir bei Harold gefunden haben. «

»Harold?«, fragte Wilbur.

»Wir sind auf einen Haufen dummer Verbindungs-Studenten gestoßen, die Dämonen beschwören und Feen und UW-Frauen ermorden. Ich frage mich gerade, ob sie auch für diese Ghule verantwortlich sein könnten.« Ich rückte ein wenig näher an ihn heran. »Du bist nicht zufällig hier in der Gegend aufs College gegangen?«

Wilbur schüttelte den Kopf. »College? Ich habe nicht mal die Highschool abgeschlossen. Ich war bei der Marine und eine ganze Weile unten in Südamerika stationiert. Da habe ich die Nekromantie gelernt. Im Dschungel.«

Schamanische Todesmagie. Er hatte tatsächlich mächtig Ahnung. Wenn er von einem Eingeborenenstamm gelernt hatte, statt die zeremonielleren Nekromantie-Lehren zu durchlaufen, dann war er der Geisterwelt vermutlich näher, und seine Magie fiel ihm umso leichter. Schamanen waren oft sehr viel mächtiger als die meisten Hexen oder Zauberer.

Morio stieß einen leisen Pfiff aus. »Heftige Magie also.«

Wilbur zuckte mit den Schultern. »Die einzige Art Magie, die mich interessiert.« Er wandte sich wieder an mich. »Du meinst, irgendwelche Kids spielen mit so etwas herum? Das ist nicht gut. «

»Könntest du uns vielleicht sagen, warum irgendjemand Ghule auferstehen lassen sollte, außer ... na ja ... zum Spaß?«

Ich lehnte mich an einen nahen Grabstein. Camille und Morio setzten sich ins Gras. Roz und Vanzir blieben neben mir stehen. Chase gab seinen Männern einen Wink. »Seht euch mal auf dem Friedhof um. Achtet auf geschändete oder geöffnete Gräber.

Und die Überreste ... packt sie gut ein, und dann verbrennen wir den ganzen Haufen. Wir werden den Familien nichts davon sagen, sondern die Gräber hübsch wieder zuschaufeln und den Mund halten.« Er trat neben Rozurial. Delilah ging in die Knie und hockte sich zu seinen Füßen auf die Fersen.

»Warum jemand einen Haufen Ghule erwecken sollte? Als Armee, denke ich - als Kampftruppe. Sie geben hervorragende Mordmaschinen ab. «

»Warum hast du denn deinen Ghul erweckt?« Ich starrte ihn an. Er war der seltsamste VBM, der mir je begegnet war.

»Ich? Ich habe Martin als Assistenten geschaffen. Er versteht einfache Befehle, es ist sehr praktisch, ein zweites Paar Hände im Labor zu haben, und er quatscht mir nicht ständig die Ohren voll.« Wilbur beobachtete die Polizisten beim Aufräumen. »So viele Ghule kann man eigentlich zu gar nichts gebrauchen, außer um jemanden zu verletzen, oder zu Übungszwecken. Vielleicht sind sie das Resultat einer magischen Lehrstunde.«

Camille schlug sich die Hand vor den Mund. »He, zu Hause in der Anderwelt, im Südlichen Ödland, gibt es doch diese Flecken wilder Magie - von den Zaubererkriegen. So etwas passiert manchmal an Orten, wo viel explosive Energie benutzt wurde. Meint ihr, es könnte jemand da draußen Magie geübt haben, und die übergesprungene Energie hat dann die Ghule erweckt?«

Wilbur schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie von so etwas gehört, aber ich unterhalte mich auch nicht oft mit anderen Nekromanten. «

»Möglich wäre es«, sagte Morio. »Es gibt Orte auf der Welt, wo die Magie Teil des Landes selbst ist. Das kommt von sehr langem oder sehr heftigem Gebrauch von Magie in dieser Gegend. Aber warum gerade dieser Friedhof? Denkt daran, dass dieser Ort offenbar auch die Dubba-Trolle angezogen hat, gegen die wir neulich gekämpft haben.«

Ich war froh, dass er das wilde Portal nicht erwähnte, durch das die Trolle gekommen waren - jedenfalls nicht vor Wilbur - und dachte darüber nach. »Vielleicht habt ihr recht. Also, was macht diesen Friedhof so besonders? Harold wohnt doch nicht in der Nähe, oder?«

Delilah runzelte die Stirn. »Ich frage mich ... Gehen wir zu den Autos zurück. Ich muss etwas nachsehen, aber mein Rucksack liegt im Wagen.«

Wir überließen Chases Mannschaft die Aufräumarbeiten und gingen zum Parkplatz zurück. Wilbur zog seinen Ghul hinter sich her. Martin folgte ihm brav und ignorierte alles außer seinem Herrn, an dem sein Blick mit hündischer Ergebenheit hing.

Ich verzog das Gesicht, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss, doch ich beschloss, lieber nicht in diese Richtung weiterzudenken. Komm nicht mal in die Nähe.

Als wir die Autos erreichten, wühlte Delilah in ihrem Rucksack herum, den sie unter dem Sitz verstaut hatte, und holte einen Stadtplan heraus. Sie breitete ihn auf der Motor haube aus, und Chase beleuchtete ihn mit einer Taschenlampe. Wir versammelten uns darum.

Delilah tippte mit dem Finger auf eine leicht verschmierte Markierung auf der Karte. »Da wohnt Harold. Und da ...« Sie zog eine Linie schnurgerade nach Norden. »Da liegt der Wedgewood-Friedhof. Wenn man diese Linie in die andere Richtung verlängert, führt sie geradewegs ... zum Wayfarer.« Sie blickte auf. »Ich glaube, dieser Friedhof liegt auf einer LeyLinie. «

»Was bedeutet, dass es hier eine Menge Energie anzuzapfen gibt«, bemerkte Camille. »Ich frage mich ...« Sie warf einen Seitenblick auf Wilbur und schüttelte den Kopf. »Das hat Zeit bis später.«

Ley-Linien waren unsichtbare Kraftlinien - so ähnlich wie geologische Verwerfungslinien -, die sich über die Erdwelt und die Anderwelt zogen. Sie verbanden Orte über eine magische Linie, und jegliche Magie, die auf einer Ley-Linie gewirkt wurde, geriet wesentlich stärker als anderswo. Und während ich auf den Stadtplan starrte, sah ich selbst, was Camille hatte sagen wollen. Zwei der wilden Portale lagen ebenfalls auf dieser Ley-Linie. Waren alle Portale mit dem Ley-Netzwerk verknüpft, oder öffneten sich nur die wilden spontan darauf? Umgekehrt, entstanden alle wilden Portale auf Ley-Linien? Ein weiteres Rätsel, das es zu lösen galt, sobald wir wieder unter uns waren.

»Es kann also durchaus sein, dass Harold und seine Jungs hier herauskommen, um Zeremonien abzuhalten. Oder dass die Energie, mit der sie arbeiten, die Ley-Linie entlangreist und hier die Leichen aufstehen lässt. Hm ... Chase, lass deine Leute die genaue Lage der Gräber feststellen, die geöffnet wurden, und sag uns so schnell wie möglich Bescheid.« Ich sah Wilbur an, der leicht verwirrt dreinschaute.

»Es kann gut sein, dass Martin durch die Energie der Linie hierher gezogen wurde, aber das ist ein sehr weiter Weg von da, wo wir wohnen.« Ich runzelte die Stirn.

»Das kann ich erklären«, sagte er. »Ich habe ihn ausgeführt, und er hat sich von der Leine losgerissen.« Er hielt eine kobaltblaue Hundeleine in die Höhe. Da erst bemerkte ich, dass Martins praktisches Stahlhalsband hinten einen Ring hatte. Der Karabiner an der Leine war aufgebogen, und es sah so aus, als hätte jemand heftig daran gerissen.

»Leine? Du führst ihn an der Leine herum wie einen Hund

Das war mal ein geistiges Bild, auf das ich gern verzichtet hätte. Die Vorstellung des adrett gekleideten Leichnams, der wie ein Pudel am Ende einer hellblauen Leine einhertrippelte, reizte mich zum Lachen. Oder Kotzen. Und wenn man ein Vampir ist, übergibt man sich lieber nicht vor anderen.

Wilbur sah mich an. »Du bist stark. Könntest du das für mich wieder hinbiegen?« Er hielt mir die Leine hin.

Ich kam mir vor, als sei ich in irgendeinen absurden MontyPython-Film geraten. Stumm nahm ich die Leine, bog den Karabiner wieder zurecht, so gut es eben ging, und gab sie ihm wortlos zurück. Dann wandte ich mich ab und deutete auf die Autos.

»Los geht's. Wir haben noch eine Verabredung mit ... Vanzirs Freund, nicht wahr?«

Vanzir nickte. »Ja, aber wir schauen besser vorher im AETT-Hauptquartier vorbei und lassen seine Wunden versorgen.« Er wies mit einem Nicken auf Chase.

Delilah griff sofort nach Chases Arm und betrachtete die Bissspuren dicht beim Ellbogen, wo der Ghul es geschafft hatte, den Stoff von Chases Hemd zu zerreißen und die Zähne in seine Haut zu schlagen. Es war kein Stück herausgebissen, aber um die Wunde herum bildete sich ein riesiger Bluterguss.

»Ja, der Biss wird schon rot, das bedeutet, er entzündet sich.« Sie seufzte.

Chase räusperte sich. »Ich muss sowieso zurück aufs Revier. Ich habe immer noch einen Job, schon vergessen? Ich verspreche dir, ich lasse Sharah danach sehen, sobald ich dort bin. Tut ihr inzwischen, was immer ihr tun müsst.« Er küsste Delilah fest auf den Mund. »Ich rufe dich nachher an, Süße«, fügte er hinzu und eilte dann zu den Streifenwagen hinüber.

Wilbur lächelte uns ein wenig schief an, als sei dieser Gesichtsausdruck ihm etwas fremd, und sagte: »Ich gehe dann auch wieder. Ich muss Martin nach Hause bringen. Gleich kommt Seinfeld.«

Da war es endgültig vorbei. Ich versuchte, mich zu räuspern, aber das Lachen platzte trotzdem hervor, und ich schnaubte laut. »Du machst wohl Witze. Du und dein Ghul, ihr schaut euch zusammen Seinfeld an? Ist dein Leben eigentlich eine einzige Freakshow?«

Wilbur starrte mich an, und seine Augen blitzten finster auf. »Das sagst ausgerechnet du? Du wohnst mit deiner Schwester und einem ganzen Haufen Männer in einem großen Haus, du läufst mitten in der Nacht draußen herum und verprügelst Ghule, du führst eine Bar, und du bist ein Vampir. Du trinkst Blut, Herrgott noch mal. Mit dem Finger auf andere zu zeigen, steht dir gewiss nicht zu.«

Ich blieb still und versuchte, mich in den Griff zu bekommen. Aber die Vorstellung, wie Wilbur und Martin auf dem Sofa saßen und Seinfeld schauten, war unwiderstehlich. »Trägt er die Leine denn auch, wenn ihr fernseht? Ist er stubenrein? «

»Menolly«, sagte Rozurial mit finsterer Miene. »Sei nicht so ein Miststück. Er hat uns mit seiner Information weitergeholfen.«

Ich hustete so heftig, dass mir ein Rinnsal Blut übers Kinn lief, und plötzlich wurde mir klar, wie ich aussehen musste. Als Wilbur sich schweigend abwandte und Martin an der Leine mit sich wegführte, rannte ich den beiden nach.

»Es tut mir leid. Bitte entschuldige - wir stehen nur unter furchtbarem Stress ...« Er schüttelte den Kopf. »Ärmliche Ausrede. Stress entschuldigt kein derart unhöfliches Benehmen.«

Unser Nekromant war also entschieden kultiviert, obwohl er aussah wie ein Eremit aus den Bergen und nicht mal einen Schulabschluss hatte. Ich blickte zu ihm auf und beschloss, zu Kreuze zu kriechen.

»Ich bitte um Entschuldigung. Es war sehr grob von mir, mich über dich lustig zu machen. Du und Martin ...« Ich hielt mich eisern im Griff und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich wünsche euch noch einen schönen Abend, und vielen Dank für deine Hilfe.«

Er blickte skeptisch drein, brummte aber etwas, das vage klang wie »Entschuldigung angenommen«, und wandte sich dann mit leicht angewiderter Miene ab.

»Ich glaube, wir sollten Iris bitten, einen Riesenberg Kekse für ihn zu backen«, bemerkte Camille und sah mich kopfschüttelnd an. »Menolly, irgendwann musst du endlich lernen, den Mund zu halten. Ich habe dich lieb, aber du bist wirklich nicht besonders diplomatisch. «

»Da hast du recht«, sagte ich bedrückt. Ich fühlte mich vage schuldig.

»Fahren wir jetzt endlich?«, mischte Vanzir sich ein. »Carter erwartet uns, und ich will ihn nicht verärgern, indem wir zu spät kommen. «

»Ja, ja«, sagte ich und ging zu meinem Auto. »Das Letzte, was wir brauchen können, ist noch ein Dämon, der sauer auf uns ist.«

Als wir vom Parkplatz fuhren, nahm ich mir vor, etwas mehr Zeit mit Sassy Branson zu verbringen. Sie war immerhin die Doyenne der vampirischen Gesellschaft. Wenn mir irgendjemand helfen konnte, an meinen Manieren zu arbeiten, dann sicher Sassy.