Kapitel 24

 

Auf der Fahrt zu Harolds Haus blickte ich zum Himmel auf. Die Mondmutter war beinahe voll, und wir mussten die Sache heute Nacht zu Ende bringen. Morgen würden Camille und Delilah hilflos sein. Ganz zu schweigen davon, dass der Vollmond Feen und ÜW so viel Energie verlieh, dass sie die Karsetii wieder durch das Dämonentor locken würde. Da war ich mir ganz sicher. Normalerweise hatte ich keine Vorahnungen, aber das wusste ich einfach.

»Also, wir schleichen uns auf demselben Weg rein wie Delilah und ich, aber diesmal gehen wir alle. Wir können nichts riskieren. Delilah und ich haben da unten viele Stimmen gehört, und wir werden jede Hand brauchen. Wenn sie uns erwischen, tja ... es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass uns so etwas passiert. Damit werden wir dann schon fertig, wenn es so weit ist.«

Zum zweiten Mal in zwei Nächten waren wir also unterwegs zu Harold, und ich war sehr besorgt. Es war eine Sache, direkt gegen Dämonen vorzugehen, aber das hier waren Menschen, leicht zu töten, leicht zu verletzen - und es war allzu leicht, den Zorn der menschlichen Gesellschaft auf uns zu ziehen, wenn uns irgendwelche Fehler unterliefen.

Was sollten wir zum Beispiel Harolds Eltern sagen, falls wir ihn töten mussten? Mr. und Mrs. Young, das klingt vielleicht schockierend, aber Ihr Sohn war der Anführer eines Dämonenkults, und er und seine Anhänger haben zahlreiche Frauen entführt und ermordet. Selbst wenn wir das beweisen könnten, bezweifelte ich, dass sie sich auf unsere Seite stellen würden, vor allem nach dem, was wir gerade über die Geschichte des Hauses erfahren hatten. Es sah ganz so aus, als gäbe es Dantes Teufelskerle schon ziemlich lange.

Unser kleines Zusammentreffen mit den Freiheitsengeln hatte meine Laune auch nicht gerade gehoben. Im Moment fühlte ich mich der mütterlichen Seite meiner Ahnenlinie nicht besonders verbunden. Mit Dämonen wurde ich fertig. Ghule und Geister und Gruselmonster - die waren Berufsrisiko. Doch in Menschen schien das Böse besonders hinterhältig zu sein - zu leicht zu verbergen, zu leicht hinter einer Fassade zu verstecken.

Wir parkten ein paar Häuser weiter und schlichen durch die Schatten. Im Haus brannte noch Licht. Es war kaum elf Uhr, aber wir hatten keine Zeit, lange zu warten. Die Auffahrt war leer bis auf einen fetten Lieferwagen. Die Jungs waren ausgegangen, oder sie beschworen gerade einen weiteren dämonischen Spielkameraden, aber es konnte auch sein, dass sie vor ihren Computern hockten und War World oder sonst ein Online-Spiel spielten.

Anscheinend hatten sie nicht gemerkt, dass wir ihr unterirdisches Labyrinth infiltriert hatten, denn der Eingang sah genauso aus wie in der Nacht zuvor. Wieder knackte Delilah das Vorhängeschloss, und ich übernahm die Führung. Ich bedeutete Roz, mir zu folgen, danach Delilah, Camille, Morio und zuletzt als Rückendeckung - Vanzir.

Wir stiegen die Leiter hinab, folgten dem Tunnel, schlichen uns lautlos den gleichen, spärlich beleuchteten Weg entlang. Es war still, bis auf das ferne Summen an- und abschwellender Stimmen und die Geräusche kleiner Geschöpfe, die im Dunkeln herumhuschten - Ratten und Kakerlaken und Mäuse. Ein bestimmtes Gefühl lag in der Luft, das nur jene von uns ganz begreifen konnten, die ausschließlich bei Nacht lebten. Ein Gefühl der Kameradschaft.

Wir waren die stillen Partner der Welt, die heimlich umherschlichen und deren Schritte stets vom Nebel des Verborgenen verschleiert wurden. Die bei Tage lebten, waren laut, ihre Taten im Licht deutlich sichtbar. Leider lebten im Schutz der Nacht nicht nur mythische Geschöpfe, sondern auch der Abschaum: die Serienmörder und Vergewaltiger und andere, deren Spezialität es war, ihren Opfern feige in den Rücken zu schießen.

Wir schafften es bis zur Tür zu der unterirdischen Anlage. Ich hielt den Zeigefinger an die Lippen, damit die anderen aufhörten, so nervös herumzuzappeln. Dann presste ich das Ohr an die Tür und lauschte. Erst hörte ich nur den flachen Atem der anderen hinter mir, doch als ich mich konzentrierte, trat er in den Hintergrund. Die Ratten und Kakerlaken hörte ich noch, doch auch diese Geräusche verschwanden, als ich meine Aufmerksamkeit noch stärker fokussierte.

Und da vernahm ich es. Wieder dieser summende Gesang aus großer Ferne. Nur klang er diesmal noch tiefer, konzentrierter. Ich wollte von Camille hören, ob sie irgendwelche magischen Energien darin spürte, aber dazu würden wir erst den Komplex betreten müssen. Wieder lauschte ich nach irgendeinem Hinweis darauf, dass jemand auf der anderen Seite der Tür lauerte, konnte aber nichts wahrnehmen.

Ich bedeutete den anderen, ein paar Schritte zurückzutreten, und berichtete ihnen in leisem Flüsterton, was ich gehört hatte. »Wir gehen zu dem Raum, in dem Delilah und ich die Leichen gefunden haben. Da können wir uns verstecken ... «

»Vergiss nicht, dass ich einen Unsichtbarkeitszauber habe«, sagte Morio. »Narrensicher ist er nicht, und er verbirgt weder Geräusche noch Gerüche, aber zwei von uns könnten ihn benutzen, um vorauszugehen und den Flur auszuspähen. «

»Sehr gute Idee.« Ich ertappte mich dabei, dass ich ihm vor Erleichterung auf die Schulter klopfte. Zumindest hatten wir einen Anschein von einem Plan. Offenbar bestand unsere Standardmethode immer noch darin, reinzustürmen, den Feind niederzuknüppeln und zu hoffen, dass wir selbst dabei nicht verletzt wurden. Andere lernten vielleicht, geschickter vorzugehen, was die Rettung der Welt und so weiter anging, aber ich hatte das Gefühl, dass wir auf ewig die Drei Stooges bleiben würden, begleitet von einem Trüppchen Supermänner.

Vorsichtig öffnete ich die Tür und spähte in den Gang dahinter. Niemand da, aber der Gesang hallte durch den leeren Flur und bildete eine Art unheimlicher Hintergrundmusik, während wir uns zu unserem Zwischenziel schlichen. Der Raum war immer noch nicht abgeschlossen, und als ich die Tür öffnete, sah ich Sabeles Leichnam genauso in den Fesseln hängen wie zuvor. Plötzlich kochte Wut in mir hoch, und ich winkte die anderen herein. Stumm trat einer nach dem anderen ein, und alle hielten kurz inne, als sie die Szene an der gegenüberliegenden Wand bemerkten. Camille ging langsam zu dem Leichnam hinüber und strich mit den Fingern über die ledrige Haut.

»Was zum Teufel haben sie ihr angetan?«, flüsterte sie.

»Ich habe es dir doch gesagt: Sie haben ihr das Herz her ausgerissen und ihr die Finger abgehackt. Das ist ein Haufen verdammter Sadisten.«

All meine Sorgen darum, was Harolds Eltern möglicherweise sagen würden, waren schlagartig vergessen, als ich Sabele anstarrte und mich fragte, wie lange sie schon hier hängen mochte. Hatten sie sie hier getötet oder anderswo? War sie noch bei Bewusstsein gewesen, als sie sie verstümmelt hatten? Hatten sie sie geschändet, sich an ihrer Angst geweidet, über ihre Schreie gelacht?

Plötzlich flimmerten Szenen aus meiner eigenen Nacht des Grauens in Dredges Gewalt vor meinem inneren Auge vorbei wie ein alter Stummfilm. Es spielte keine Rolle, dass er nur noch Staub und Asche war, dass ich das Band zerrissen hatte manche Erinnerungen waren zu entsetzlich, als dass man sie je vergessen könnte.

Camille strich mit dem Handrücken über Sabeles Gesicht und schob der Mumie sacht ein paar trockene Haarsträhnen von den leeren Augen. »Schlaf tief und fest. Schlafe und kehre zu deinen Ahnen zurück, liebe Freundin. Schlafe den Schlaf der Alten, träume die Träume des Göttlichen. Geh und finde Ruhe.«

Ein schwaches Flüstern wie ein Luftzug strich durch den Raum, und ich erschauerte, nicht vor Kälte, sondern weil ich plötzlich das Gefühl hatte, dass Sabele hier war und zuhörte. War sie gefangen? Wandelte ihr Geist in den Hallen der Verdammten und wartete auf Erlösung?

Morio streichelte Camille den Rücken, und sie erschauerte. Er beugte sich vor, küsste sie auf die Schulter und das Ohr und wandte sich dann wieder mir zu.

»Wen willst du als Späher ausschicken? Der- oder diejenige muss sich lautlos bewegen können und möglichst geruchlos sein«, sagte er und legte seine Tasche auf den Boden.

»Ich gehe«, sagte ich. »Funktioniert dein Zauber denn bei einem Vampir? «

»Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen sollte. Ich kann mit dem Zauber zwei Leute belegen, möchtest du noch jemanden mitnehmen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte daran gedacht, Delilah mitzunehmen, aber das gäbe ein zu großes Chaos, falls wir getrennt würden. Es war besser und einfacher, nur auf mich selbst achten zu müssen.

»Nein, ich bin schneller als die meisten von euch und lautlos. Was muss ich über den Zauber wissen?« Ich blickte auf meine Stiefel hinab. Sie waren hochhackig, aber das waren meine Arbeitsstiefel. Ich hatte die Absätze mit Gummi besohlt, so dass sie keinen Lärm machten. Manche meiner Stiefel klapperten angenehm auf dem Boden, begleiteten mich mit einem tröstlichen Geräusch, wenn ich irgendwo hinging, und erinnerten mich daran, dass ich noch lebendig war. Aber ich hatte schnell gelernt, dass ich in unserem neuen Job als Dämonenjägerinnen den Vorteil der Lautlosigkeit nutzen musste, der mir mit der Verwandlung in einen Vampir geschenkt worden war.

»Wenn du jemanden berührst, wird derjenige das spüren. Wenn du Lärm machst, können sie dich hören. Sobald du jemanden angreifst, erlischt der Zauber. Er ist einzig und allein zum Ausspähen gedacht. Es gibt sehr wenige Unsichtbarkeitszauber, die auch in einem Kampf halten, aber die sind schwer zu lernen. Normalerweise beherrschen sie nur die fähigsten Zauberer und Hexen. «

»Wie lange wird dieser hier halten?«

Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen; das kommt immer auf den Träger an. Aber ich denke, du solltest etwa zehn Minuten Zeit haben, vielleicht fünfzehn, wenn du Glück hast. Solange du unsichtbar bist, kannst du dich auch selbst nicht sehen. Wenn du also anfängst, deine Hände und deinen Körper wieder zu sehen, weißt du, dass die Magie erlischt.«

Ich nickte knapp. »Ich bin bereit. Dann wollen wir mal herausfinden, womit wir es wirklich zu tun haben.«

Morio stand breitbeinig, fest und sicher auf dem Boden. Als er den Kopf hob, glomm in seinen Augen ein topasfarbener Ring auf, und ich sah seine Dämonennatur an die Oberfläche treiben. Er atmete dreimal tief durch, während eine spürbare Energie sich um ihn herum erhob, sich wand und um ihn herumwirbelte wie geschmeidige Flammen. Er streckte die Hände aus und legte sie mir auf die Schultern.

Ich verstand die Worte nicht, doch als er sie anstimmte, begann mein Körper zu verschwimmen. Es war beinahe so, wie wenn man durch ein Portal trat, doch statt dass alles um mich herum neblig wurde, kam ich mir auf einmal nebulös vor. Ich hatte das Gefühl, meine Umgebung wie durch eine Kameralinse zu betrachten. Ich blickte an mir hinab und stellte fest, dass ich meine Hände nicht mehr sehen konnte. Oder meine Füße. Oder sonst einen Teil meines Körpers.

»Okay, das ist ziemlich unheimlich«, sagte ich. Delilah zuckte erschrocken zusammen. »Ja, vor allem für uns. Du bist soeben verschwunden - und zwar komplett. «

»Also, ich gehe jetzt. Wenn ich zurückkomme, klopfe ich dreimal an. Hoffen wir, dass da vorn nichts in die Luft fliegt, ehe ich wieder da bin. Das Letzte, was wir brauchen kön nen, ist, dass wir durch irgendetwas getrennt werden.« Ich lauschte an der Tür. Im Flur war nichts zu hören außer dem Sprechgesang, der eine endlose Wiederholung zu sein schien. Beiläufig fragte ich mich, ob sie ihn aufgezeichnet hatten und einfach als Endlosschleife abspielten.

Ich schlüpfte hinaus und schloss die Tür hinter mir. Der Gang war leer. Ich hielt mich ganz am Rand und wich Türen aus, die sich plötzlich öffnen könnten. So eilte ich den Flur entlang. Ich konnte mich schneller bewegen als die anderen, Vanzir und Roz vermutlich ausgenommen. Lautlos folgte ich dem Klang der Musik und den Stimmen, die mich aus der Ferne riefen.

Als ich mich dem Ende des Flurs näherte, sah ich eine Treppe, die nach unten führte. Daneben nahm eine Glasscheibe einen großen Teil der Wand ein, und als ich mich vorsichtig an den Rand schob, ließ das, was ich unter mir sah, mich erschrocken zurückspringen.

Die Treppe führte in ein Amphitheater. Die Wände waren schwarz bemalt, mit Gold abgesetzt. Stufenförmig angeordnete Reihen von Regalen zogen sich wie Bänke an den Wänden entlang, und darauf standen mindestens hundert Kerzenhalter aus Messing. In jedem davon flackerten drei elfenbeinfarbene Kerzen. An einer Wand hing eine aufgespannte Haut. Ich erkannte anhand der Form, dass es die Haut eines Menschen war, und es waren Runen in Blut darauf geschrieben. Der Schlüssel zum Dämonentor, dachte ich.

Ein großer, flacher Marmorblock stand mitten im Raum, zu beiden Seiten von zwei Meter hohen, blutroten Kerzen beleuchtet. Ein Ring aus Gestalten in Umhängen mit Kapuzen umgab den Altar. Die grauen Roben waren mit einer geflochtenen Schärpe aus roten, schwarzen und goldenen Bändern gegürtet. Am Kopf dieses Altarsteins stand eine der Gestalten mit einem langen Schwert mit grausamer, gezahnter Klinge.

Doch mein Blick blieb an der Person hängen, die an den Altar gekettet war. Sie war nackt bis auf einen hauchdünnen Schal, der über ihren Bauch drapiert war. Ihr langes, goldblondes Haar floss über den Marmor - eine zarte Elfe, an Händen und Füßen mit Schellen an den Stein gekettet. Sie wimmerte, doch der dumpfe Gesang übertönte es. Ich schaute hinter die Gestalt mit dem Schwert und sah, wie sich in der Luft dahinter ein schwarzes Nichts bildete. Ein Dämonentor! Heilige Scheiße ... sie öffneten gerade ein weiteres Tor!

Ich wirbelte herum, um Unterstützung zu holen. Bedauerlicherweise war ich so auf das konzentriert gewesen, was in dem Amphitheater vor sich ging, dass ich nicht darauf geachtet hatte, was direkt hinter mir war. Ich stieß mit einer weiteren verhüllten Gestalt zusammen. Morio hatte recht, dachte ich. Ich mochte unsichtbar sein, nahm aber immer noch Raum ein. Der dumpfe Schlag, mit dem ich den Mann unabsichtlich umrannte, war ebenso wirklich wie die Tatsache, dass ich mich in seinen Umhang verhedderte und mit einem lauten »Uff!« auf ihn stürzte.

Zur Hölle, das war schlecht - ganz schlecht. Als ich mich hastig aufrappelte, griff er nach mir - oder vielmehr in die Luft - und schaffte es, einen meiner Zöpfe in die Finger zu kriegen. Er riss daran, und ich fauchte und versetzte ihm instinktiv eine Ohrfeige. Als meine Hand klatschend auf seine Wange traf, sah ich eine leichte Wellenbewegung in der Luft, und dann wurde ich schimmernd und flackernd wieder sicht bar. O Scheiße. Ich hatte ihn angegriffen, und jetzt konnte er mich sehen.

»Was zum Teu...« Die Stimme kam mir seltsam bekannt vor, und ich riss der Gestalt die Kapuze vom Kopf und brachte Duane zum Vorschein. Ach, wie reizend. Ein böser Junge, auf den ich gut verzichten konnte. »Wer sind Sie denn, verdammt?«

Er versuchte mich zu packen, aber ich wich zurück und verpasste ihm eine. Meine Faust traf seinen Kiefer. Ich hörte die Knochen brechen, und er verlor das Bewusstsein. Ein rascher Blick in den Flur hinter mir sagte mir, dass er nicht allein gewesen war. Ein weiterer Kapuzenmann stürzte zur Wand und schrie. Ich verstand nicht, warum er nicht einfach davonlief, doch als ein schriller Sirenenton den Flur erfüllte, wurde mir klar, was er an der Wand gemacht hatte. Erst hielt ich das Geräusch für einen Feueralarm, aber dann bemerkte ich, dass die Lichter an der Decke blinkten - also eher eine Art Warnung. O Scheiße.

Ich sprang auf und stürmte auf ihn zu, aber er schoss in den nächsten Raum, und ich hörte das Türschloss klicken. Ich gab ihn auf und rannte zurück, um die anderen zu holen. Wir hatten unseren einzigen Vorteil verloren, das Überraschungsmoment; Pech gehabt. Wir konnten das Mädchen nicht da unten auf dem Metzgertisch liegen lassen, während sich ein neues Dämonentor auftat.

Die Tür zu unserem Versteck ging auf, und Camille und Morio stürmten heraus, gefolgt von den anderen.

»Sollen wir raus hier?«, rief sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben da unten eine Gefangene. Sie lebt noch, aber nicht mehr lange, würde ich wetten. Ich glaube, sie soll das Begrüßungshäppchen für den Dämon sein, den sie anscheinend gerade beschwören. «

»Dann los«, sagte Roz.

Ich machte kehrt und lief zurück zum Amphitheater, und die anderen hielten sich dicht hinter mir. Als wir uns dem niedergestreckten Duane näherten, war plötzlich Geschrei zu hören, und die Treppe füllte sich mit Männern. Sie hatten ihre Umhänge offenbar unten zurückgelassen, und es waren gut zwanzig bis dreißig, die uns entgegenkamen. Einige waren wesentlich älter als der durchschnittliche College-Student.

»Na toll«, sagte Camille. »Ausschwärmen und an die Arbeit.«

Ich hatte erwartet, dass wir einfach eine Schneise durch die Gruppe schlagen würden, erlebte aber eine hässliche Überraschung, als ich gegen einen der Teufelskerle ernsthaft kämpfen musste. Augenblicke später erkannte ich, dass auch er ein Vampir war. O verdammt. Sie waren doch nicht alle Menschen.

Jedenfalls nicht mehr.

Er war um die vierzig gewesen, als er gestorben war, und verdammt gut in Form: durchschnittlich groß, aber sehr kräftig gebaut mit viel mehr Muskeln, als mir lieb war, und einem hungrigen, roten Glimmen in den Augen. Als ich ihn angriff, fuhren meine Reißzähne aus, und ich fauchte leise, während wir einander umkreisten.

»Ist sie ein Problem, Len?«, hallte es durch den Flur.

»Sie ist auch ein Vampir!«, rief er zurück.

Verflucht. Jetzt wusste wirklich jeder, dass ich ein Vampir war. Ich griff mit meinem üblichen Drehkick an, aber irgendetwas ging schief. Len schien mein Manöver vorauszuahnen und sprang zurück. Ich verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorn, und er sprang mich an. Wir gingen zu Boden und rollten als knurrendes, fauchendes Knäuel hin und her.

Der Lärm von klirrenden Klingen, magischem Feuerwerk und Gebrüll drang schwach in mein von Zorn vernebeltes Hirn. Ich versuchte einzuschätzen, wie gefährlich dieser Typ tatsächlich für mich war.

Ich schaffte es, mir Len vom Hals zu halten, also war er nicht stärker als ich. Ja, er brauchte seine ganze Kraft, um mich am Angriff zu hindern, aber er schaffte es nicht ganz, mich wegzudrücken. Ich hatte also mehr Kraft als er. Außerdem sah ich ein paar Wunden an seiner Kehle, was bedeutete, dass er sich entweder als kleine Erfrischung einem anderen Vampir angeboten hatte oder von einem angegriffen worden war. War er also geschwächt? Die Wunden mussten frisch sein; so kleine Verletzungen heilten bei uns binnen weniger Stunden.

»Miststück - wer zur Hölle bist du?«

Die Frage kam von links. Musste also Delilah oder Camille gegolten haben, außer einer der Burschen stand auf Männer und nannte die Jungs so.

»Dein schlimmster Alptraum!«, donnerte Camilles Stimme durch das Kampfgetümmel. Vielleicht nicht besonders originell, aber gefolgt von einem lauten Krach, und dann füllte sich der Flur mit Rauch. Ich hoffte inständig, dass sie sich nicht wieder selbst in Brand gesteckt hatte. Als mein Gegner erschrocken den Kopf hob, nutzte ich die Gelegenheit und beschloss rasch, mit ihm genauso zu verfahren wie mit den Ghulen. Ich brach ihm das Genick. Das würde ihn nicht umbringen, aber ...

»He, Roz! Pflock! Ich brauche einen Pflock!«

Ehe Len noch irgendetwas unternehmen konnte, war Roz bei mir, einen Pfahl in der Hand. Er rammte ihn Len in die Brust, und mein Vampirkumpel verabschiedete sich in einem Wölkchen aus Staub und Asche. Ich sprang auf, blickte mich um und versuchte, das Chaos einzuschätzen, in das wir geraten waren.

Vier der Männer lagen japsend und angesengt auf dem Boden. Ich sah mich nach Camille um, die hoffentlich keinen Rückschlag abbekommen hatte. Da war sie, in der Ecke, und rammte gerade einem Typen das Knie in die Eier. Er stöhnte und kippte um - sie war verdammt gut mit dem Knie -, während Delilah an ihm vorbeirannte, die gerade mit Lysanthra, ihrem Dolch, einen weiteren Mann verfolgte. Er kreischte und hob die Arme über den Kopf.

Zwei Gegner lagen am Boden, und ihre blutgetränkten Hemden belegten, dass sie nie wieder eine Verbindungsparty feiern würden. Vanzir hatte meinen alten Freund Larry rücklings an die Wand gedrängt, und während ich hinsah, holte er mit einer Hand aus. Larry fiel, ohne noch einmal mit der Wimper zu zucken. Was zum Teufel hatte der Dämon mit ihm gemacht?

Morio war ebenfalls in voller Dämonengestalt unterwegs und ragte drohend über einer Gruppe von fünf Männern auf, die in nackter Angst zu ihm hochstarrten. Einer von ihnen hatte sich in die Hose gepinkelt, wie ein eindeutiger Geruch verriet.

»Treibt sie zusammen, fesselt sie und ...«, begann ich, weil ich dachte, wir sollten sie Chase übergeben, doch da senkte sich eine plötzliche Stille über die gesamte Szene. Meine Worte verschwanden im Nichts. In einem Augenblick sprach ich noch, im nächsten konnte ich meine eigenen Worte nicht hören. Ich blickte mich verblüfft um und sah dieselbe Verwirrung auf den Gesichtern der anderen.

Eine Bewegung an der Treppe erregte meine Aufmerksamkeit. Ja, alle wandten sich nach der Gestalt um, die aus der Dunkelheit heraufstieg. Der Mann war ebenso verhüllt, wie die anderen es gewesen waren, doch er hatte etwas Bedrohliches - einen finsteren Glamour, der den anderen fehlte. Nicht einmal Len, der Vampir, hatte eine so düster brütende Macht ausgestrahlt.

Er machte eine Handbewegung, und sämtliche anderen Teufelskerle warfen sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Was zum ... ? Die taten ja so, als sei er eine Art Gott.

Ach du Scheiße. War er das vielleicht? War er ein Dämon, den sie noch hatten beschwören können, ehe wir sie aufhalten konnten? Aber obwohl dämonische Energie in seiner Aura hing wie ein Rodeo-Reiter auf einem buckelnden Wildpferd, kam sie nicht direkt von ihm.

Als er sich näherte, formierten wir uns zu einer Schlachtreihe.

Camille warf mir einen Blick zu und versuchte, etwas zu sagen, doch es drang kein Wort aus ihrem Mund; im gesamten Flur war überhaupt kein Geräusch mehr zu hören.

Und dann warf die Gestalt die Kapuze zurück, und ich sah eine zweite Ausgabe von Harold vor mir, nur älter. Harolds Vater? Nein, dafür war er zu jung. Vielleicht der Onkel ? Er sah aus wie ein Computerfreak, aber das Glitzern in seinen Augen sagte mir, dass er alles andere als lächerlich war, alles andere als ungefährlich. Die ruhige Hand des Todes umschloss seine Aura wie der Umhang, den er um die Schultern trug. Nekromant - er war ihr Todesmagier. Und er war sehr mächtig, aber unvorsichtig. Die Magie beherrschte ihn, nicht andersherum.

Und dann zeigte Camille mit dem Finger auf etwas. Ich folgte der Geste. Um den Hals trug er eine Kette mit einem Anhänger. Ein Edelstein, in dem ein blauer Farbenwirbel eingeschlossen war, saß in einer filigranen Silberfassung: ein runder Cabochon aus Aquamarin. Vor der Energie, die das Juwel ausstrahlte, wäre ich am liebsten niedergekniet. Und da erkannte ich, was Camille erkannte hatte und auch Delilah jetzt bemerkte. Er trug ein Geistsiegel. Unser Feind besaß das fünfte Geistsiegel, und er zielte direkt auf uns.