Kapitel 19

 

Heilige Scheiße!« Ich sprang auf Camille zu, die zurücktaumelte.

»Weg da! Los!«

Sie wirbelte herum und rannte wie der Wind vor dem Dämon davon, der mit dem Kopf voran auf sie zugerast kam. Entweder spürte er ihre magische Energie oder die des Horns. Wie auch immer, er hielt schnurstracks auf sie zu, und seine Tentakel flatterten hinter ihm her. Von unbeholfenen Bewegungen konnte keine Rede sein. Das Ding segelte durch die Luft wie ein echter Krake durchs Wasser.

Smoky heftete sich sofort an seine Fersen, verwandelte sich wieder in den Drachen und warf sich auf das Geschöpf. Rozurial zog ein langes, silbernes Schwert und stürzte sich damit ins Getümmel, Vanzir ihm dicht auf den Fersen. Ich beschloss, Camille zu helfen. Sie konnte auf der Astralebene vielleicht schneller laufen als ich, aber ich war immer noch stärker als sie. Ich überholte den Kraken und warf mich zwischen die beiden. Die Karsetii donnerte mit voller Kraft auf mich zu. Ich wartete. Sie konnte mich rammen und mir einen heftigen Stoß versetzen, aber sie konnte mir keine Lebensenergie absaugen, denn - wer hätte das gedacht? - ich hatte keine mehr.

Als sie direkt vor mir aufragte und ihren Flug ein klein wenig verlangsamte, duckte ich mich, wirbelte herum und versetzte ihr mit all meiner Kraft einen Tritt, als sie über mich hinwegzischte. Mein Fuß traf sie genau ins Auge, und ich hörte ein schrilles Kreischen. Obwohl der Zusammenstoß mich selbst bis ins Mark durchrüttelte, war sie nicht so schwer zu treffen wie ihre kleineren Inkarnationen. Mir ging auf, dass sie ihr vielleicht auch zur Verteidigung dienten. Womöglich war der Dämon selbst verletzlicher als seine »Kinder«.

Die Karsetii stieß einen weiteren Schrei aus. Ich rollte unter ihr weg, bog den Rücken durch und schnellte wieder in den Stand hoch. Smoky hatte sich das Biest gepackt, er hatte den knolligen Kopf des Dämons im Maul und schüttelte ihn wie ein Hund eine Ratte. Ich wich zurück, beeindruckt und vorsichtig zugleich. Smoky in vollem Angriffsmodus war immer eindrucksvoll, aber in seiner Drachengestalt konnte er einem richtig Angst machen.

Ich hörte Camille nach Luft schnappen, und dann schrie sie: »Menolly, lauf! Ich werde dieses Ding verbrennen.«

Ich rannte. Ich rannte so schnell, dass ich beinahe über Roz stolperte, der gerade herumfuhr und nach einer Lücke suchte, die er zum Angriff nutzen konnte. Vanzir stand einfach nur da, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete den Kampf.

Als ich an ihm vorbeiraste, stieß er mich zu Boden und schützte mich mit seinem Körper. Ich hatte zwar das Gefühl, dass dieses Manöver nicht ganz uneigennützig war, aber ich würde mich gewiss nicht darüber beschweren. Egal, was mit mir geschah, solange es nur verhinderte, dass die fehlgeleitete Energie meiner Schwester mich zu Staub zerblies.

»Smoky - weg da!« Ihre Stimme hallte durch den Nebel, und sie hob das Horn. Ich nahm an, dass er ihren Ruf befolgt hatte, denn sie rief laut eine Art Spruch, und eine Hitzewelle zerriss die Luft. Die Karsetii stieß einen durchdringenden Schrei aus, und von meiner Position am Boden aus sah ich nur noch eine flammende Kugel Dämonenkrake durch das Dämonentor schießen. Das Tor pulsierte kurz und blieb wieder still.

Als ich mich zum Sitzen aufrichtete, sah ich, dass Camille mit Ruß und Schleim bedeckt war. Sie verzerrte das Gesicht, und ich merkte, dass sie nicht nur Dämonen-Fallout abbekommen, sondern sich auch selbst verbrannt hatte. Ich raste zu ihr hin, aber Smoky erreichte sie zuerst. Sie stöhnte, als er sie auf die Arme hob.

»Sie hat Verbrennungen an Armen und Beinen. Sie sehen nicht lebensbedrohlich aus, aber sie tun sicher entsetzlich weh und müssen versorgt werden, ehe sie sich entzünden«, verkündete er.

»Bring sie wieder rüber. Wir kamen ja gerade vom AETTHauptquartier. Da können sie sie behandeln. Das heißt wohl ...« Ich warf einen Blick zu Roz zurück. »Roz wird mich rüberbringen müssen. «

»Nein. Seine Abschirmung ist nicht so stark. Vanzir kann er mitnehmen, aber dich nicht. Ihr wartet alle hier«, sagte Smoky und verschwand mit Camille.

Ich ließ mich auf den Boden sinken. Ich war nicht erschöpft, aber von diesem ganzen Chaos war mir schwindelig. »Ich hasse das. Jetzt wissen wir nicht, ob das Ding tot ist... «

»Ist es nicht«, sagte Vanzir. »Aber schwer verwundet. «

»Großartig. Jetzt hat es also ein verwundeter Dämon auf uns abgesehen. Wir haben eine Gruppe von College-Studenten, die Dämonentore öffnen. Und meine Schwester ist verletzt - schon wieder.« Ich blickte zu Roz auf, der die Hand ausstreckte. Ich nahm sie, und er zog mich auf die Füße.

»Dagegen kannst du jetzt nichts tun«, sagte er und rückte näher. Vanzir sah nur zu, einen belustigten Ausdruck auf dem Gesicht.

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Binnen eines einzigen Tages hatte ich beschlossen, mit beiden von ihnen zu schlafen und was jetzt? Nicht, dass ich mich schuldig fühlte oder mir Sorgen um sie machte. Wenn die beiden irgendetwas daran störte, war das ihr Pech. Im Moment gehörte mein Herz Nerissa, wenn überhaupt jemandem. Aber wie sollte ich das handhaben? Camilles Bett schien sich jedes Mal zu vergrößern, wenn ein weiterer Liebhaber hinzukam. Ich war nicht sicher, ob ich eigentlich irgendjemanden in meinem Bett haben wollte. Nerissas würde ich vielleicht teilen, aber ich wollte keine langfristigen Verpflichtungen oder gar Dreiecksgeschichten. Ein Partner auf einmal war mehr als genug für mich.

In diesem Moment trat Smoky wieder auf die Astralebene. »Komm, Menolly. Ich bringe dich rüber.« Als ich zu ihm trat, verschwanden Roz und Vanzir. Smoky hielt mich zurück. »Wir müssen uns kurz unterhalten, da wir gerade allein sind. «

»Was ist denn los?« Er klang so ernst, dass ich mir Sorgen machte.

»Es wäre ein Fehler, mit dem Dämon zu schlafen«, erklärte er.

»Mit welchem denn?«, entgegnete ich. »Ich bin selbst ein Dämon. Roz ist ein Minderer Dämon. Und Vanzir ... «

»Ich spreche von Vanzir. Rozurial ist ein Incubus, und er geht mir zwar auf die Nerven, aber im Grunde ist er recht hilfreich und vernünftig. Vanzir mag an dich und deine Schwestern gebunden sein, aber er ist trotzdem wild. Überlege dir gut, ob du dich ihm wirklich öffnen willst. Ob du es riskieren möchtest, so verletzlich zu sein.«

Während er auf mich herabstarrte, sah ich einen gütigen Ausdruck durch seinen Blick huschen. Normalerweise behandelte Smoky Delilah und mich wie Anhängsel. Oh, er war durchaus nett zu uns, aber wenn Camille nicht gewesen wäre, hätte er uns nie geholfen, und das wussten wir sehr wohl. Aber dieser Ausdruck - er wirkte beinahe fürsorglich.

»Warum sagst du mir das? Was kümmert es dich?«

Er lachte, leise und kehlig. »Du bist die Schwester meiner Frau. Damit bist du nun auch meine Schwester. Drachen nehmen die Familie sehr wichtig. Also beschütze ich meine Familie - euch alle. Komm, Menolly. Reisen wir zurück zur Krankenstation und sehen nach, wie es Camille geht. Ich will nicht, dass ihr etwas geschieht, denn immerhin soll sie die Mutter meiner Kinder werden. «

»Was?« Ich starrte ihn an. »Camille kann doch einem Drachen keine Kinder gebären!«

Er grinste. »Da gibt es Möglichkeiten. Glaub mir, es gibt Wege, dieses Problem zu umgehen. Aber für den Augenblick reden wir nicht weiter darüber. Sie braucht jetzt wirklich keine zusätzlichen Sorgen. Das steht alles noch in der Zukunft.«

Als er mich in die Arme schloss, staunte ich über seine Enthüllung, und doch sah ich jetzt einiges klarer. Smoky hatte Anspruch auf Camille erhoben. Er mochte nicht ihr einziger Liebhaber oder Ehemann sein, aber er nahm seinen Anspruch sehr ernst.

Delilah und ich hatten auch einen gewissen Anspruch auf sie. Da wir an Camille gebunden waren, waren wir damit wohl auch an Smoky gebunden, auf eine Art, die er zu mei nem Erstaunen akzeptiert hatte. Morio empfand vermutlich genauso - und Trillian auch, das war der Grund dafür, dass er uns geholfen hatte. Ich fühlte mich gleich weniger allein, als ich die Augen schloss und wir von der Astralebene zu Camille in die Krankenabteilung sprangen.

Camille saß mit verzerrtem Gesicht auf einer Liege, während Sharah ihre Verbrennungen behandelte. Das Rot war schon ein wenig verblasst, und jetzt konnte ich erkennen, dass die Wunden nur oberflächlich, aber natürlich trotzdem schmerzhaft waren. »Du wirst keine Narben zurückbehalten, wenn wir dich schön hiermit einschmieren und dich mit Tegot-Tinktur vollpumpen«, sagte Sharah gerade. Die Tegot-Pflanze enthielt ein natürliches Antibiotikum, das bei Feen wie bei Normalsterblichen Wunder wirkte. »Erst einmal musst du dich vierundzwanzig Stunden lang ausruhen und darfst dich nicht anstrengen. Sonst riskierst du, dass der Schaden größer wird. «

»Aber Menolly braucht mich ...«, protestierte Camille.

»Hör auf«, sagte Morio bestimmt. »Delilah kann Menolly helfen, denn die Karsetii ist erst mal weg. Sie kommt vielleicht wieder, aber nach allem, was Roz mir von deinem Angriff erzählt hat, könnt ihr davon ausgehen, dass sie eine Weile brauchen wird, um sich davon zu erholen. «

»Der Fuchs hat recht«, sagte Smoky und schob sich zu ihr durch. »Du wirst dich den Rest der Nacht ausruhen, und wenn du das nicht freiwillig tust, werde ich dich eben ans Bett fesseln. «

»Als wäre das etwas Neues$, bemerkte Morio. »Aber keine Sorge, Camille. Wir können Menolly auch helfen. Wir alle. «

»Nicht alle. Jemand muss zu Hause bleiben und Iris, Maggie und Camille schützen, denn die kann ja nicht kämpfen.« Ich betrachtete die Männer, die um uns herumstanden. »Morio, bleib du bei ihr. Smoky und Roz können auf die Astralebene reisen, und diese Fähigkeit werden wir vielleicht brauchen. Vanzir kennt sich am besten mit Dämonen aus. Damit bist du diesmal außen vor.«

Morio nickte. »Kein Problem. «

»Okay, das Wichtigste zuerst. Wir wissen, dass Harold Young Dämonen beschwört. Wir müssen in dieses Haus und nachsehen, was sie da drin sonst noch verstecken.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht. »Wir haben noch Zeit. Lasst uns an der Bar vorbeifahren und Delilah holen, und dann fahren wir dorthin. Harold wird sicher nicht damit rechnen, dass wir wiederkommen, und mit ein bisschen Glück sind er und seine Freunde auf irgendeiner Party. «

»Ich sorge dafür, dass Camille und Morio nachher nach Hause kommen«, sagte Chase. »Gib Delilah einen Kuss von mir.«

Smoky, Vanzir und Roz reihten sich hinter mir ein, und wir gingen zur Tür hinaus. Es war an der Zeit, dass wir ein paar Antworten fanden und anfingen, dieses Puzzle zusammenzusetzen.

Delilah sprang vor Begeisterung an die Decke, als ich die Tür zum Bunker aufschloss. Sie hatte auf dem Sofa gelegen, eine Tüte Cheetos gemampft und sich eine DVD angeschaut, School of Rock mit Jack Black. Ja, das war mein Kätzchen. Sie wischte sich die Hände an der Jeans ab, hinterließ zwei hell-orangerote Flecken, und lächelte breit.

»Habt ihr es erledigt? Kann ich rauskommen?« Sie packte mich und drückte mich fest an sich, ehe ich mich ihr entwinden konnte.

»Na ja, getötet haben wir es nicht, aber es ist vorerst verschwunden, weil Camille ihm ordentlich den Hintern angesengt hat. Wir haben viel zu tun. Hol deine Jacke, und los geht's.« Unterwegs erzählte ich ihr, was los war - oder zumindest alles, was wir darüber wussten.

»Dantes Teufelskerle sind also für diese schrecklichen Überfälle verantwortlich«, sagte sie.

»Ja. Und sie sind völlig durchgeknallt. «

»Wie gehen wir vor?« Delilah warf den Männern auf dem Rücksitz einen Blick zu. »Nehmt es mir nicht übel, Jungs, aber Menolly und ich sind viel leiser als ihr. Wir können uns problemlos reinschleichen, aber wenn ihr da drin herumtrampelt, wäre alles verdorben.«

Smoky räusperte sich, blieb aber stumm. Roz seufzte. Vanzir kicherte nur höhnisch.

»Wir tun Folgendes. Ich parkte das Auto einen Häuserblock von Harolds Haus entfernt. Du und ich schleichen uns rein. Ihr drei ... verdammt, wenn es zum Kampf kommt, brauchen wir euch vielleicht, aber Delilah hat recht. Wir können nicht alle da drin herumschleichen, solange wir nicht wissen, was da läuft. Bleibt einfach nah beim Haus und haltet die Augen offen.«

Es gefiel mir nicht, dass wir uns aufteilen mussten, aber Delilah hatte recht. Mit den dreien würden wir nie unbemerkt da hineinkommen. Allein mit ihrem dauernden Gestreite machten sie mehr Lärm als eine Schar Gänse.

»Das gefällt mir nicht«, protestierte Roz. »Wir haben uns schon oft irgendwo reingeschlichen - zum Beispiel in das Haus mit den Toxidämonen -«

»Entschuldige mal«, unterbrach ich ihn, »aber ihr habt euch nicht in dieses Haus geschlichen. Nach allem, was ich gehört habe, seid ihr da reingeplatzt, habt das halbe Haus zerlegt und jedes Lebewesen auf euch aufmerksam gemacht, das da drin war. Bei der Operation hier sollten wir wirklich unbemerkt bleiben. Ihr drei haltet draußen Wache und gebraucht euren Verstand.« Ich warf ihnen einen strengen Blick zu. »So viel ihr zu dritt davon aufbringen könnt.«

Wir stiegen aus dem Auto und gingen auf das Verbindungshaus zu, wobei wir uns möglichst in den Schatten hielten. Irgendwie schaffte es sogar Smoky, sich zu verbergen, trotz seiner leuchtend weißen Kleidung. Allerdings war der Mond fast voll und tauchte alles und jeden in sein helles Licht.

Wir schlichen um das Haus herum und suchten nach irgendeinem Weg, hineinzugelangen. Roz deutete auf die linke Seite der hinteren Veranda. Eine Tür führte unter die Verandatreppe. Bingo.

»Okay, ihr Jungs haltet die Augen offen und lasst euch nicht blicken.« Leise öffnete ich die Tür und schaute durch den Türspalt. Der winzige Raum war an der höchsten Stelle, direkt am Haus, etwa fünfundzwanzig Zentimeter höher als ich.

Ich warnte Delilah, damit die sich nicht den Kopf stieß, und schlüpfte durch die Öffnung. Sie folgte mir und schloss die Tür hinter sich.

Keine von uns konnte wirklich im Dunkeln sehen, aber dank unserer besonderen Natur sahen wir im Halbdunkel viel besser als VBM. Ein Fleckchen Mondlicht fiel durch die Treppenstufen herein und zeigte uns den Umriss einer weiteren Tür, die direkt unter das Haus führte.

Ich zog daran. Sie war mit einem Vorhängeschloss versehen. Ich wollte es gerade ausreißen, als Delilah die Hand hob. Sie holte eine kreditkartengroße Hülle aus der Tasche und knackte flink das Schloss. Ich öffnete die Tür, schob mich durch den Spalt, und sie folgte mir.

Ich hatte damit gerechnet, eine Art Kriechkeller vorzufinden, aber nicht eine Öffnung im Boden, die offensichtlich regelmäßig benutzt wurde. Man gelangte über eine fest eingebaute Leiter nach unten, und ich spähte in das Loch und stellte fest, dass es zu einem Tunnel führte, etwa drei Meter tiefer gelegen. Der unterirdische Gang schien leer zu sein, also kletterten wir die Leiter hinunter.

Zwei Lichterketten zogen sich den Flur entlang, eine unter der Decke in gut zwei Metern Höhe, eine an der Wand knapp über dem Boden, der aus festgestampfter Erde mit einem Gehweg aus Holzplanken bestand. Ich zögerte, bedeutete Delilah, sich ganz still zu verhalten, und lauschte angestrengt. Anscheinend lauschte auch Delilah; sie hatte die Ohren gespitzt und die Augen geschlossen. Vermutlich witterte sie auch in der Luft. Wir gaben ein gutes Team ab, obwohl Camille mit ihrem Gespür für alles Magische uns jetzt auch nicht geschadet hätte.

»Hörst du irgendwas?«, flüsterte ich.

Delilah schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.«

Ich nickte. »Also gut. Dann los.« Ich achtete sorgfältig darauf, schön auf den Brettern in der Mitte zu bleiben. In den Lücken dazwischen konnte sich wer weiß was verbergen. Viromortis-Gallerte hatte sich in dieser Gegend angesiedelt.

Und es gab noch andere Wesen - nicht unbedingt magisch -, die einem ganz schön zusetzen konnten. Winkelspinnen zum Beispiel, und Ratten.

Während wir uns den Tunnel entlang schlichen, fragte ich mich, wie lange es ihn schon geben mochte. Harold hatte das Haus wohl vor vier oder fünf Jahren übernommen, aber der Tunnel selbst - sogar das Holz, aus dem der Gehweg bestand -sah viel älter aus. Die Wände aus nackter Erde waren verhärtet und verdichtet, wie es nur die Zeit bewirken konnte.

Als hätte Delilah meine Gedanken gelesen, flüsterte sie: »Ich fühle hier ein hohes Alter. Alter und ... Tod. Viel Tod.« Sie erschauerte. »Das gefällt mir gar nicht, Menolly. Eine Menge Schmerz ist in das Land hier eingesickert. Camille könnte es vermutlich noch besser spüren als ich, aber die Energie ist so stark, dass sie förmlich stinkt.«

Ich schloss die Augen und versuchte zu spüren, wovon sie sprach. Normalerweise nützte das nichts, aber diesmal drangen doch ein paar Sachen zu mir durch: Energien, die mir vertraut waren. Der Geruch von vergossenem Blut - sowohl altes als auch frisches. Leichte Wellen dämonischer Energie in der Luft. Der Hauch eines Luftzugs, der mir sagte, dass wir auf eine größere Kammer zuhielten, in der Luft zirkulieren konnte.

»Komm weiter«, sagte ich und winkte sie voran. Wir gingen langsam den leicht abfallenden Gang entlang. Ich versuchte zu schätzen, wie tief unter der Erde wir waren. Wir mussten mindestens fünf bis sechs Meter unter dem Haus sein, und ich hatte das Gefühl, dass es vor uns noch tiefer hinabging. Wie hielt das Fundament darüber?

Der Tunnel endete an einer T-Kreuzung. Ein Gang führte nach links, einer in einem Bogen nach rechts und dann gleich spiralförmig abwärts. Ich schaute in die linke Abzweigung, vergegenwärtigte mir die Lage des Hauses auf dem Grundstück und schloss, dass uns dieser Tunnel auf die Straße vor dem Haus führen würde.

»Abwasserkanal?«, flüsterte Delilah.

Natürlich! Ich bedeutete ihr zu warten und lief den Tunnel entlang, stieß aber gleich darauf auf eine Tür. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spaltbreit, und tatsächlich drang der Gestank von Abwasser heraus. Ein Blick nach oben zeigte mir eingemauerte Sprossen, die ... jawohl ... zu einem Kanaldeckel führten. Durch diesen Teil des Tunnels hatten sie also einen geheimen Zugang zur Straße.

Ich eilte zurück zu Delilah und berichtete ihr, was ich gefunden hatte.

»Aber wozu sollten sie einen Geheimgang brauchen? Warum gehen sie nicht einfach durch ihre eigene Haustür? «

»Vielleicht benutzen sie ihn gar nicht, aber wer auch immer vorher hier gelebt hat, hatte Grund dazu. Ich meine, das wäre eine perfekte Möglichkeit für ein räuberisches Wesen, unentdeckt zu kommen und zu gehen. Einen Serienmörder oder so.«

Delilah erschauerte. »Der Gedanke gefällt mir gar nicht. Diese Gruppe ist schon schlimm genug. «

»Na ja, denk daran, dass ihre Familien schon eine ganze Reihe von Mitgliedern bei Dantes Teufelskerlen hatten.« Ich fragte mich, wie weit diese ganze Sache in Harold Youngs Familie zurückreichen mochte. Seinem Onkel hatte das Haus gehört, und Harold musste diese dämonischen Riten von jemandem gelernt haben. Irgendwie glaubte ich nicht, dass noch so viele Jahre Dungeons & Dragons oder Diablo in dieser Hinsicht viel nützten.

Ich zeigte nach rechts, und wir gingen langsam die Spirale hinab. Delilah berührte mich plötzlich am Arm.

»Augenblick mal. Mein Handy ist auf Vibration geschaltet, und irgendwer ruft mich an. Nicht zu fassen, dass es hier unten überhaupt funktioniert. Die müssen irgendwelche Technik hier verbaut haben, mit der Anrufe auch unterirdisch zu empfangen sind.« Sie meldete sich und sagte gleich darauf leise: »Ja, es geht uns gut. Bisher jedenfalls.« Rasch beschrieb sie, wo wir waren, und mir wurde klar, dass entweder Smoky oder Roz sie angerufen hatte. Sie legte auf. »Smoky. Will wissen, warum wir uns noch nicht gemeldet haben. «

»Ihr guten Götter, der betrachtet sich jetzt tatsächlich als unser großer Bruder«, sagte ich und verzog das Gesicht.

Delilah lachte leise. »Also, mir gefällt das irgendwie. «

»Ja, das glaube ich gern.« Ich lächelte sie an. »Also, dann wollen wir mal sehen, was uns am Ende dieser Treppe erwartet.«

Wir wanden uns weiter abwärts. Der Tunnel war zu einer Wendeltreppe geworden, deren Schacht senkrecht in den Boden gegraben worden war. Als wir das Ende erreichten, sah ich eine Metalltür, die vermutlich in einen weiteren Tunnel führte. Inzwischen hatte ich keine Vorstellung mehr davon, wie tief unter der Erde wir uns befanden, aber der Luftzug schien mir immer noch recht stark, also musste der Gang gut belüftet sein. Ich blickte zur Decke auf und suchte nach Lüftungslöchern. Tatsächlich, an der ganzen Wand zogen sich Rohre entlang, und etwa alle drei Meter war eine Öffnung. Wer auch immer sich dieses unterirdische Versteck gebaut hatte, hatte es wirklich ernst gemeint. Und er musste ziemlich reich gewesen sein.

Am Fuß der Treppe blieb ich stehen und drückte mich an die Wand. Delilah stellte sich neben mich. Wir warteten und lauschten. In der Ferne waren leise an- und abschwellende Stimmen zu hören. Ich konnte nicht genau einschätzen, wie weit weg die zugehörigen Leute waren, aber im Zweifel ging ich davon aus, dass sie nichts Gutes im Schilde führten und wir uns folglich vor ihnen in Acht nehmen sollten. Ich drückte das Ohr an die Tür, aber von der anderen Seite war sonst nichts zu hören. Ich warf Delilah einen Blick zu, und auf ihr Nicken hin drehte ich vorsichtig an dem Rad und öffnete die Tür einen Fingerbreit.

Lautlos huschte ein Luftschwall an uns vorbei, und ich spähte durch die Lücke. Den Tunnel, den ich mir hinter der Tür vorgestellt hatte, gab es nicht.

Stattdessen starrte ich auf die metallenen Wände eines ganzen unterirdischen Gebäudes. Schwache Lichter - wie kleine, runde LED-Leuchten - liefen in zwei Reihen an der Decke entlang. Der breite Flur führte geradeaus, und ich konnte weiter vorn Türen zu beiden Seiten erkennen.

Scheiße. Wir waren in etwas richtig Großem gelandet, kein Zweifel. Oder etwas, das einmal groß gewesen war. Das war schwer zu sagen. Jedenfalls verriet uns das Echo der Stimmen schwach, aber deutlich zu hören - von weiter vorn, dass der Komplex nicht ganz verlassen war. Und was auch immer der Singsang dieser Stimmen bedeuten mochte, er klang unheimlich.

Delilah tippte mir auf die Schulter. Sie wies mit einem Nicken in den Flur, und ich zuckte mit den Schultern. Nun waren wir schon so weit gekommen. Da konnten wir ebenso gut einmal nachschauen, was Dantes Teufelskerle hier so anstellten.