Kapitel 5

 

Anstatt direkt nach Hause zu fahren, beschloss ich, Sassy Branson einen Besuch abzustatten, um vielleicht etwas über Claudette und den Clockwork Club herauszufinden. Bis zum Morgengrauen waren es noch gut drei Stunden, und Sassy hatte nie etwas dagegen, wenn ich unangekündigt hereinschneite, vor allem, seit meine Tochter Erin bei ihr wohnte.

Erin. Das war vielleicht ein psychisches Minenfeld. Selbst als Kind hatte ich mir nie ausgemalt, einmal Mutter zu werden, aber hier war ich nun, selbst noch kaum erwachsen, mit einer Tochter im mittleren Alter, für die ich verantwortlich war.

Sassy wohnte in einer Villa in der Gegend von Green Lake. Das Haus stand auf dem Achttausend-Quadratmeter-Anwesen vornehm zurückversetzt. Es war riesig und vollständig abbezahlt, dank Sassys wohlhabendem, verstorbenem Ehemann. Dass Sassy lesbisch war - was sie während ihrer Ehe diskret geheim gehalten hatte -, hatte ihn offenbar nie gestört. Mann und Frau waren in dieser Ehe freundschaftlich ihrer getrennten, aber sehr angenehmen Wege gegangen.

Kurz nachdem ich die Klingel am Tor gedrückt hatte, drang die Stimme der allgegenwärtigen Janet aus der Sprechanlage. Ich nannte meinen Namen und wartete, während die Torflügel aufschwangen.

Janet war Sassys Sekretärin, Haushälterin und langjährige Freundin, alles auf einmal. Als ich von Sassys sexueller Orientierung erfahren hatte, hatte ich mich gefragt, ob Janet auch einmal ihre Geliebte gewesen sein könnte. Doch seither war klar geworden, dass Janet durch und durch hetero war. Aber die Frau hatte sich um Sassy gekümmert, seit die sechzehn gewesen war, und sie war so loyal, wie man nur sein konnte.

Janet erwartete mich an der Tür, als ich aus dem Jaguar stieg und die Treppe hinaufeilte. Ihr Witwenbuckel konnte es mit dem von Julia Child aufnehmen. Janet war auch so korrekt und lustig wie Child, und wenn ich so darüber nachdachte, sah sie der Grande Dame der französischen Küche sogar recht ähnlich.

»Miss Menolly, kommen Sie doch herein. Miss Sassy erwartet Sie im Salon.« Ihre Stimme klang etwas krächzend, aber ihr Lächeln war herzlich.

»Ist Erin bei ihr?«, fragte ich, begierig darauf, meine Tochter zu sehen.

Janet nickte und ging zur Küche, während ich durch den Türspalt in den Salon lugte. Erin und Sassy saßen am Schachtisch und spielten eine Partie. Sassy war ganz in Chanel gekleidet, wie üblich, und roch auch überwältigend danach. Kein Härchen wagte es, auf ihrem elegant frisierten Kopf aus der Reihe zu tanzen.

Erin hingegen war keine mädchenhafte Frau, noch nie gewesen. Aber Sassy hatte entschieden, dass Erin unter ihrem Dach weder die alten Flanellhemden noch die ausgebeulten Jeans tragen durfte, die sie so sehr liebte. Und Sassy bekam immer ihren Willen. Erin trug einen Hosenanzug aus Leinen und schien sich nur leicht unwohl darin zu fühlen.

Meine Tochter hatte ihre Sonnenbräune verloren und näherte sich rapide dem Beinahe-Albino-Stadium, das jeder Vampir mit heller Hautfarbe irgendwann erreichte. Dunkelhäutige Vampire blieben so, aber alle künstlich oder durch die Sonne veränderten Hautfarben verschwanden.

»Buh!«, rief ich und betrat den Raum.

Erin sprang auf und sank in einen tiefen Knicks. Sie würde noch lernen, diesen Drang zur Unterwürfigkeit zu kontrollieren, doch während der ersten Jahre machten fast alle Vampire einen Kniefall vor ihrem Meister. Ich hätte das bei Dredge auch getan, wenn er noch in der Nähe gewesen wäre, nachdem er mich verwandelt hatte. Ich hätte mich jeden Augenblick innerlich dagegen gesträubt, aber ich hätte es trotzdem getan, denn es wäre mir unmöglich gewesen, ihn nicht ehrerbietig zu begrüßen.

»Na, wie geht's?« Ich bedeutete ihr, sich wieder zu setzen, und ließ mich gegenüber auf dem Sofa nieder.

»Sassy bringt mir gerade bei, wie ich meinen Glamour kontrollieren kann.« Erin klang immer noch nicht wie sie selbst. Auch das war nur zu erwarten. Sie war jetzt mein Kind, und ihr Bedürfnis, mir alles recht zu machen, überlagerte noch ihre Persönlichkeit. Obendrein war Erin die Vorsitzende des hiesigen Vereins der Feenfreunde gewesen, ehe ich sie verwandelt hatte, also lief bei ihr auch noch diese Feen-Begeisterung mit.

»Sehr schön. Das ist eine wichtige Lektion, Erin. Du musst lernen, dich in Gegenwart von Atmern zu beherrschen, und dazu gehört auch, dass du die Manipulation von Menschen jederzeit unter Kontrolle hast. Übe fleißig für mich, ja?«

Ich fand es grässlich, mit ihr zu sprechen wie mit einem Kind, aber genau das erforderte die Situation. Sie war jung, noch sehr jung in ihrer neuen Daseinsform, und die Freude an der Entdeckung ihrer neuen Fähigkeiten konnte leicht in Missbrauch umschlagen. Vampire, mit denen nicht geübt wurde, wandten sich recht schnell dem Raubtier in ihrem Inneren zu. Das Letzte, was ich wollte, war, meine Tochter töten zu müssen.

Ich warf Sassy einen Blick zu, die Erin voller Stolz betrachtete. »Erin ist sehr fleißig«, sagte sie. »Sie macht bemerkenswerte Fortschritte - sie lernt wirklich sehr schnell. Erin, warum gehst du nicht ein Weilchen in dein Zimmer? Du darfst fernsehen oder im Internet surfen, oder was immer du sonst bis Sonnenaufgang tun möchtest.«

Erin gehorchte und wünschte uns murmelnd gute Nacht. Ich hatte Sassy die Autorität verliehen, ihr Anweisungen zu geben, und bis ich sie widerrief, betrachtete Erin Sassy als ihre Hüterin, wenn ich nicht da war.

Sobald Erin den Raum verlassen hatte, wandte Sassy sich mir zu, und ihr Blick war besorgt. »Ich habe schon gehört, was zwischen dir und Wade vorgefallen ist. Das tut mir schrecklich leid, meine Liebe. Er hat mir erzählt, was er vorhatte, ehe er mit dir gesprochen hat, und ich habe versucht, es ihm auszureden. Es gibt doch gewiss eine andere Möglichkeit, das Problem anzugehen.« Sie beugte sich vor und berührte kaum spürbar meine Hand.

Ich runzelte die Stirn. Wie ich vermutet hatte, war Wade vorher hier gewesen. Zweifellos hatte er sich Sassys Unterstützung holen wollen.

»Bist du sicher, dass ich nicht gehen und Erin mitnehmen sollte? Der Umgang mit mir wird dir im Augenblick keine Freunde schaffen.« Ein billiger Versuch, ihre Meinung zu erfahren, zugegeben. Aber Wades Kehrtwendung, so erbärmlich sie sein mochte, hatte einen Nerv getroffen, der unaufhörlich schmerzte.

Sassy schnaubte. »Meine Liebe, vergisst du da nicht eine Kleinigkeit? Ich habe meinen Meister ebenfalls umgebracht. Und daran habe ich auch Wade erinnert. Ich bin nicht so bekannt wie du, und da ich mein wahres Wesen geheim halte, wissen außerhalb der Vampir-Gemeinschaft nur ein paar ÜW, dass ich überhaupt dazugehöre. Aber falls ich es je satt haben sollte, mich zu verstecken, und mich als Vampirin oute, werde ich auch offen über Takiya, meinen Meister, sprechen.« Beeindruckt lächelte ich sie an. »Ich finde, es ist höchste Zeit, Sassy. Steh zu deinem wahren Selbst. «

»Menolly«, sagte sie zaghaft, und als sie mich ansah, flatterte ein nervöses Zucken unter ihrer Augenbraue. »Da ist noch etwas, worüber ich mit dir sprechen muss.«

Ich fing ihren Blick auf. Ich wusste ganz genau, worüber sie mit mir sprechen wollte. Ich hatte schon seit Monaten gespürt, wie das Thema zwischen uns in der Luft hing, jedes Mal, wenn ich Sassys Haus betrat. »Ich glaube, ich weiß, worum es geht, und wenn ich recht habe, dann vermute ich das schon seit Wochen. Aber ich wollte warten, bis du bereit bist, darüber zu sprechen. Es geht um Erin, oder? Du hast dich in sie verliebt.«

Sassy lächelte mich schief an. »Wir haben uns ineinander verliebt. Damit habe ich weiß Gott nicht gerechnet. Du meine Güte, ich hätte nie auch nur daran gedacht, aber ... wir haben uns in den vergangenen Wochen über so vieles unterhalten. Wir verstehen uns so gut. Wir sind ungefähr im selben Alter - ich bin ein bisschen älter, aber nicht viel. Es passt einfach alles. «

»Ich weiß, aber sie ist noch so neu in unserem Dasein ... «

»Menolly, ich gebe dir mein Wort: Ich werde sie zu nichts drängen. Aber gestern Abend hat Erin mir ein Geständnis gemacht. Sie hat gesagt, sie hätte schon immer Frauen bevorzugt, aber nie den Mut gehabt, dazu zu stehen. Ihre Familie hätte das niemals akzeptiert, und die Familie war Erin sehr wichtig. Jetzt hat sie nichts mehr zu verlieren. Wenn sie sie als Lesbe nicht akzeptiert hätten, werden sie sich ganz sicher nicht tolerant zeigen, wenn sie ihnen eröffnet, dass sie ein Vampir ist. Und sie wird es ihnen sagen.«

Ich nickte. Ich hegte schon seit Wochen den Verdacht, dass Sassy und Erin sich nicht nur auf freundschaftliche Art mochten. Die Vorstellung, dass die beiden etwas miteinander hatten, störte mich nicht, aber ich fürchtete, einer Beziehung könnte Erin noch nicht gewachsen sein. Sich als Untote zu outen, war schwerer, als sich zu seiner Homosexualität zu bekennen. Sich beides gleichzeitig aufzuladen, war praktisch eine Garantie für größere Probleme.

»Solange du sie nicht überlastest ... Erin muss noch viel über ihr neues Dasein lernen, und ich möchte nicht, dass sie sich schwerer zurechtfindet, weil sie mit einer Beziehung beschäftigt ist, statt die Kontrolle über ihre wachsenden Fähigkeiten zu lernen. Ich habe Dredges Blut in mir, und er war sehr mächtig. Vermutlich einer der mächtigsten Vampire, die es je gegeben hat. Und obendrein bin ich von Geburt halb Fee, also wird Erin ein paar interessante Besonderheiten entwickeln.« Ich seufzte. »Wie weit ist das mit euch denn schon gegangen? Ich weiß, das klingt unverschämt neugierig, aber ...«

Sassy nickte anmutig. »Als ihre Meisterin ist es dein gutes Recht, nach so etwas zu fragen. Wir haben ... es hat sich zwischen uns ... nichts abgespielt. Wir unterhalten uns viel miteinander. Ich werde deine Wünsche in dieser Sache respektieren, aber wenn du möchtest, dass ich ewig auf der platonischen Ebene bleibe, muss ich dich bitten, sie anderswo unterzubringen. Ich weiß, das ist nicht nett...«

Ich lachte. »Nicht nett? Du hast sie in dein Haus aufgenommen. Du hast deine Zeit und Energie darauf verwendet, ihr zu helfen. Wie viele andere Vampire hätten dasselbe für mich und meine Tochter getan? Nein, Sassy, ich stehe in deiner Schuld. Aber wenn ihr es noch ein Jahr lang bei einer platonischen Freundschaft belassen könntet, wäre das wohl das Beste. Ich will damit nicht sagen, dass ihr nicht miteinander reden oder Händchen halten sollt, aber ... kannst du es vorerst dabei belassen?«

Sassy nickte. »Ich verspreche es dir. Erin wird hierbleiben, wir werden schön brav sein, und wir werden dich nicht enttäuschen.« Sie zwinkerte mir zu. »Und du - wie geht es der entzückenden jungen Werkatze, mit der du dich triffst?« Wenn ich erröten könnte, hätte ich es getan. Ich machte mein Liebesleben nicht öffentlich, wie Camille es tat. Nicht etwa, weil ich schüchtern wäre oder mich meiner sexuellen Orientierung geschämt hätte. Nein, mit wem ich schlief, war einfach ein sehr privater Teil meines Lebens - wie auch das Trinken. »Wir machen eine Zwangspause, aber das hat nichts mit uns zu tun. Ihr Rudel hat entschieden, dass sie für diesen Sitz im Gemeinderat kandidieren soll, den Zachary ursprünglich haben wollte. Er wird noch sehr lange brauchen, bis er wieder völlig gesund ist, und er muss sich ganz darauf konzentrieren, wieder zu Kräften zu kommen.«

Ich lehnte mich zurück und starrte an die Decke. Ein kunstvoll ausgeschmückter Kronleuchter erhellte den Raum - ein Traum in bleiverglasten Libellen. »Tiffany?«

Sie nickte. »Mit Echtheitsstempel. Er gehörte meiner Schwiegermutter, und sie hat ihn uns zur Hochzeit geschenkt, weil ich ihn einmal bewundert habe. Sie war eine furchteinflößende Frau, aber fair.« Ihre Stimme klang erstickt, und sie unterbrach sich. Gleich darauf zuckte sie mit den Schultern. »Margaret war eine gute Schwiegermutter. Sie hat uns nie zugesetzt, weil wir keine Kinder mehr haben wollten, nachdem unsere Tochter ertrunken war.«

Ich hatte Sassy nie nach ihrer Tochter gefragt, weil ich nicht aufdringlich sein wollte, doch nun schien sie darüber sprechen zu wollen. »Wie hieß sie denn?«

Sassy blickte zu mir auf, und Überraschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Ich habe dir kaum etwas über sie erzählt, nicht wahr?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, und ich habe mich nie so recht getraut, danach zu fragen.«

In diesem Moment betrat Janet mit zwei Kelchen Blut das Zimmer. Ich fragte Sassy auch nicht danach, woher sie ihr in Flaschen abgefülltes Blut bekam - das wäre mir irgendwie unpassend erschienen. Ich nahm einen der hohen Kelche entgegen und nickte der ältlichen Frau ernst zu. Janet wollte von Sassys Freunden nicht wie eine Freundin behandelt werden. Sie hegte strenge Ansichten darüber, was sich gehörte, und zeigte keinerlei Interesse daran, sich je an der Unterhaltung zu beteiligen.

»Danke, Janet. Wenn Sie noch die Vorhänge schließen würden, können Sie sich gern ein, zwei Stunden lang zurück ziehen. Aber seien Sie bitte gegen vier wieder da.« Sassy sprach sehr freundlich mit ihr. Falls es Janet störte, dass Sassy ein Vampir war, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Nachdem die Haushälterin gegangen war, wandte Sassy sich wieder mir zu. »Sie hat dich fast dein ganzes Leben lang begleitet, nicht wahr?« Ich schwenkte das Blut im Kelch herum. Das war kein Tierblut, so viel stand fest.

Sassy nickte lächelnd. »Ja, so ist es. Ich habe niemals auch nur versucht, sie zu beißen, ganz gleich, wie hungrig ich war. Mir graut vor dem Tag, an dem sie dahinscheiden wird. Ich werde mir so dringend wünschen, ich könnte sie auf unsere Seite holen, aber das verbiete ich mir. Ich habe ihr bereits gesagt, dass ich es nicht tun werde, aber dass ich ihr bis zum Schluss beistehen werde. Janet hat Krebs, weißt du? Einen langsam wachsenden Hirntumor. Sie stirbt, Menolly, und in etwa einem Jahr werde ich sie ganz verlieren.« Blutige Tränen stiegen ihr in die Augen. »Sie hat mir nähergestanden als sonst irgendjemand - näher als meine Familie, meine Freundinnen, sogar näher als mein verstorbener Mann. Janet ist ... ein Teil von mir. «

»Aber du willst sie nicht herüberholen«, sagte ich.

Ich fragte mich, was sie empfinden würde, wenn Janet starb. Ich hatte mir geschworen, niemals einen neuen Vampir zu erwecken, bis ich mit Erins bevorstehendem Tod konfrontiert gewesen war und sie darum gebettelt hatte, weiterleben zu dürfen. Ich hatte nachgegeben und sie verwandelt, und hier waren wir nun. Aber ich hielt den Mund. Sassy würde das selbst mit ihrem Gewissen ausmachen und dann mit der Entscheidung leben müssen.

»Nein.« Sassy nippte an dem Blut und tupfte sich dann vornehm die Lippen mit einer scharlachroten Serviette ab. »Menolly, ich vermisse die Jagd. Seit sechs Monaten kaufe ich mein Blut von der Blutbank. Es gibt eine neue, im Stadtzentrum. Sie bezahlen Straßenkinder für ihr Blut und verkaufen es an Vampire. So kommen die Kids an ein bisschen Geld, und die Bank führt Aufzeichnungen, damit niemand ausgezehrt wird. Wade ist für dieses kleine Unternehmen verantwortlich.«

Ich starrte in den Kelch voll rotem Feuer. »Warum bist du nicht auf die Jagd gegangen?«

Sassy räusperte sich. Ich blickte zu ihr auf, und sie hielt meinen Blick fest.

»Weil ich es zu sehr genieße. Ich rutsche ab. Nur ein bisschen, Menolly, aber es macht mir schreckliche Angst. Deshalb ist Erin so gut für mich. Sie erinnert mich daran, wie wichtig das Training ist. Ihr zu helfen, hilft auch mir.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Ich möchte, dass du mir etwas versprichst. Ich habe keine Familie, also betrachte es als meinen Lohn dafür, dass ich Erin helfe. Wenn es so weit ist...«

Ich wusste, worum sie mich bitten würde, denn ich hatte Camille dasselbe Versprechen abgenommen. »Falls die Zeit kommt, ja, ich verspreche es. Ich werde es schnell tun. Du wirst nicht leiden, und du wirst auch niemand anderem mehr Leid zufügen.«

Mit einem Nicken lehnte Sassy sich auf ihrem Sessel zurück und entspannte sich. »Ich danke dir. Das beruhigt mich sehr. Also, nun zu meiner Tochter. Sie war wunderschön. Ihr Haar war genauso goldblond wie Delilahs. Sie war so zierlich und doch so stark. Abby hatte die Art Selbstbewusstsein, die sich nur natürlich entwickeln kann, und so etwas wie Gemeinheit war ihr völlig fremd. Abigail war meine Rettung. Sie gab mir einen Grund, mein wahres Wesen unter Konventionen, Sitte und Anstand zu vergraben. Ich habe sie über alles geliebt, Menolly. Ich wäre für sie gestorben.« Sie senkte den Kopf, und wieder klang ihre Stimme ein wenig erstickt. »Als sie fünf Jahre alt war, haben wir in Ocean Shores Urlaub gemacht. Wir sind am Strand spazieren gegangen - Janet, Abby und ich. Johan saß in irgendeiner Besprechung ... einer Telefonkonferenz oder so etwas. Jedenfalls wollte ich ein bisschen die Sonne genießen und bin auf der Stranddecke eingeschlafen. Auf einmal habe ich Janet schreien hören. Ich bin aufgewacht und habe sie ins Wasser rennen sehen. Abby hatte am äußersten Rand der Wellen gespielt, und plötzlich setzte die Flut ein. Die Wellen erfassten sie.«

Ich schloss die Augen, damit sie sich in ihrer Trauer ungestört fühlen konnte.

»Abby wurde von einer heftigen Strömung in der Brandung erfasst, und ehe Janet sie erreichen konnte, war sie weg. Einfach so. Die Rettungsschwimmer waren schnell da, aber sie wurde erst am nächsten Tag gefunden - ihre Leiche wurde an den Strand gespült.«

Sassy stieß ein tiefes, bewusstes Seufzen aus, und ich wusste, dass sie die Atemübungen machte, die ich ihr beigebracht hatte. Manchmal, wenn Emotionen zu intensiv wurden, half es, die Lunge in Bewegung zu setzen, tief durchzuatmen, obwohl wir den Sauerstoff nicht mehr brauchten. Die Luft anzuhalten, zu zählen, bis Panik, Angst oder Wut nachließen, und sie dann langsam wieder ausströmen zu lassen.

»Was ist passiert? «

»An diesem Tag ist das Licht in meinem Leben erloschen. Johan und ich haben es irgendwie durch diese Zeit geschafft. Janet war gebrochen und machte sich entsetzliche Vorwürfe, aber es war nicht ihre Schuld. Ich hätte wach sein müssen. Ich hätte auf meine Tochter aufpassen müssen.« Blutrote Tränen rannen ihr über die Wangen. »Den Rest meines Lebens verbrachte ich damit, den Erinnerungen aus dem Weg zu gehen. Und in den Jahren seit meinem Tod versuche ich, Wiedergutmachung zu leisten, indem ich anderen helfe.«

Es gab keine Worte, die ihr jetzt helfen könnten. Sassy fuhr sich mit einem leuchtend roten Taschentuch über die Wangen, dann fasste sie sich. »Sprechen wir über etwas anderes. Warum bist du heute Nacht gekommen? Da ist noch etwas, nicht wahr?«

Ein wenig verblüfft erinnerte ich mich an den ursprünglichen Grund, weshalb ich bei ihr vorbeigeschaut hatte. »Ja. Ich brauche Informationen über den Clockwork Club, wenn du etwas über die weißt. Und ich muss wissen, ob du eine Frau namens Claudette Kerston kennst.«

Sie schnaubte. »Den Clockwork Club? Die haben mich eingeladen, bei ihnen einzutreten, aber das ist wirklich nicht mein Stil. Hol schon mal dein Notizbuch heraus. Die sind eine sehr merkwürdige Gruppe, und du willst sicher nichts von dem vergessen, was ich dir sage.« Damit verflog die düstere Stimmung, und sie begann, mir vom elitärsten Vampir-Club im ganzen Land zu erzählen.