Kapitel 22

Besuch

Umso genauer sich Stefan die Silhouette auf dem Meer ansah, umso mehr bestärkte sie ihn in der Annahme, dass es kein Versehen war. Jemand steuerte das Boot direkt in die Bucht hinein.

„Steht mal auf und seht euch das an!“

„Verarsch mich nicht, Stefan. Echt jetzt?“

Liz schüttelte den Kopf ungläubig und stand für ihren schlanken Körper ein wenig zu ungelenk auf.

Helge konnte im gleißenden Licht der Sonne kaum etwas erkennen. Er hob sich die Hand vor die Stirn, um besser sehen zu können.

„Sieht echt so aus, als würden die in die Bucht fahren! Das wäre der Knaller. Dann wären wir heute vielleicht schon weg von hier!“, freute sich Helge.

Liz Euphorie ließ plötzlich ein wenig nach.

„Wäre super, aber überlegt mal. Wir haben nicht einmal darüber gesprochen, was passiert, wenn das Arschlöcher sind.“

„Liz“, setzte Helge an. „Warum sollten sie sich einen so großen Aufwand geben, nur um uns dann abzuzocken“

Stefan hörte interessiert mit, sparte sich aber seinen Kommentar. Ihm fielen einige Gründe ein, wollte Liz aber nicht mit Geschichten über Kannibalen verrückt machen. Es war wichtig, dass sie bei klarem Verstand blieb, wenn sie ihren Plan in den nächsten Minuten umsetzten. Und ganz hatte er die Hoffnung auf Verbündete ja auch noch nicht aufgegeben.

„Da!“, rief Helge aufgeregt.

Diese hibbelige Art war neu und passte nicht zu ihm.

„Sie fahren tatsächlich in die Bucht hinein.“

Liz sah Stefan und Helge fragend an.

„Und was sollen wir tun? Die sehen uns ja nicht hier drin. Auf den Balkon gehen, wird auch nicht genügen. Und wenn wir schreien, hören sie das vielleicht auch nicht.“

„Naja“, bemerkte Stefan. „Wenn sich auf einmal hunderte Untote in Bewegung setzen, weil wir am Rumkrakelen sind, dann sehen die das zumindest und schnallen sicher sofort, was los ist.“

„Oh fuck, Mann“, fluchte Liz.

Ihr wurde gerade klar, dass ihr Einsatz gleich bevor stand.

„Ich kack mir langsam in die Hose. Die hätten sich ruhig noch ein wenig mehr Zeit lassen können.“

„Ruhig, Süße“, versuchte Helge sie zu beruhigen.

„Wir schaffen das. Du schaffst das. Den richtigen Zeitpunkt gibt es sowieso nicht. Wir schnappen uns die Knarren, du dir den Autoschlüssel und dann gehen wir auf den Balkon hinaus und machen uns bemerkbar. Und dann sehen wir was passiert.“

„Also ich bin jedenfalls bereit, in Ärsche zu treten, wenn es sein muss“, stimmte Stefan zu.

Liz war nicht wirklich überzeugt, aber ihr war klar, dass alle Hoffnungen nun auf ihr ruhten. Sie musste sich zusammenreißen und zog ihre Sachen schnell wieder an. Dann folgte sie Stefan, der die Balkontüre aufschob und hinaus trat. Sofort begann er, wie ein Wilder zu winken. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Plötzlich verlangsamte das Boot seine Fahrt und begann, sich von der Bucht weg zu drehen.

„Scheiße Stefan, die sehen uns nicht. Die wenden wieder“, rief Helge aufgeregt.

„Fuck! Du hast Recht“, bemerkte Stefan und atmete tief durch.

„Gut“, sagte er weiter. „Dann muss es wohl sein.“

Er begann zu schreien.

„HEEEY! HIEEER! HAAALLLLLOOO!“

Das Boot reagierte nicht. Dafür setzten sich die Untoten schlagartig in Bewegung. Als hätte Stefan vorher die Zeit angehalten, erwachte die Bucht plötzlich zum Leben. Die bekannte Symphonie des Todes ließ ihre Töne erklingen und bereitete den dreien sofort Gänsehaut. Grunzend bewegten sich die Untoten auf den Yachtclub zu und ließen keinen Zweifel daran, dass sie ihn in wenigen Minuten stürmen würden. Scheiben klirrten und dumpfes Poltern drang nur drei Sekunden später aus dem unteren Stockwerk. Stefan beobachtete Liz und Helge, wie sie auf das Boot starrten. Es war tatsächlich stehen geblieben. Stefan erkannte zwei Gestalten, die in ihre Richtung sahen. Er winkte wieder und erhielt tatsächlich eine Antwort.

„Gott sei Dank! Sie sehen uns!“, sagte Liz erleichtert.

„Ja“, ergänzte Helge. „Jetzt müssen wir nur noch hier raus kommen. Unsere Barriere wird die Maden nicht lange aufhalten.“

„Kommt mit“, befahl Stefan den beiden und stieg über das Holzgeländer des Balkons hinweg und auf das zwei Meter schmale Dach des Untergeschosses. Die leicht mit Moos bewachsenen roten Tonziegel gaben ein helles Knarzen von sich, als Stefan auf sie trat. Direkt unter ihnen tummelten sich zahllose Infizierte, die den Puls der drei noch immer zu steigern vermochten. Sie standen nun direkt über dem Wagen, der von Untoten umzingelt war. Die Gestalten drängten durch den schmalen Eingang des Clubs, standen sich aber gegenseitig so ungeschickt im Weg, dass sie eine riesige Traube bildeten.

„Oh Mann“, sagte Stefan.

Ihr Plan hatte nicht vorgesehen, dass ein großer Teil der Untoten vor dem Gebäude stehen blieben. An den Wagen war so nicht heranzukommen. Stefan sah, dass sich die Untoten kein Stück mehr vorwärts bewegten.

„Ich werde versuchen, sie in Richtung des Balkons zu locken. Riskiert nicht zu viel!“

Liz sah ihn ein wenig ängstlich an. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Dann rannte Stefan zurück und kletterte über die Balkonbrüstung. Wieder machte sich Stefan lautstark bemerkbar.

„IHR SCHEIß WICHSER! HIIEEERRRRR!“

Die Untoten reagierten diesmal wie erwartet. Die, die vor dem Eingang standen, humpelten sofort in seine Richtung. Aber das genügte nicht. Er musste dafür sorgen, dass alle in seine Richtung liefen. Erst versicherte sich Stefan, dass der Balkon hoch genug war. Dann setzte er sich auf den Boden und ließ seine Beine durch die Brüstung baumeln, damit die Untoten ihn besser sehen konnten.

„HIIIERRRRRR HEEERR!“

Unter ihm polterte es. Stefan drehte sich um, konnte durch die Scheiben aber nur Umrisse erkennen. Sie spiegelten zu stark. Er vermutete, dass die Sessel in der Clublounge umgefallen waren. Er konnte hören, wie die Infizierten im Haus unter ihm, von der Treppe aus zur Terrasse drangen, in Richtung seiner Beine. Das konnten aber nicht alle sein, denn aus dem Restaurant hinter ihm hörte er nun ebenfalls Geräusche. Wieder drehte er ich um. Bei genauem Hinsehen, sah er, wie sich Arme und Köpfe auf der Treppe bewegten. Die Barriere schien also noch zu halten. Ein Kribbeln durchfuhr ihn beim Gedanken an die Monster unter ihm. Er fühlte sich, als würde er auf einem kleinen Boot auf hoher See sitzen, während mehrere Haie unter ihm Kreisen zogen.

„LIIIIZ, du bist dran!“, brüllte Stefan zur anderen Seite des Dachs.

Der Eingangsbereich hatte sich schon stark geleert. Trotzdem standen noch immer sieben Untote um den Wagen herum. Liz sah zu Helge.

„Besser wird es wohl nicht mehr, oder?“

„Ich fürchte nicht, nein. Aber hör zu. Ich gehe ein Stück zur Seite und knall so viele ab, wie ich kann. Das wird sie zu mir locken. Dann lässt du dich aufs Auto fallen und springst hinein. Du musst dich beeilen. Die Schüsse werden auch die anlocken, die jetzt bei Stefan sind.“

Liz nickte. Helge sah ihr an, dass sie sich fürchtete und eingeschüchtert war. Am liebsten hätte er ihren Part übernommen, aber im Gegensatz zu ihr, war er auch auf Distanz ein guter Schütze und durch sein Bein war er einfach zu sehr eingeschränkt. So hatte das keinen Sinn. Helge humpelte so schnell er konnte auf die hintere Seite des Dachs und winkte Liz zu. Dann legte er an und jagte dem ersten Untoten eine Kugel in den Kopf. Ein Schwall dunklen Blutes ergoss sich über die kurze Haube des Fiats. Dann sank der tote Körper in sich zusammen. Die sechs restlichen Untoten drehten irritiert ihre Köpfe. Sie konnten sich nicht entscheiden, wo der Schuss hergekommen war und humpelten verwirrt auf der Stelle herum. Helge schoss erneut, traf den vordersten Untoten jedoch nur in den Hals und riss ihm damit den Kehlkopf auf. Nun hatten die Infizierten verstanden und hoben die Arme in Helges Richtung. Ihre blutunterlaufenen Augen hafteten an ihm, während sie losstapften.

Liz duckte sich herunter und sah unter das Dach. Ihr wurde mulmig zumute. Rechts von ihr standen locker an die fünfzig Untote unter dem Balkon. Sie reckten ihre Klauen in die Höhe und versuchten Stefans Beine zu erreichen. Zum Glück hingen die aber gut einen Meter zu hoch für sie. Plötzlich drehten sich ein paar der Untoten in ihre Richtung und bemerkten sie. Erschrocken zog sie den Kopf wieder hoch und sah zu Helge. Jetzt musste sie sich wirklich beeilen. Wie von Helge vorausgesagt, lockten seine Schüsse einige von ihnen an.

Der erste Untote begriff die Situation und löste sich aus der Traube. Liz zog hastig den Autoschlüssel aus ihrer Jacke, drückte auf den Öffner, und ließ sich, als sie die Riegel der Türen aufspringen hörte, ohne zu zögern auf den Wagen fallen. Dessen dach gab ein lautes Plopp von sich und der Wagen begann zu wippen. Der Untote, der Liz bemerkt hatte, war nur zehn Meter entfernt und hatte schon die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen. Sie folgten ihm. Liz konnte nicht glauben, was sie gerade tat. Es war der reinste Wahnsinn. Das Adrenalin in ihrem Körper erweiterte ihre Wahrnehmung. Sie hörte das Grunzen und Gurgeln der Kreaturen noch deutlicher als sonst. Erst ließ sie sich auf ihren Hintern fallen und rutschte dann so schnell sie konnte an der Flanke des Wagens hinab. Nun hatten auch die letzten vier Untoten bei Helge ihre Meinung geändert. Liz war eben einfacher zu erreichen. Helge jagte den Untoten Kugeln in ihre Körper, die sie jedoch nicht beeindruckten. Sie hatten Liz lebendiges Fleisch vor Augen und zuckten in ihre Richtung. Von einem weiteren Adrenalinstoß geschüttelt, riss Liz die Wagentür auf und ließ sich in den rettenden Fiat fallen. Beim Anblick der Monster, die auf sie zuliefen, spürte sie noch immer Panik in ihr aufsteigen. Vorerst war sie sicher, aber in wenigen Sekunden, würde sie umzingelt sein. Sie kämpfte gegen ihre Angst an, konnte aber mitansehen, wie ihre Hände immer stärker zitterten. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.

Der plötzliche Richtungswechsel einzelner, brachte die Traube unter Stefan ins Wanken. Die Untoten rissen sich gegenseitig zu Boden. Stefan bekam mit, dass etwas nicht stimmte, reagierte aber zu spät. Einer der Infizierten hatte seinen Stiefel erreicht, indem er auf den Fleischberg geklettert war, der sich in Sekunden gebildet hatte. Stefan zuckte erschrocken zusammen und versucht sich am Geländer zu halten, doch das Gewicht des Untoten riss ihn nach unten. Allein der Brüstungspfosten zwischen seinen Beinen bewahrte ihn davor, direkt in sein Verderben zu rutschen. Stefan jaulte vor Schmerz auf, als der Ruck durch seinen Schritt gebremst wurde. Der Schmerz schoss ihm bis in den Magen hinauf und lähmt ihn für einen kurzen Moment. Lang genug, um einer zweiten Kreatur die Chance zu geben, nach seinem anderen Stiefel zu greifen. Er war gefangen. Er spürte, dass sie nur bis zu seinen Stiefeln kamen, denn sonst hätten sie ihm bereits die Beine aufgerissen. Aber alles Strampeln half nichts. Sie hingen wie tonnenschwere Kletten an seinen Armeestiefeln. Der Schmerz zwischen seinen Beinen ließ langsam nach und Stefan kam wieder zu Atem. Dann richtete er sich auf, steckte die Waffe zwischen das Geländer und gab blind mehrere Schüsse zwischen seine Beine ab. Die verdammten Kletten gaben nicht nach. Stefan stieß wilde Flüche aus und versuchte verzweifelt, etwas durch das Geländer zu erkennen.

Zu allem Übel hörte er wieder ein lautes Poltern von hinten. Die Untoten hatten die Barriere zur Seite geschoben und waren rasend vor Wut. Er hörte ihr finsteres Schnattern sogar durch die geschlossenen Balkontüren hindurch. Es kroch ihm unter die Haut und ließ ihn kurzzeitig das Brennen seiner Muskeln vergessen. Er drehte den Kopf und sah die Silhouetten Dutzender durch die Scheiben. Plötzlich erkannte er, dass er nur noch Sekunden zu Leben hatte. Es war aussichtslos. Die Untoten drängten wie eine Lawine verfaulten Fleisches auf die Türen zu und hämmerten gegen das Glas. Es würde sie unmöglich aufhalten können. Panisch strampelte er mit den Beinen, aber seine Muskeln brannten dermaßen, dass er sie kaum noch bewegen konnte. Plötzlich brachen die Scheiben hinter ihm und verteilten Glassplitter auf dem Balkon. Er wusste, dass es das gewesen war. Sein Herz pochte noch wild und entschlossen, aber sein Verstand hatte bereits aufgegeben. Die Welt um ihn herum verlangsamte sich und während er seinen Oberkörper auf den Balkon sinken ließ, ergab er sich dem Gewicht unter ihm. Allein das Motorengeräusch des Fiats beruhigte ihn ein kleines bisschen. Wenigstens Liz hatte es also geschafft.

Die Untoten traten ihre ersten Schritte auf das Holz des Balkons und trieben Stefan damit ein Schmunzeln auf die Lippen. Die Beine durch die Brüstung zu stecken, war einfach wirklich eine richtig dämliche Idee gewesen. Stefans Gedanken lagen bei Marty.

Gleich sehen wir uns wieder, Kumpel.

Stefan schloss die Augen, damit er die Hackfressen über sich nicht sehen musste und hielt sich die Pistole an die Schläfe.


***

„Fahr noch näher ran, Sekou!“

„Näher geht nicht. Wir laufen gleich auf, dann sind wir auch geliefert. Sieh es ein, wir können ihnen nicht mehr helfen!“

Matteo wollte nicht wahrhaben, dass die drei ersten Überlebenden, die er zu einem seiner Sammelpunkte getrieben hatte, vor seinen Augen starben. Er würde sich die Schuld dafür geben. Das konnte er nicht zulassen. Dennoch musste er tatenlos mitansehen, wie sich die junge Frau auf den Wagen fallen ließ und langsam umzingelt wurde. Erleichtert stellte er fest, dass der Wagen offen war und sie sich in Sicherheit bringen konnte. Sie startete den Wagen und machte einen Satz nach vorn. Dabei stieß sie drei Infizierte zur Seite. Er hörte die Reifen des roten Wagens erneut quietschen und beobachtete, wie sie ein Stück weiter hinten am Gebäude stehen blieb. Direkt unterhalb des Typen, der noch auf dem Dach stand und wild um sich ballerte. Plötzlich sprang er ebenfalls auf das Dach des Wagens und verschwand in dessen Inneren. Matteo stutzte. Was zuerst wie ein Zaubertrick aussah, stellte sich bei genauerem Hinsehen, als Schiebedach heraus. Dann fuhren sie zur Gebäuderückseite und umgingen damit dem Großteil der Untoten. Das hatten sie geplant. Matteo war beeindruckt.

Nur der dritte im Bunde hatte noch ernsthafte Probleme. Zwei Untote hingen an seinen Beinen und hinderten ihn daran, loszukommen. Viele weitere Untoten standen unter ihm und eiferten den beiden anderen nach. Das sah nicht gut aus. Er konnte ihm nur helfen, indem er versuchte, die Untoten zu erschießen. Matteo rang mit sich. Das Boot stand in fast fünfzig Metern Entfernung in der Bucht. Die Chancen einen Untoten auf diese Distanz zu treffen, lagen bei null. Viel mehr würde er den armen Teufel treffen, der sowieso gleich geliefert war. Andererseits hatte er bereits einen jungen Menschen auf dem Gewissen und der Typ würde sowieso sterben. Matteo dachte an die Ironie der Situation. Das eine Mal schoss er auf einen jungen Kerl, um sich selbst zu schützen. Dieses Mal würde er auf einen Kerl schießen, um ihn zu schützen. Matteo zog seine Pistole und wartete, bis er sich auf den seichten Wellengang eingestellt hatte. Er atmete tief ein und gab beim Ausatmen eine Salve kontrollierter Schüsse ab. Eine der Kreaturen ließ tatsächlich von seinem Opfer ab und fiel zu Boden.


***

Stefan war nie gläubig und doch bat er den Herrn in diesem Moment darum, ihm die Kraft zum Abdrücken zu schenken. Er musste unbedingt verhindern, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Sein Finger zuckte am Abzug und auf einmal drangen die Schallwellen des Schusses an sein Ohr. Er konnte mit einem Mal fühlen, wie sein Körper plötzlich leichter wurde. Weitere Schüsse erklangen. Dann riss Stefan die Augen auf, weil er endlich kapierte, dass er gar nicht abgedrückt hatte. Direkt über ihm zeigte sich, um hundertachtzig Grad gedreht, der sich vor Maden windende Kopf eines Untoten. Er richtete die Waffe neu aus und jagte der widerwärtigen Kreatur eine Kugel aus nächster Nähe zwischen die Augen. Sein Körper fühlte sich nicht leichter an, weil er tot, sondern weil eines seiner Beine frei war. Jemand musste ihm geholfen haben. Stefan nutzte die Gelegenheit und trat kräftig gegen das Gewicht seines zweiten Beins. Der Ballast gab nach und Stefan schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich mit dem einen Arm an der Brüstung hinaufzuziehen, bevor die anderen Untoten ihn erreichen konnten. Sie drangen bereits aus der Tür und blockierten die Seite des Balkons, auf der er den Fiat erwartete. Stefan hatte keine andere Wahl. Er fluchte den Untoten entgegen, was sie noch rasender machte und lief mit drei hastigen Schritten die andere Seite des Balkons entlang. Dann hechtete er über die seitliche Brüstung und stand wieder auf den Tonziegeln des Dachs.

Er konnte sein Glück kaum fassen, als er den roten Fiat um das hintere Eck des Yachtclubs biegen sah. Liz saß am Steuer und rammte die restlichen Kreaturen, die unter Stefans Stück des Daches standen, wie eine Furie beiseite, bis sie in Fahrtrichtung direkt unter Stefan, zum Stehen kam.

Stefan steckte seine Waffe in die Hose und schwang sich mit seinem Hintern auf das Dach hinab. Hinter ihm tobten die Infizierten, die nun den gesamten Balkon füllten und gleich die Brüstung sprengen würden. Der Sprung musste sitzen und so peilte er den Wagen genau an. Ohne nachzudenken, ließ er sich fallen, glitt direkt durch das Schiebedach und schlug sich dabei beide Ellenbogen am Dach des Fiats an. Der Schmerz war ihm egal und Liz wiederum kümmerte sich wenig darum, dass Stefan noch mit halbem Oberkörper aus dem Wagen ragte. Sie legte den Rückwärtsgang ein und raste zurück. Stefan schaffte es unter dem wilden Geruckel gerade so, ins Wageninnere zu gelangen.

„Oh fuck! Was für eine krasse Scheiße!“, schrie er vor Aufregung und lachte wie ein Irrer.

Die Untoten strömten dem Wagen hinterher. Liz fuhr noch immer rückwärts, musste aber abbremsen, bevor sie in die hintere Hausreihe raste, die hinter dem Yachtclub in die Höhe ragte. Alle ahnten, welcher Teil des Plans nun kommen würde.

„Und ihr seid euch sicher, dass wir das echt tun wollen?“, fragte Liz beim Anblick der Kreaturen, die ihnen die Sicht auf das Wasser vor ihnen versperrten.

„Liz, da kann nichts schief gehen“, sagte Helge wild gestikulierend. „Fahr einfach nicht zu langsam, aber gib auch nicht zu viel Gas, sonst prallen wir zu heftig auf dem Wasser auf.“

„Du bist ja lustig, Helge. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Ja was denn nun?“

„Fahr einfach, LIZ!“, brüllte Stefan von hinten, der vom Yachtclub immer mehr Untote auf sie zukommen sah.

Das war ihr offizielles Zeichen. Sie trat das Gaspedal herunter und ließ die Kupplung des kleinen Wagens kommen. Die Räder des Fiats drehten kurz durch und er schoss nach vorn. Liz steuerte auf eine kleine Lücke zwischen den Untoten zu und brach durch sie hindurch. Das Fleisch der Untoten riss in tausende Fetzen, während die Schläge ihrer Körperteile die Karosserie des Wagens in Mitleidenschaft zogen. Es war nur ein kurzer Moment, aber heftig genug, um Liz aufschreien zu lassen.

Mit dem, was dann folgte, hatten sie gerechnet, aber es fühlte sich doch anders an. Der Wagen ließ den Rand des Hafenbeckens mit knapp fünfzig Sachen hinter sich und schanzte mit leicht geneigter Nase dem Wasser entgegen. Eine halbe Sekunde später sahen die drei durch die Windschutzscheibe nichts anderes mehr als Wasser und bereiteten sich auf den Aufschlag vor. Stefan hatte sich nicht angeschnallt, legte seinen verwundeten Arm in den Schoss und hielt sich mit seiner Hand an Helges Sitz fest. Helge stützte sich wiederum am Armaturenbrett ab.

Mit einem dumpfen Klatschen schlug der Wagen mit seiner Schnauze auf der Wasseroberfläche auf und kippte aufs Dach. Zeitgleich mit den Airbags, drang auch das salzige Wasser in den Innenraum des Wagens.

Stefan hatte den heftigen Ruck unbeschadet überstanden und stützte sich mit dem Arm am Dach ab, um nicht unkontrolliert umzukippen. Dann versuchte er, sich zu orientieren. Das Wasser drang in derselben Geschwindigkeit durch das Schiebedach, wie Stefans Blut in seinen Kopf. Er spürte den Anflug einer Panik und ließ sich nun doch zur Seite fallen, um sich orientieren zu können. Vor ihm kämpfte Helge mit der Türe. Liz saß noch immer verkrampft und regungslos kopfüber in ihrem Sitz. Sie war besinnungslos. Stefan hielt die Luft an und kroch durch die immer größer werdende Pfütze und damit über das Schiebedach hinweg. Der Wagen war zu klein und Stefan fluchte wild vor sich her. Er musste sie unbedingt abschnallen, bevor der Wagen sank, was in wenigen Sekunden der Fall sein würde. Helge hatte die Tür endlich geöffnet und sah zu Stefan, der den Knopf des Gurtes gefunden hatte und ihn drückte. Liz rutschte plötzlich nach unten und kippte zur Seite, direkt in Stefans Schoß.

„Ich zieh sie raus!“, rief Helge und machte sich sofort an ihrer Jacke zu schaffen.

In Windeseile hatte Helge sie aus dem Wagen gezogen und sah nach Stefan, der ihnen aber auf dem Fuße folgte. Der Fiat war zur Hälfte untergegangen und sank nun deutlich schneller. Liz war noch immer ohnmächtig und trieb in Helges Armen, der sich unter ihrer Last und mit seinem verletzten Bein nur mit Mühe an der Oberfläche halten konnte. Stefan stieß sich am Rahmen des Wagens ab und folgte den Beiden. Mit einem Mal ertönte von hinten eine für Helge bekannte Stimme.

„Ich glaub, ich werde verrückt!“, rief die Stimme. „Helge? Du verrückter Spinner!“

Der Rocker drehte sich um und sah den Rumpf des Bootes hinauf, das plötzlich hinter ihnen schwamm. Im Gegenlicht der Sonne war es schwer, die dunkle Silhouette zu deuten, die an der Reling stand und zu ihnen hinab sprach. Dann endlich konnte er sich einen Reim auf die Situation machen und die bekannte Stimme zuordnen.

„Das ist ja nicht zu fassen. Matteo!“, schnaufte Helge. „Ohne Ziegenbart erkennt man dich ja kaum wieder! Warum war mir das nur klar, dass du von allen italienischen Bastarden derjenige bist, der überlebt?“

„Reines Wunschdenken!“, lachte Matteo, dem die Wiedersehensfreude anzusehen war. „Du vermisst meine Arschtritte so sehr, dass du dir ein Leben ohne nicht vorstellen kannst!“

„So wird es sein, du Idiot. Und jetzt fisch uns endlich raus, bevor wir ersaufen!“

Stefan sah sich das Spektakel stumm an und war damit beschäftigt, seinen Arm aus dem Wasser zu halten. Das Salzwasser brannte wie Feuer an seinem Stumpf. Dann wurde er von dem Schwarzen, der sich als Sekou vorstellte, aus dem Wasser gezogen. Er sprach nur gebrochen englisch, aber genug, um ihn verstehen zu können. Stefan konnte nicht fassen was in diesem Moment passierte und nahm es einfach nur zur Kenntnis. Matteo schien Helges etwas schlankerer und frisch rasierter Zwilling zu sein. Und er wirkte nett, nicht nur, weil er sie gerade aus dem Wasser fischte.

Liz kam rasch wieder zu Bewusstsein. Der Airbag hatte sie ausgeknocked wie ein Preisboxer seinen Gegner. Sie lag an Deck des Bootes und sah in den Himmel.

„Scheiße verdammt!“, fluchte sie in bekanntem Tonfall und schüttelte ihren Kopf, als müsste sie noch immer zur Besinnung kommen.

Nach einem langen Hustenanfall, rappelte sie sich wieder auf und sah sich ihre Retter an.

„Ich hab so keinen Bock mehr auf diesen Mist!“

„Keine Angst, junge Lady“, erwiderte Matteo lachend. „Da wo wir herkommen, ist es ruhiger!“

Liz horchte auf und dachte an ihr Ziel. „Das ist nicht zufällig eine Insel namens Gorgona, oder?“

„Doch“, antwortete Matteo, der mittlerweile am Steuer stand. „Wir haben sogar unseren eigenen Wein! Und jetzt macht es euch bequem. In etwa zwei Stunden sind wir da.“

Liz, die endlich begriff, wer ihre Retter waren, setzte sich zusammen mit Stefan auf die Bank im hinteren Bereich des Bootes. Helge nutzte die Gelegenheit und ließ sich neben Matteo auf der weißen Ledereckbank nieder. Sie hatten einiges zu besprechen.

Stefan genoss den Moment ungemein. Das Boot beschleunigte und begann auf den kleinen Wellen zu hüpfen. Er sah zurück in die Bucht. Die Untoten warteten am Ufer auf ihre nächsten Opfer. Einige von ihnen waren ins Wasser gefallen und ruderten noch immer mit ihren Armen, damit sie nicht untergingen. Er konnte nicht fassen, dass sie heil aus dieser Situation herausgekommen waren. Erleichterung setzte ebenso ein, wie ein tiefes Gefühl der Ruhe.

Das Boot passierte die Fantasia und Stefan betrachtete die roten Buchstaben, die sie in die Bucht geführt hatten. Sie mussten die Nachricht unbedingt zerstören, bevor sie andere Überlebende in die tödliche Bucht locken würde. Aber nicht mehr heute. Er hatte die Schnauze gestrichen voll und spürte nun auch seinen leer Magen. Aber eins nach dem anderen. Die Sonne schien auf sie herab und sorgte mit ihren warmen Strahlen dafür, dass ihre Kleidung langsam trocknete. Stefan beobachtete Liz, die ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihre Augen schloss. Er legte seinen Arm um sie, schloss ebenfalls die Augen und sog die frische Meeresluft ein. Sie waren gerettet. Endlich. Stefan war sich sicher, dass ihr neues Leben jetzt erst beginnen würde.