Kapitel 8

Der Weinberg

„Warst du das, Franco?“

Filippo kürzte gerade den Ast einer seiner geliebten Reben, da hörte er es wieder.

„Nein, was denn?“, antwortete der dicke Ex-Koch.

„Alessio? Bist du das?“

„Das will ich aber hoffen“, brüllte Franco von der Seite. „Diese scheiß Arbeit hier, ist nämlich nichts für mich“, keuchte er angestrengt.

Franco ging dem Alten nur ausnahmsweise zur Hand, weil Alessio nicht aufgetaucht war. Die wenigen Verbliebenen hatten sich arrangiert und jedem waren ein paar Aufgaben zugewiesen worden.

„Ach Franco. Das bisschen körperliche Arbeit wird dir gut tun. Vielleicht hast du ja bis heute Abend schon zweihundert Gramm abgenommen“, sagte Filippo mit einem Schmunzeln.

„Haha, du alter Sack. Als Koch wird man halt schnell dick.“

„Als Koch, du? Wann hast du denn das letzte Mal gekocht? Wie lange sitzt du hier schon? Sieben Jahre?“

Franco gab ein widerspenstiges Knurren von sich und mühte sich an einem dicken Ast ab. Filippo musste lachen, weil sich Franco so unbeholfen anstellte und fuhr ebenfalls mit seiner Arbeit fort. Er schnitt die Reben mit einem unglaublichen Geschick und einer Übung, die er sich in den letzten Jahren durch harte Arbeit angeeignet hatte. Seine Sehkraft ließ langsam nach und er machte sich Sorgen, seinen Weinberg in ein paar Jahren aufgeben zu müssen.

Wieder konnte er ein Rascheln im Hintergrund hören und fühlte die plötzliche Anwesenheit einer weiteren Person. Er sah an der Rebstockreihe vorbei und nach oben, aber bis auf den hellbraunen Flechtkorb, voll mit Astabschnitt, war nichts Besonderes zu sehen. Einen Meter weiter links von ihm stand der dicke Franco. Eigentlich war er sogar eher fett. Filippo war es ein Rätsel, wie jemand im Knast so fett bleiben konnte. Er aß nur wenig mehr als die anderen und hatte sonst keinen Luxus, wie Schokolade, oder ähnlichem. Wie machte er das nur? Für den Alten war er keine große Hilfe, aber er genoss seine Gesellschaft, die ihm Alessio an diesem Mittag versagte. Man konnte sich wunderbar über ihn lustig machen und er nahm es einem nie übel. Franco hatte das Gemüt eines Schäferhundes und war einfach nicht aus der Ruhe zu bringen.

Filippo schritt ein kleines Stück weiter zurück und zollte damit seiner Weitsichtigkeit Tribut. Er hasste es, Brillen zu tragen und hielt es auch noch nicht für nötig. Die Rebe vor ihm war dicht bewachsen und verursachte ihm viel Arbeit. Es war eine Kunst, die Rebe so zuzuschneiden, dass sie in der folgenden Saison besonders viele Trauben tragen würde. Er schnitt gerade durch einen merkwürdig weichen Ast, da spürte er ein Stechen im Finger und hörte ein lautes Knurren direkt vor ihm. Plötzlich dachte er, dass er sich geschnitten hatte. Aber er sah kein Blut und hielt zu seinem Erstaunen einen Finger in der Hand, der nicht sein eigener war. Filippo stutzte und bei genauerem Hinsehen erkannte er ein verschwommenes, fahles Gesicht, direkt im Rebstock vor sich. Er blinzelte verwirrt, dann knurrte das Ding wieder und trat ein Stück aus dem Rebstock heraus und er erkannte, was es war. Sein altes Herz verkrampfte sich schmerzhaft und brachte ihn zum Zusammenzucken.

„Franco! Lauf! Lauf du Fettsack!“, schrie er den Bruchteil einer Sekunde später, als der Schmerz ihm nicht mehr die Stimme abschnitt.

Der Untote mit dem blauen Wollpulli hing in der Rebe fest während die vier Finger seiner Hand versuchten, nach Filippo zu greifen. Aber der Alte taumelte bereits nach hinten und lief rückwärts auf Franco zu, der wie angewurzelt vor seinem Korb stand, und nicht kapierte, was da vor sich ging.

„Du fetter italienischer Idiot, verstehst du nicht, was ich geschrien habe?“, patzte Filippo hervor, als er mit rudernden Armen auf ihn zulief.

„Was willst du? Was habe ich falsch gemacht?“, sagte er verwirrt und sah hinab auf seinen dicken Bauch.

„Tote! Leichen! Sie Leben! LAUF!“, schrie der Alte.

Er musste sie nicht erst sehen, bevor ihn die Angst so schnell laufen ließ, wie er nur konnte. Es sah lächerlich aus. Seine kurzen Arme schlackerten wild um sich, damit er sein Gewicht in Balance halten konnte. Die mächtige Fettschürze wabbelte bei jedem Schritt und gab ihr bestes um ihn zu Fall zu bringen. Wenige Meter vor ihnen brach ein Jugendlicher mit offenem Schädel durch die lichten Reben. Franco wog über drei Zentner und nutzte diese Masse, um den Untoten wieder zurück in die Reben zu stoßen. Filippo lief nur wenige Meter hinter ihm her und beobachtete das Spektakel. Der Untote gab ein lautes Fauchen von sich und verschwand im Dickicht. Allein sein Unterkörper lag noch auf dem Weg und seine Beine bewegten sich weiterhin auf und ab, als hätte der Untote noch nicht bemerkt, dass er nicht mehr auf ihnen stand. Obwohl der Alte noch erstaunlich fit war, kam kaum hinter dem dicken Franco her. Er war wieselflink. Vielleicht zog ihn auch einfach sein Gewicht den Berg hinunter. Der Alte wich den Beinen des Untoten aus und bemerkte, dass die beiden nicht ihre einzigen Verfolger waren. Etwa zwanzig Meter hinter ihnen erschienen noch drei weitere Untote. Darunter ein kleines Mädchen. Filippo stieß ein Gebet aus, nur um anschließend eine Flucharie folgen zu lassen.

„Jesus, Maria und Josef! Was ist das nur für ein verfluchtes Schauspiel!“

Filippo konnte nicht mehr. Die Untoten kamen bereits näher und er hatte noch einen weiten Weg bis ins Dorf. Franco verließen ebenfalls die Kräfte.

„Franco, lauf in den Schuppen! Wir verstecken uns da!“

Das alte Gebäude war ihre letzte Hoffnung. Weiterrennen konnten sie nicht mehr und ohne Waffen waren sie klar unterlegen. Sie hatten nur noch gut fünfzig Meter vor sich. Francos Atem rasselte schon wie der eines alten Schiffdiesels. Er verlangsamte seinen Lauf schon Meter vor dem Schuppen, um von seinem Gewicht nicht umgerissen zu werden. Filippo holte ihn ein und schlug ihm auf die Schulter, während sie durch die massive Tür stürmten. Die Untoten folgten ihnen auf den Fuß und allein Franco hielt sie mit seinen Pfunden davon ab, durch die Tür zu stürmen, indem er sich mit aller Kraft dagegen stemmte.

„Filippo, was sind das nur für Monster?“

„Du hast doch Venturas Geschichten gehört, oder? Was fragst du so doof?“, erwiderte Filippo gereizt, weil er panisch etwas suchte, das er unter die Tür stemmen konnte. Dann fiel ihm ein, wo die Schlüssel lagen, um die Tür abzuschließen.

„Schneller, Filippo, ich kann die Tür nicht mehr lange halten.“

Die Untoten hämmerten wie wild gegen das Metall der Tür. Sie bebte und wackelte. Der Alte zog den Schlüssel aus der einzigen Schublade des Schreibtisches, auf dem er gestern noch die Weinetiketten geschnitten hatte. Er rannte zur Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und hörte zu seiner Erleichterung, wie der Riegel in die Zarge glitt.

Völlig perplex starrten sich die beiden an. Sie hatten es tatsächlich geschafft und waren entkommen.

„Mensch Franco“, keuchte der Alte. „Du bist echt schneller als du aussiehst!“

Darüber konnte der Dicke nicht lachen, er zitterte noch am ganzen Körper. Dann löste er sich von der Tür und holte einen Stuhl, den er vorsichtshalber zusätzlich unter die Klinke klemmte.

„Wir müssen ruhig sein, Filippo.“

Franco deutete auf das einzige Fenster, dessen Fensterläden offen standen. Er lief behände zu dem Fenster herüber, stellte sich daneben und lugte vorsichtig hinaus.

„Ich schließe jetzt die Läden, Filippo.“

„Nein warte!“, stieß der Alte gedämpft hervor und legte sich auf den Boden, um durch den Türspalt sehen zu können. Er zählte fünf Paar Schuhe. Mehr Verfolger waren es nicht.

„Alles klar. Jetzt!“

Franco verstand und öffnete leise das Fenster im gegenüberliegenden Teil des Raumes. Das Fenster glitt mit einem leisen Knarzen auf und er zog die Fensterläden mit einer raschen Bewegung zu. Dann legte er den Sicherheitshebel um. Das war erledigt. Nur saßen sie jetzt im Dunkeln. Zum Glück hatte Matteo, der Fuchs, überall Kerzen verteilt. Der Generator für den Strom wurde nur in Notfällen angestellt. Filippo zündete die große Kerze auf dem Tisch an und atmete durch.

„Jesus, Maria! Ich hätte beinahe eine Herzattacke bekommen.“

„Wäre doch sicher nicht deine erste, oder?“, erwiderte Franco noch völlig aufgedreht.

„Sagte der Dicke, dem noch vier bevorstehen, oder wie?“

Filippo war nicht mehr zum Scherzen zumute. Er begutachtete seinen Finger, den er sich geschnitten hatte, als der Untote durch die Hecke brach. Die Wunde war nicht tief und das Blut bereits geronnen. Er machte sich nur Gedanken, weil er dem Untoten im gleichen Moment den Finger mit der Astschere abgetrennt haben musste. Er wusste nicht viel über das Virus, aber offene Wunden in der Nähe von Infizierten, waren sicher kein gutes Zeichen. Filippo hielt den blutigen Finger hoch.

„Scheiße verfluchte! Haben die dich gebissen?“, sagte Franco, als er das Blut sah.

„Ich glaube nicht Franco, das war ich vermutlich selbst mit der Schere. Aber wer weiß schon, wie das Virus übertragen wird? Vielleicht sind wir ja auch beide schon zum Tode verurteilt, weil es über die Luft übertragen wird.“

Franco bekam plötzlich Panik.

„Halt mal die Füße still! Ich bin denen nicht zu nahe gekommen!“, erwiderte Franco empört.

„Sicher?“, knurrte der Alte. „Du hast einen von denen mit voller Wucht in die Reben gestoßen. Hätte ich dir so gar nicht zugetraut. Respekt, mein Lieber.“

„Ohje“, Franco verdrehte die Augen. „Das hatte ich ja schon ganz verdrängt.“

Beim Gedanken daran, einer von ihnen zu werden, wurde ihm flau im Magen.

„Was schlägst du vor? Soll ich dich sicherheitshalber fesseln, bis die anderen kommen?“

„Mich? Wenn, dann gleich uns beide, Franco! Außerdem ist das Blödsinn. Da draußen stehen noch Untote und du willst mich fesseln. Du Idiot!“, zischte Filippo, der langsam etwas schroffer wurde. „Woher weiß ich denn, dass du dich nicht zuerst verwandelst?“

„Entschuldige, so war das nicht gemeint. Wir lassen das besser. Ich will hier drin mit Sicherheit auch nicht gefesselt sein. Aber die anderen kommen uns sicher zur Hilfe!“

Filippo beruhigte sich wieder ein wenig, weil er sah, wie verzweifelt Franco war. Aber lügen, nur damit es ihm besser ging, wollte er auch nicht.

„Da würde ich mir keine großen Hoffnungen machen. Matteo war heute Morgen schon hier und von den anderen besucht mich sonst niemand. Außer Alessio natürlich. Aber jetzt wissen wir wohl auch, was dem armen Jungen zugestoßen ist.“

„Wahrscheinlich“, antwortete Franco, der Filippo am Tisch gegenüber saß und in die Kerze blickte. „Oh Filippo. Was wohl mit den Leuten auf dem Festland passiert ist? Meine Eltern sind schon alt. Ob sie wohl noch leben?“

„Ach Franco. Das weiß wohl keiner außer sie selbst. Mittlerweile glaube ich, dass der Teufel die Hölle geöffnet hat und wir an einem der wenigen Orte sind, die er bisher vergessen hatte.“

Filippo betonte das Wort bisher und machte Franco nur noch mehr Angst. Der abgeklärte Alte hatte schon viel gesehen, aber so etwas hatte er für unmöglich gehalten.

„Franco“, sagte Filippo eindringlich. „Irgendwann müssen wir hier raus und die anderen warnen!“

Er stand auf, lief zu den Gartenutensilien hinüber und griff nach einem Stil.

„Hier siehst du, eine Spitzhacke für dich!“

Filippo hielt dem Dicken das lange Werkzeug erwartungsvoll hin.

„Lass uns lieber noch abwarten, Filippo. Wir sind nur zu zweit und die zu fünft. Das schaffen wir nicht.“

„Wenn die Zeit gekommen ist Franco, musst du kämpfen. Vielleicht sogar alleine.“

Bei dem Gedanken, allein gegen diese Monster zu kämpfen, drehte sich sein großer Magen um und Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Filippo lehnte das Werkzeug gegen den Tisch und setzte sich wieder.

„Ich wünschte nur diese Höllenhunde würden endlich aufhören, gegen die Tür zu hämmern.“

Filippo öffnete den Reißverschluss seines Overalls und fächerte sich mit den Weinetiketten Luft zu. Im Schuppen wurde es ihm plötzlich viel zu heiß.


***

„Filippo! Filippo!“, zischte Franco den Alten an. „Geht’s dir gut? Du schwitzt ja wie ein Iltis!“

Der alte Mann saß am Tisch und starrte wie hypnotisiert in die fast abgebrannte Kerze. Von seiner Stirn lief der Schweiß in dicken Tropfen und durchnässte mittlerweile sogar schon den halb heruntergezogenen Overall. Franco war kurz eingenickt und stand nun auf, um den Alten sanft anzustoßen. Er rührte sich nicht und starrte nur weiterhin in die Flamme der Kerze. Dann presste er ein paar Worte durch seine Lippen. Franco verstand sie kaum und kam näher an sein Gesicht heran.

„Ich veerrbrrrrennnnnneeeee!“, zischte leise aus seinem Mund.

„Oh Jesus, Filippo. Mach keinen Mist! Lass mich jetzt ja nicht allein mit denen.“

Franco sah sich panisch um, aber er konnte nichts tun, als mit anzusehen, was mit Filippo passierte. Er sah sich sein Gesicht näher an und erkannte auf einmal eigroße Flecken auf seiner Wange. Sein faltiges Gesicht hatte sie bisher gut verdeckt. Auch wurde er immer blasser.

„Oh nein, oh nein. Ich weiß was da los ist. Verdammt, verdammt, verdammt“, sprach er zu sich selbst. „Filippo, sag doch was!“

Aber der Alte war bereits völlig weggetreten und Franco kämpfte gegen seine aufsteigende Panik an. Er griff nach der Spitzhacke und trat einen Schritt zurück. Der rasselnde Atem des Alten wurde immer langsamer. Franco starrte ihn an, als erwartete er, dass Filippo plötzlich aufstehen könnte, um ihn zu attackieren. Er hielt die Spitzhacke wie eine Axt und stand so breitbeinig da, wie er konnte. Irgendetwas würde gleich passieren. Er hatte es im Gefühl. Die Untoten außerhalb hatten aufgehört gegen die Tür zu hämmern. Als hätten sie gespürt, was im Schuppen vor sich ging. Franco beobachtete das Gesicht des Alten. Da regte sich etwas. Plötzlich schoss ein Schwall Blut in Filippos Augäpfel und sämtliche Äderchen färbten sich dunkelrot, während die hellbraune Iris seiner Augen rabenschwarz wurde. Sein Kopf begann zu beben. Es ging los. Franco zitterte ebenfalls. Er wusste, dass Filippo nicht mehr der freundliche Alte war, der ihn so gern aufgezogen hatte. Und er wusste auch, dass es besser war, sofort zuzuschlagen, bevor sich Filippo auf ihn stürzen konnte. Aber er brachte es nicht übers Herz. Er hatte noch nie einen Menschen verletzt, geschweige denn getötet. Aber er musste es tun. Und zwar besser früh, als spät. Sein Herz hämmerte in seinem massigen Körper, während der Alte zuckte und sich unmenschlich verbog.

Franco trat noch einen weiteren Schritt zurück und holte weit aus.

„Oh Filippo, bitte! Entschuldige!“

Dann schloss er die Augen und schwang die Spitzhacke. Filippo stieß jedoch im selben Moment unvermittelt einen gurgelnden Grunzlaut aus und sprang blitzartig vom Stuhl auf. Genau in Francos Richtung. Der zuckte erschrocken zusammen und schlug die Hacke an Filippos Kopf vorbei, trat aber gerade rechtzeitig auf die Seite, um ihm auszuweichen. Der Untote fiel auf den Boden direkt vor ihm und blickte Franco hasserfüllt in die Augen. Die Hacke krachte auf den Boden und hinterließ Schmerz in Francos massigen Armen. Wieselflink wich der Dicke nun zurück, um seiner Waffe den notwendigen Platz zu verschaffen und holte erneut aus. Diesmal schneller und eher reflexartig. Mit voller Wucht stieß er die Spitzhacke in den Rücken des noch immer am Boden liegenden Untoten, musste aber verwundert feststellen, dass ihn das wenig interessierte. Begleitet durch ein widerlich schmatzendes Geräusch, riss er sie wieder hinaus. Der Untote griff im Liegen nach Franco, doch der hob wieder die Hacke und rammte den schweren Eisenkopf diesmal in Filippos Schädel. Franco hatte derart hart zugeschlagen, dass der Kopf der Spitzhacke die Hälfte des Schädels eindrückte. Eines der blutunterlaufenen Augen stand aus seiner Höhle.

Franco sah widerwillig auf das Unheil, das er angerichtet hatte und fing vor Aufregung an zu weinen. Er musste prüfen, ob es vorbei war. Nur das Adrenalin in seinen Adern hinderte ihn daran, sich schlagartig zu übergeben. Er musste hier so schnell wie möglich raus.

Der Dicke sah sich im Raum um und versuchte dabei mit seinen Blicken nicht erneut über Filippos Leichnam zu stolpern. Durch die Schlitze in den Fensterläden fiel kaum noch Licht. Draußen dämmerte es bereits. Der blöde Schuppen gab nicht viel her. Eine Waffe hatte er zwar bereits, aber nicht einmal eine Taschenlampe war zu finden. Er dachte nach, aber alles, an was er denken konnte, waren Filippos Worte.

„Irgendwann müssen wir hier raus und die anderen warnen“, hatte er gesagt. Und er selbst war zu feige es sofort zu probieren, als sie noch zu zweit waren. Einer von ihnen hätte es schaffen können. Jetzt war es vielleicht schon zu spät. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn. Hätte er doch nur nicht so viel Angst.

Draußen war es verdächtig ruhig. Eigentlich, fiel ihm auf, hatte er die Untoten bereits seit mehreren Minuten nicht mehr gehört. Er lief zur Tür und lauschte. Da war kein Laut zu hören. Allein die üblichen Geräusche der Insel. Das leise Rauschen des Meeres. Zirpende Grillen. Aber keine knurrenden oder stöhnenden Leichen. Er musste es jetzt versuchen, das fühlte er. Im Kopf ging er den Weg zur Anstalt durch. Er musste nur die lange Straße hinunter laufen. Es war zwar düster, aber er kannte den Weg auswendig. So leise er konnte nahm er den Stuhl unter der Türklinke weg und drehte den noch immer steckenden Schlüssel gegen den Uhrzeigersinn. Die Tür war offen. Franco atmete mehrmals tief durch und sammelte seine Kräfte. Er konnte seinen Körper spüren und horchte in jeden Winkel, um die wenigen Muskeln zu aktivieren, die er besaß. Dann riss er die Tür auf und stürmte mit der Spitzhacke in der Hand los.


***

Allmählich machte sich Matteo Sorgen. Es dämmerte bereits und von Alessio war noch immer nichts zu sehen. Ganz ungewöhnlich war das nicht, denn er war gern mal einige Stunden für sich selbst, aber er tauchte zumindest immer wieder auf, bevor es auf der Insel dunkel wurde. Matteo lag auf dem Bett in seiner Pritsche und stand auf. Er verließ seine kleine Zelle und war überrascht, Sekou im Gang anzutreffen, da er ihn nicht gehört hatte.

Der Zellentrakt bestand aus zwei Stockwerken und einem großen Innenhof, der es ermöglichte, an den Fenstern der Außenwand entlangzugehen. Im zweiten Geschoss führte ebenfalls ein schmaler Gang an der Fensterfront entlang. Matteos Zelle lag neben Filippos und als einzige lagen sie im Oberen der beiden Stockwerke, die durch ein marodes Netz voneinander getrennt waren. Eine ziemlich sinnlose Vorrichtung. Zum einen, konnte man sich mit einem Sturz aus dem zweiten Stock kaum töten, und zum anderen, würde das kaputte Netz sowieso sofort nachgeben. Aber Vorschrift war eben Vorschrift. Auch in Italien.

„Was treibt dich hier hinauf?“, fragte Matteo, der neben Sekou stand und ebenfalls in die hereinbrechende Dunkelheit starrte.

„Ventura stresst. Hörst du das nicht?“

Von hier konnte er es tatsächlich hören. Er sang mal wieder wirres Zeug.

„So ein Verrückter. Der macht mich noch wahnsinnig, Matteo. Wir sollten ihn woanders einquartieren. Das ist schon der zweite Abend hintereinander.“

„Darum kümmern wir uns morgen. Erst mal müssen wir ihn aus seiner Zelle bekommen. Er ist echt der einzige Wärter, der sich selbst in eine einschließt.“

„Vielleicht sollten wir uns noch heute darum kümmern“, erwiderte Sekou, der noch immer genervt nach draußen sah. „Wenn die anderen durchdrehen, machen sie ihn nieder.“

Von unten drang erneut der Gesang von Ventura ins Obergeschoss.

Und wenn wir wieder aufersteeeehn, dann lassen wir‘s uns gut ergeeeeehn.

Venturas Gesang war im gesamten Trakt zu hören. Aus den anderen vier offenen Zellen drang ebenfalls lautstarkes Geschrei.

„Verdammt Ventura! Sei endlich still!“, schrie Rizzoli im Kanon mit Monti, der ebenfalls genug hatte.

„Matteo, ich geh gleich runter und erschlag den Penner noch selbst. Was geht mit dem? Kann der sich nicht wie ein normaler Verrückter verhalten?“, zischte Sekou, der seine Faust ballte und vor sich her schwang.

„Jetzt beruhig dich. Mach dir lieber Sorgen um Alessio und unsere beiden Winzer. Die sollten eigentlich schon wieder hier sein“, sagte Matteo, der dem letzten fliederfarbenen Streifen am Horizont beim Verblassen zusah.

„Naja, Alessio treibt sich ja gern mal auf der Insel herum. Aber ja, Franco hätte sich um diese Zeit normalerweise eigentlich schon sein Abendessen reingepfiffen.“

„Ich geh nachsehen. Da stimmt was nicht“, sagte Matteo besorgt.

„Tu das. Ich verhindere den Aufstand, der sich hier gleich gegen Ventura zusammenbraut.“

Matteo lief wieder in seine Zelle zurück und holte vorsichtshalber seine Pistole, die er in seiner getragenen Unterwäsche versteckte. Eine Beretta mit fünfzehn Schuss im Magazin. Die beiden letzten Polizeiwaffen, beides ebenfalls Berettas, hatten Matteo und Sekou unter sich aufgeteilt. Bis auf Ventura hatte sowieso keiner der übrig gebliebenen Erfahrung mit Pistolen. Beim Verlassen der Zelle sah er kurz zu Sekou hinüber, der ihm zunickte und ging anschließend die Treppen hinunter. Der weiße Raum wurde nur durch die vor jeder Zelle aufgestellten Kerzen erleuchtet. Allein die Tür von Venturas Zelle war dunkel, da er sie seit zwei Tagen nicht mehr verlassen hatte. Der Irre würde ihm sicher noch Probleme bereiten, dachte Matteo. Die Zellen von Monti und Rizzoli standen hingegen sperrangelweit offen. Die ehemaligen Gefangenen genossen ihre neue Freiheit.

Montis Zelle war leer, da er bei Rizzoli auf dem Bett saß und mit ihm ein Kartenspiel spielte. Es sah nach Poker aus. Rizzoli war ein gerissener Betrüger, aber über Monti wusste Matteo im Grunde gar nichts. Der speckige Kerl war ihm auch nicht sonderlich sympathisch. Er grüßte in die Zelle und die beiden sahen ihn interessiert an, sagten aber nichts und nickten zurück. Matteo stand nun vor der doppelt gesicherten Schleusentür. Er hob eine brennende Kerze vom Boden auf und zog an dem massiven Stahlriegel. Jedes Mal huschte ein Grinsen über sein Gesicht, wenn er das metallische Scharren des Riegels hörte. Er war frei, nur wusste er noch immer nicht, welchen Preis er für seine Freiheit wird zahlen müssen.

Hinter der Schleuse lag ein weiterer Gang. Der etwa zwei Meter breite und zwanzig Meter lange Flur, wurde nur durch eine Abzweigung zum Sanitärbereich und einer weiteren dahinter liegenden Gittertür unterbrochen. Er drückte das massive Stahlgitter auf und lief zur letzten Tür weiter, die ihn in einen kleinen Vorraum brachte. Hier war der Empfang. Jeder Besucher musste sich hier anmelden. Die Gefangenen wurden dann in den Besucherbereich am anderen Ende des Gebäudes gebracht und mussten in Begleitung von Sicherheitsbeamten um die gesamte Anstalt herumlaufen.

Wie Matteo erwartet hatte, war der Vorraum, der aus einem Stehpult aus Holz und einer großen Glasscheibe mit Lautsprecher bestand, leer. Er lief auf die verglaste Flügeltür zu und stieß sie auf. Frische Luft stieß ihm entgegen. Er liebte das Gefühl und atmete tief durch. Die Straße nach oben war steil und etwa fünfhundert Meter lang. Er würde sicher fast zehn Minuten brauchen, bis er oben war, dachte er. Treppen, die er zählen konnte, gab es hier keine.

Die Kerze in seiner Hand reichte gerade so aus, um die nächsten zwei Meter vor ihm anständig zu beleuchten. Auch ohne die Kerze hätte er genug erkannt, denn die untergegangene Sonne schickte noch einige Strahlen Restlicht durch die Atmosphäre, aber er musste sich eingestehen, dass er sich mit der großen Kerze sicherer fühlte. Die Nacht war ziemlich still. Für gewöhnlich konnte er deutlich mehr Grillen zirpen hören. Einzig die nicht enden wollende Meeresbrise, brachte die Zypressen dazu, ihr gewohntes Lied zu spielen. Sie rauschten sanft und wirkten beruhigend auf Matteo.

Am Hügel erkannte er die dunkle Silhouette des Weinberges und über ihm funkelten bereits die ersten Sterne. Von dieser Lichtung aus konnte er früher die Lichterketten Livornos sehen. Das war aber seit Wochen schon nicht mehr der Fall. Aufgrund der toten Kommunikationsgeräte konnte er sich schon denken, dass es auch auf dem Festland keinen Strom mehr gab. Plötzlich durchschnitt ein Schuss die Ruhe der Nacht. Matteo drehte sich reflexartig zur Anstalt um, aus deren Richtung der Knall kam.

„Scheiße!“, fluchte er, weil er sofort befürchtete, dass sie Ventura lynchten.

Hätte der Verrückte doch nur mal besser die Fresse gehalten. Matteo wollte gerade zurückrennen, da hörte er Franco von oben rufen.

„Hiiiilfeeeeee! Matteo, bist du das?“

Er schrie beinahe panisch. Verdammt, was war nur los? Matteo stand wie angewurzelt da. Er wusste nicht, auf was er zuerst reagieren sollte. Franco rannte offensichtlich, denn er konnte seine stampfenden Schritte bereits hören.

„Matteo! Wir müssen die anderen warnen!“, schrie Franco, der Matteo nun tatsächlich erkannt und fast erreicht hatte.

„Vor was denn, verflucht?“, rief ihm Matteo entgegen, der von Franco fast umgerissen wurde, als er versuchte, ihn am Ärmel mitzuziehen. Nach Balance ringend warf Matteo die Kerze auf den Boden und rannte widerwillig hinter Franco her. Er holte ihn schnell ein.

„Franco, was zum Teufel ist los?“

„Der Teufel ist los! Es ist wahr, Matteo! Ventura hat wirklich die Wahrheit gesagt!“, keuchte Franco, der schon völlig fertig war.

Matteos Rädchen liefen sich wund und seine Gedanken Amok. Ihm schwante, was los war und weshalb Franco niemanden der anderen bei sich hatte. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Auf der Insel? Wie zum Henker?

Erneut fielen Schüsse. Mit Ventura hatte es also nichts zu tun. Matteo stellte sich auf seine erste Begegnung mit wandelnden Leichen ein. Sie waren noch etwa hundert Meter vom Gebäude entfernt und er erinnerte sich daran, dass er alle Türen offen gelassen hatte. Er beschleunigte seine Schritte und hängte Franco ab. In vollem Lauf stürmte er durch die Glasschwingtüre und in den Gang hinein. Er konnte hören wie Sekou schrie.

„DU WIDERLICHES DING!! HAU AB!“

Matteo stand nun in der großen Halle und konnte erkennen, wie ein kleines Mädchen auf Sekou zulief. Sie hatte Schwierigkeiten und kam nur langsam voran, weil ihr linkes Knie nur noch aus Fetzen bestand. Aus Venturas Zelle drang ohrenbetäubendes Gelächter. Sekou stand etwa zehn Meter von ihm entfernt und war im Schein der Kerzen kaum zu erkennen. Matteo konnte jedoch die Panik in seiner Stimme hören.

„DU MONSTER!“

Das Mädchen mit den langen Haaren und der luftleeren Schwimmweste um den Hals, ließ sich jedoch nicht beirren und gab nur ein leises Knurren von sich. Matteo richtete seine Waffe gerade auf das Ding, da hörte er, wie Sekou erneut feuerte und sah, wie eine Blutfontäne aus dem Hinterkopf der Kleinen schoss. Sekou ließ seine Waffe sinken. Er sah sich um, aber der Spuk schien bereits vorbei zu sein. Vor Venturas Zelle lag eine weitere Leiche. Die dunkle Tür hinter der Leiche wies einen noch dunkleren Schatten auf. Es war Blut. Überall klebte es. Nun bemerkte er den fauligen Geruch, der in der Luft lag. Mit einer frischen Meeresbrise hatte das nichts mehr zu tun.

„Bist du Okay?“, fragte er Sekou, während er mit gehobener Waffe auf Rizzolis Zelle zulief.

„Okay sieht anders aus, aber ich bin unverletzt“, brummte der Schwarze. „Sei vorsichtig. Rizzoli hatte auch Besuch.“

Von hinten konnte er Franco schnaufen hören, der nun auch endlich angekommen war. Sekou näherte sich der angelehnten Zellentür von rechts und Matteo von links. Durch den Türspalt drang das schwache Licht der Kerzen, die Rizzoli aufgestellt hatte. Die Stille wurde allein durch Venturas irres Gelächter gedämpft. Matteo gab der Tür einen leichten Stoß mit dem Fuß und sie öffnete sich langsam nach innen.

Matteo brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was sich drinnen abspielte. Die gesamte Zelle war in ein helles rot getaucht. Rizzoli lag mit offenem Hals auf dem Zellenboden. Er war tot und hatte die halbe Zelle mit seinem Blut eingesaut. Rechts neben Rizzoli nahm ein kopfloser Untoter seine finale Position ein. Der passende Kopf zu ihm lag neben Monti auf dem Bett.

„Monti?“

„Monti!“, rief Matteo erneut.

Sekou trat einen Schritt in die Zelle hinein.

„Hey, Schwachkopf!“, sagte er.

Matteo hielt ihn an der Schulter zurück, als er erkannte, was Monti in der Hand hielt. Es war eine Machete. Der pummelige Italiener saß in seinem Unterhemd auf dem Bett und starrte den Untoten an.

„Was geht hier nur ab zum Teufel?“, fragte Matteo.

„Du hast die Türen offen gelassen“, entgegnete Sekou ruhig.

„Das weiß ich selbst!“, patzte Matteo zurück.

„Das war kein Vorwurf, Matteo. Auf einmal standen sie hier drin. Den Typen mit dem durchlöcherten Wollpulli konnte ich sofort erschießen, aber Rizzoli war ja unbewaffnet und hatte weniger Glück.“

„Franco!“, rief Matteo plötzlich. „Was ist mit Filippo und Alessio?“

Der Dicke stand noch immer am Eingang der Halle und traute sich keinen Schritt näher heran.

„Filippo wurde zu einem von denen und Alessio ist bisher nicht aufgetaucht“, stammelte er nervös. „Wir haben aber noch ein Problem. Heute Vormittag haben uns fünf von denen verfolgt. Hier liegen nur drei, oder?“

„Und wo sind dann die beiden anderen?“, fragte Sekou.

Matteo rannte an Franco vorbei und riss die Gittertüre zu, bevor noch mehr Unheil passieren konnte. Franco sah sich um und betrachtete die Untoten.

„Nun, es fehlt eine Frau und ein Kerl. Vielleicht laufen auch noch mehr auf der Insel herum“, bemerkte Franco, der sich mittlerweile beruhigt hatte und wieder sprechen konnte, ohne wild nach Luft schnappen zu müssen.

„Wir gehen sie suchen, wenn es wieder hell ist“, sagte Sekou und sah Matteo an, der aber nur niedergeschlagen drein blickte und versuchte, das Durcheinander zu ordnen.