Kapitel 1

Prolog – Insel Reichenau, Bodensee

Völlig außer Atem kauerte sich Rich hinter die halbhohe Steinmauer. Die nur knapp meterhohe Mauer konnte seine muskulöse Statur kaum verbergen. Trotz der eisigen Temperaturen kämpfte sich frischer Schweiß unter dem Schild seiner Mütze hervor und rann ihm Stirn und Schläfe hinab. Obwohl er ein gutes Stück entfernt von den beiden Personen kauerte, versuchte er das laute Rasseln seines Atems zu beherrschen. Denn er fürchtete, entdeckt zu werden. Zu lange hatte er auf diesen Moment warten müssen. In den letzten Wochen trug er einen regelrechten Kampf mit sich selbst aus. Diese eine Niederlage mit der er noch immer zu kämpfen hatte, wog schwerer auf seinem Ego, als all die anderen schlimmen Dinge, die er in letzter Zeit durchgestanden hatte. Selbst der Verlust seines besten Freundes traf ihn nicht so hart wie die Schmach, die er empfand, als ihm weggenommen worden war, was er besaß.

In dieser Sekunde musste er sich jedoch eingestehen, dass er Tarek vermisste. Mit ihm an seiner Seite, hatte er sich unbesiegbar gefühlt. Wieder stieg unglaubliche Wut in ihm auf und ließ ihn vergessen, wie der Schweiß seinen Rücken hinab lief. Der Groll in ihm überschattete jeden noch so kleinen Lichtblick. Bis auf diesen Moment hier, denn er konnte sie beinahe fühlen. Die Genugtuung, die ihn in Kürze erfüllen würde.

Die Vorfreude beruhigte ihn wieder und sein Atem wurde genauso regelmäßig, wie sein Herzschlag, der die Geräusche der Umgebung nun nicht mehr zu übertönen vermochte. Leise hörte er das Mädchen im Hintergrund lachen und erkannte ihre Stimme sofort wieder. Wie oft hatte er in letzter Zeit von ihr geträumt? Kurzzeitig verlor er sich in Gedanken. Er erinnerte sich daran, wie er ihre Schwester im Hundezwinger gefoltert hatte und Liz schmerzerfüllte Schreie durch die verlassene Schrebergartensiedlung hallten.

Sie hatten die beiden Schwestern absichtlich nicht geknebelt, weil ihnen bei ihren Schreien ein wohliger Schauer über den Rücken gelaufen war. Allein Tarek hatte ihn verstanden. Die beiden anderen Satelliten hatten kurz protestiert, aber es war Tarek, der es einmal mehr verstand, unverhüllt auf seine dunkle Seele zu blicken.

Nun war er fort. Erneut loderte die Wut in Rich auf und er konnte dem Drang, zum Gewächshaus zu laufen und die beiden auf der Stelle zu zerschmettern, nur knapp widerstehen. Er kauerte noch immer bewegungslos hinter der mit feuchtem Moos bewachsenen Mauer und lauschte, wie Marty etwas zu Liz sagte. Er hatte seinen Namen nur einmal gehört, aber er war fest in sein Gedächtnis eingebrannt. Marty. Die beiden ahnten nichts, da war er sich sicher. Der Überraschungsmoment war auf seiner Seite und er genoss die Vorstellung von Martys Tod schon jetzt in vollen Zügen. Mit Liz hatte er andere Pläne.

Was für ein ungeheures Glück er doch hatte. Vor einigen Tagen hatte er sie als erster am Horizont gesehen. Die riesige Rauchwolke, die immer höher in den Himmel hinauf ragte. Seit er aus der Schrebergartensiedlung geflüchtet war, wusste er, wie ein großer Brand aussah und welche Rauchschwaden eine brennende Kleinstadt hinterließ, aber diese Rauchwand war etwas anderes gewesen. Das sagte ihm sein Instinkt. Ein innerer Zwang befahl ihm, herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Er lag seinem Vater so lange in den Ohren, bis er sich breit schlagen ließ und Rich versicherte, die Ursachen des Brandes mit ihm zu erforschen. Wenige Stunden später, gaben sie ihren sicheren Rastplatz an der A81 auf und machten sich auf den Weg ins Unbekannte.

Rich wusste, dass sein Vater eigentlich nur aufgrund Admirs und Dardans Druck so weit ging, auf bloßen Verdacht hin, einer Spur zu folgen, die eigentlich keine war. Admir war Tareks Vater, Dardan sein älterer Cousin. Aufgrund ihres Verlustes waren die beiden, die Rich nur die Albaner nannte, noch viel unberechenbarer als sonst.

„Verdammt Rich! Wieso haben wir uns eigentlich einen Plan überlegt, wenn du scheiß Idiot dann wie ein Besessener allein zum Gewächshaus rennst? Hattest du denn wenigstens Recht? Sind sie das?“

„Entspann dich, Vater. Sie haben mich nicht gesehen. Und ja, das sind die verfluchten Hunde. Ich hab es dir doch gleich gesagt! Wo sind die Albaner?“

„Admir steht noch wie geplant hinter der Scheune und kocht bereits vor Wut. Wenn du es nicht vermasselst, dann er ganz bestimmt. Der andere Fettsack liegt rechts hinter dem Gewächshaus auf der Lauer“

Franz hielt auf die Personen in seinem Umfeld nicht besonders viel. Nicht einmal auf seinen Sohn. Und das ließ er ihn so oft spüren, wie er nur konnte. Seitdem die Epidemie ausgebrochen war und sie gezwungenermaßen fast jede freie Minute miteinander verbrachten, fragte er sich immer häufiger, was er nur falsch gemacht hatte. Der Junge war ja nicht ganz verkehrt. Groß und stark, wie sein Vater, aber auch unbeherrscht, sprunghaft und nicht immer clever. Aber es war nun einmal sein Junge und in dieser Welt brauchte er ihn, um zu überleben. Ihn und die Albaner.

Franz strich sich über seine Glatze und stützte sich mit seiner mächtigen linken Pranke an der Mauer ab. Mit seinen Schweineohren, seinen kleinen, verschlagenen Augen und seinem schon leicht ergrauten Schnauzbart, sah er aus wie ein Boxer aus dem letzten Jahrhundert.

„Hast du nicht gesagt, die wären zu dritt? Wo ist der andere? Ich sehe nur einen Typen und ein junges Ding!“, herrschte Franz seinen Sohn an und spähte dabei an der Mauer vorbei.

„Keine Ahnung wo der ist. Jedenfalls nicht hier in der Umgebung. Beug dich doch nicht so weit vor, Vater! Nachher sehen die uns noch.“

„Mach dich nicht nass, Rich. Die beiden stampfe ich mit meiner bloßen Faust in den Boden, wenn es sein muss. Wir sollten uns aber sicher sein, dass der andere nicht auch in der Nähe ist, wenn wir zuschlagen.“

Rich sah absichtlich an seinem Vater vorbei, als dieser sprach. Er hasste es, wenn er ihn wie einen kleinen Jungen behandelte und ihm Befehle erteilte. Das brachte ihn schon immer auf die Palme.

„Also, du Idiot, hör genau zu. Ich gehe jetzt zu Admir zurück, in der Hoffnung, dass er sich noch nicht vom Fleck gerührt hat. Du bleibst hier und wartest auf uns! Danach kreisen wir die beiden ein und du bekommst deine Rache. Du, oder die Albaner, je nachdem, wer von euch schneller ist.“

Franz zwinkerte seinem Sohn boshaft zu und schlich in der Hocke zur Scheune hinüber. Rich sah ihm hinterher und wunderte sich einmal mehr über die Verachtung, die er empfand, als er dem Hünen hinterher sah, der sich in dämlich gebückter Haltung von ihm entfernte. Dann konzentrierte er sich wieder auf die beiden Stimmen im Hintergrund und umfasste mit seiner rechten Hand den Griff der entsicherten Pistole, die im Bund seiner grauen Trainingshose steckte.

Zwischen der Natursteinmauer und dem Gewächshaus lagen etwa dreißig Meter. In gleicher Entfernung lag die Scheune. Er wollte seine Rache an Marty so sehr, dass er es nicht riskieren konnte, dass die Albaner ihm zuvor kamen. Er drehte seine gefakte Louis Vuitton Schirmmütze nach hinten und spähte direkt an der Mauer vorbei und zum Gewächshaus hinüber.

Liz kniete sich gerade auf den Boden und kämpfte mit ihren langen blondbraunen Haaren, die ihr die Sicht nahmen. Rich wollte sie zurück, denn sie war ein schönes Mädchen und er hatte die Gelegenheit verpasst, sich an ihr zu vergehen. Das wollte er unbedingt nachholen und freute sich bereits auf den Moment, wenn es soweit war. Marty stand unbeteiligt neben ihr und beobachtete sie. Das war der ideale Moment für einen Überraschungsangriff.

Rich konzentrierte sich auf den Moment, zog seine Pistole aus dem Bund und prüfte ein letztes Mal, ob sie auch wirklich entsichert war. In Gedanken mahnte er sich selbst, Marty diesmal nicht zu unterschätzen. Am besten wäre es, so überlegte er, wenn er ihn direkt, aus seinem Hinterhalt erschießen konnte, aber so treffsicher war er nicht. Das wusste er. Er musste noch näher ran und so schlich er gebückt hinter der Mauer hervor und robbte auf dem matschigen Boden näher an sein Ziel heran. Zwei, oder drei Wochen später und der Boden wäre sicher bereits gefroren, aber das Adrenalin, das durch Richs Adern floss, ließ ihn die Kälte des feuchten Untergrundes nicht im geringsten spüren. Er hatte schon zehn Meter hinter sich gebracht und den Stamm einer dicken Buche vor Augen, hinter der er sich verbergen konnte. Am Stamm angekommen, stand er auf und sah zur Scheune zurück. Noch war von seinem Vater, oder den Albanern nichts zu sehen. Aber das konnte sich rasch ändern. Er lugte hinter dem Baum hervor und spürte wie seine Halsschlagader freudig pulsierte. Nun erkannte er die beiden um einiges deutlicher durch den offenen Eingang des Gewächshauses.

Liz kniete noch immer am Boden und zupfte Rucola-Blätter aus der Erde. Er erhob die Waffe und richtete sie auf Marty. Dabei bemerkte Rich verwundert, dass er zitterte. Es waren so viele Nächte voller Hass und Wut vergangen, dass er seine Pistole wie ein an Parkinson erkrankter Frührentner hielt. Er fluchte in sich hinein und versuchte sich zu beherrschen. Nur ein einziger halbwegs platzierter Schuss war notwendig. Er schloss sein linkes Auge und stützte den Griff seiner Waffe mit der linken Hand. Dann drückte er ab. Die Pistole gab den gewohnt kräftigen Ruck von sich und schleuderte Schallwellen in alle Himmelsrichtungen. Wie gefesselt sah er mit an, wie die Kugel ein Loch in den unvorbereiteten Körper riss und ihn zu Boden zwang. Die Zeit schien langsamer zu verlaufen, was ihn erfreute, da er den Moment so noch intensiver genießen konnte. Er löste seinen Blick von Marty und beobachtete, wie sich Liz schreiend über ihn beugte. Dann rannte er los.

Hinter ihm hörte er schon laute und schnelle Schritte, aber es war ihm egal. Sein Schuss hatte die gewünschte Wirkung bereits erzielt, die Rache war sein. Rich ließ den Eingang des Gewächshauses hinter sich und hörte, wie Liz etwas zu Marty rief. Aber er in der ganzen Aufregung verstand er kein Wort. Er war viel zu fasziniert von der roten Blutlache, die sich unter Martys Körper ausgebreitet hatte.

Liz bemerkte den Angreifer zu spät und sprang auf, aber Rich schloss bereits seine Pranke um ihren Arm und hielt sie fest. Hinter ihm spürte er die Anwesenheit seines Vaters und der beiden Albaner. Das war sein Moment und er begann, ihn in vollen Zügen genießen. Das Gefühl der Macht war wieder zurück und er wurde wieder zu dem, der er noch vor ein paar Wochen gewesen war.

Als seine Blicke über Liz Körper wanderten, freute er sich schon auf die kommenden Tage. Mit der Spitze seiner Pistole berührte er stumm Liz Brust, deren Körper genauso zu beben begann, wie Martys Blick, der gerade verstand, wer ihn angeschossen hatte. Bis auf Liz leises Schluchzen, hatte noch keiner einen Ton von sich gegeben. Die vier Eindringlinge waren ganz eingenommen von der Intensität des Moments. Dann durchbrach Rich endlich die Stille.

„Na du Wichser? So ohne Schrotflinte und deinen Kumpel bist du ganz schön hilflos, oder? Während du hier krepierst, kümmern wir uns um deine kleine Freundin und ich garantiere dir, dass wir uns nicht zurückhalten werden. Wirklich schade, dass du das nicht mehr mitansehen wirst.“

Rich fühlte sich wie ein König. Er hatte es ihnen allen gezeigt. Marty, Liz, den Albanern und vor allem, seinem Vater. Er wünschte sich, dieser Moment würde ewig andauern, da bemerkte er, wie Marty eine Pistole unter seinem Bein hervorzog. Er wollte gerade nach ihr treten, aber sein Vater war schneller und versetzte Marty bereits einen Tritt mit seinem schwarzen Armeestiefel. Die Waffe flog durch das Gewächshaus und donnerte klappernd gegen eine Plexiglasscheibe. Rich konnte das aufkeimende Lachen und seine Freude nicht länger unterdrücken und quiekte beinahe wie eine kleine Sau, als er sah, wie Marty seine Kräfte sammelte, um ein letztes Mal das Wort an ihn zu richten.

„FICKT EUCH! IHR WERDET IN DER HÖLLE BRENNEN IHR SCHWEINE!“, schrie Marty, der immer noch nicht fassen konnte, was gerade passiert war.

Liz stand geschockt neben Rich und starrte auf Marty hinab. Ohne, dass sie es bemerkte, rannen Tränen an ihrer Wange hinab. Gerade jetzt, als sie Ihren Schmerz überwunden und Marty näher an sich herangelassen hatte. Gerade jetzt, wo sie endlich sicher waren, vor all dem Tod und den verwesenden Körpern. Irritiert schüttelte sie den Kopf und wollte nicht wahrhaben, was gerade passierte. Aus ihrem Hinterkopf krochen langsam die dunklen Schatten ihrer Vergangenheit heran und sie begann zu realisieren, welche Konsequenzen die letzten zehn Minuten haben würden. Ihr Leid war noch nicht zu Ende, es begann gerade erst. Den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie sich, umgeben von einer Horde Untoter zu sein. Auch das würde Schmerz aber wenigstens einen schnellen Tod bedeuten.

Rich wandte sich ihr zu und legte seine Klaue um ihren Hals, damit sie ihn direkt ins Gesicht sehen musste, während er seine Worte sprach. Sie roch seinen fauligen Atem, der dem eines Untoten in nichts nachstand.

„So du kleine Schlampe!“, keifte er. „Jetzt machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben!“

Im Gewächshaus war schallendes Gelächter zu hören.