Kapitel 2

Der Kampf

Die beiden streunten gerade durch das verlassene Hotel, das hinter dem Dorffriedhof lag und damit nahe den Gewächshäusern. Es war Tage her, als sie den letzten Untoten auf der Insel gesehen hatten. Ihr Plan, die Infizierten aus ihren Nestern zu locken und abzufackeln, war voll aufgegangen. Noch immer erfüllte Helge ein gewisser Stolz, wenn er daran dachte, wie sie die Untoten fertig gemacht hatten. Das Hotel war mehr oder weniger leer. Sie entdeckten auf ihren Streifzügen zwar seit Tagen nichts mehr von Interesse, aber in den letzten Wochen hatten sie sich bereits mit allem eingedeckt, was sie benötigen würden, um den bevorstehenden Winter gut zu überstehen. Mittlerweile streiften die beiden einfach nur durch die Gegend, weil es ihnen Spaß machte und gut gegen die Langeweile war. Helge stand mit Stefan vor dem offenen Hotelfenster im zweiten Stock und sah hinaus auf die zahlreichen Gewächshäuser der Insel.

„Wir haben jetzt Dezember“, stellte Helge fest, der aufgrund seines dicken Bauches etwas weiter vom Fenster entfernt stand, als Stefan.

„Ach was! Du alter Blitzmerker, du. Was willst du mir damit sagen?“, fragte Stefan, der nicht ganz verstand was in Helge vorging.

„Nichts“, nuschelte Helge in seinen Vollbart. „Ich dachte nur gerade an den Frühling. Und daran, wenn es wieder wärmer wird und wir endlich los können.“

„Naja, bis dahin dauert es sicher noch eine Weile. Vor Ende Februar wird das nichts“, stellte Stefan fest. „Außerdem sind wir hier sicher. Bis auf den reizvollen Ausblick, an einem sicheren Strand zu hocken und Wein zu schlürfen, treibt uns ja nichts, oder?“

„Ja, stimmt. Aber so langsam fällt mir hier auf der Insel die Decke auf den Kopf. Ich bin immerhin schon länger hier, als ihr.“

Stefan bemerkte, wie sich Helges Blick verfinsterte.

„Jetzt entspann dich mal“, sagte er. „Die paar Wochen bekommen wir auch noch herum. Ich saß die ersten Tage in meiner kleinen Stadtwohnung fest und die scheiß wandelnden Madensäcke sind vor meinen Fenstern im ersten Stock hoch und runter geschlurft. Das war hart, Mann! Dagegen ist Reichenau ein Paradies.“

Helge wusste selber nicht, was mit ihm los war. Er war überglücklich, neue Gefährten gefunden zu haben, aber dieses Gefühl der Tatenlosigkeit trieb ihn noch in den Wahnsinn. Der Bodensee war nur ein Etappenziel für sie und nun warteten sie, dass sie wieder weiter konnten. Ihr Ziel war die italienische Gefängnisinsel Gorgona, wo Helges Kumpel Matteo, ebenfalls ein Mitglied der Rock Machines, eine mehrjährige Haftstraße absaß. Helge kannte die Insel von seinen Besuchen und konnte es kaum erwarten, sie wieder zu sehen. Im Vergleich zu Reichenau, war sie sogar ein wenig kleiner, hatte aber viele Vorteile, wie eine unabhängige Lebensmittelversorgung und das milde Klima Italiens. Zudem, war es eine richtige Insel im Meer und keine einfache Landzunge. Natürlich wussten sie nicht, wie dort die Lage war, aber einen anderen Ort kannten sie nicht. Ohne Internet und die Möglichkeit mit anderen Überlebenden zu kommunizieren, waren sie auf das angewiesen, was sie wussten, und die Wege, die sie planen konnten. Mit seinen knapp fünfundvierzig Jahren hatte Helge definitiv mehr Lebenserfahrung, als die anderen drei Verrückten. Sie waren vor Wochen auf Reichenau aufgetaucht und ließen ihn neuen Mut schöpfen, bevor er sich aus Einsamkeit tot gesoffen hatte. Obwohl sie sich nur kurz kannten, verstanden sie sich super, und Helge kam sich vor wie ihr junger Ersatzpapa.

Stumm standen die beiden am Fenster und lauschten in die Stille. Seit dem Ausbruch des Virus hatte die Natur wieder ihre Ruhe. Die Menschheit war nahezu ausgelöscht. Gottes Geschenk an die Erde war nicht mehr als ein einziges großes Missverständnis. Ein kurzes Zwinkern im Universum. Plötzlich wurde die Ruhe von einem lauten Knall durchschnitten.

„Was war das?“, fragte Stefan, der sich sichtlich erschrocken hatte, dabei kannte er die Antwort bereits und Helge machte auch keine Anstalten, die Frage zu beantworten.

„Da stimmt etwas nicht. Die Insel ist doch sauber und Marty spart auch sonst lieber seine Munition“, erwiderte Helge. „Lass uns besser nachsehen! Vielleicht brauchen die beiden unsere Hilfe“

Er hatte kaum ausgesprochen, da lief er schon zur Tür.

„Warte auf mich“, rief ihm Stefan hinterher.

Stefan griff nach seinem M-16 Gewehr, das an der Wand neben dem Fenster lehnte und rannte hinter Helge hinterher, der bereits das Treppenhaus des Hotels herunterstürzte. Obwohl Stefan mit seinen knapp über ein Meter neunzig nur wenig größer war als Helge, stieß er sich fast den Kopf im Treppenhaus. Die beiden verließen vorsichtig den Hoteleingang, da sie der Schuss wieder zur Vorsicht ermahnte. Das Areal der Bauernhöfe war riesig und auf jedem Grundstück stand eines der vielen großen Gewächshäuser. Reichenau war bekannt für das frische Gemüse, das dort angebaut wurde. Die Insel versorgte nahezu die gesamte Bodenseeregion damit. Noch immer standen sie vor dem Eingang des Hotels und betrachteten das erste Gewächshaus in etwa hundert Metern Entfernung. Es wurde, durch eine mit Bäumen bewachsene Einfahrt, leicht verdeckt.

„Der Schuss kam von dort hinten, oder?“, fragte Stefan, der sich dabei die dunkle Hornbrille wieder auf die Nase schob.

Mittlerweile hatte er sich an das Gewicht seines M-16 Gewehres gewöhnt und trug es bei jedem Streifzug über die Insel bei sich. Die anderen bevorzugten dagegen eher die leichten Pistolen.

„Ich glaube schon“, brummte Helge. „Entweder von dem Haus in der Einfahrt dort hinten, oder dem kleineren gleich links daneben.“

Sie liefen über die zweispurige und mit Blättern überzogene Straße in Richtung des Bauernhofes. Der kalte Wind ließ das verdreckte Hemd der Leiche flattern, die vor der Hofeinfahrt lag. Sie war bereits komplett verfault und nur noch ein halbhoher Haufen dunkelbraunen Fleisches. Helge erinnerte sich daran, wie er im Kofferraum der C-Klasse sitzend, mehrere Salven Schrot in die Untoten gejagt hatte, als er zusammen mit Marty die Herden von der Insel lockte. Vermutlich war die Leiche eines seiner Opfer.

Stefan stützte sein Gewehr auf dem Knie ab, als er in der Einfahrt in die Hocke ging und konzentriert durch sein Zielfernrohr sah.

„Kannst du etwas erkennen?“, flüsterte Helge, obwohl niemand da war, der sie hätte hören können.

Stefan schwenkte sein Gewehr über den Bauernhof hinweg und erkannte im Hintergrund eine Scheune. Vor der Scheune stand das Gewächshaus, dass nun in seinem Visier auftauchte. Durch die milchigen Gläser konnte er nichts Seltsames erkennen, aber als er in den offenen Eingang blicken konnte, fielen fünf Personen in sein Sichtfeld. Sein Magen verkrampfte sich augenblicklich und ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper.

„Verdammte scheiße, Helge. Das ist er! Dieser verfluchte Hurensohn. Wie hat der uns gefunden?“

„Wer denn, Stefan?“, herrschte Helge ihn an. „Nun sprich schon!“

„Rich! Dieser Drecksack hat Liz. Und neben ihm stehen noch vier andere Monster! Scheiße verdammt! Ich kann Marty nirgends sehen.“

Helge verstand nichts mehr. Wer war Rich und was für andere vier Monster? Er bemerkte Stefans Panik, der noch immer kniete und durch sein Gewehr sah.

„Bleib ruhig Stefan und mach nichts Unüberlegtes. Beschreibe mir genau, was du siehst“, sagte er mit betont ruhiger Stimme und kniete sich neben Stefan, dem er seine Hand auf die Schulter legte.

„Vier riesige Typen. Einer von ihnen ist Rich, das kranke Arschloch, dem wir Liz entrissen haben. Er hat eine Knarre in der einen Hand und würgt sie gerade mit seinen anderen Drecksgriffeln. Dieser Hurensohn. Hinter ihm stehen zwei ältere Typen und ganz hinten, ein etwas jüngerer. Dieser Drecksack. Wir müssen was tun. SCHNELL!“

Stefan löste seinen Blick von der Waffe und sah Helge mit hasserfüllten Augen an. Langsam begriff dieser das Ausmaß der Situation. Seine Gedanken überschlugen sich.

„Bleib du in Deckung, Stefan. Aber geh so nah heran, bis du sicher bist, zu treffen. Mit mir rechnen sie nicht, sonst hätten sie gewartet, bis sie uns alle auf einem Fleck gehabt hätten. Ich schleiche mich von der Seite an und nehme die hinteren zwei in die Mangel. Du kümmerst dich um Rich und den anderen. Erst wenn du mich schießen hörst, legst du auch los. Kapiert?“

Die beiden liefen geduckt bis auf zehn Meter an das Gewächshaus heran. Sie konnten die vier Männer bereits lachen hören. Helge zeigte stumm in die Hecke, die zum Gewächshaus führte, und robbte sogleich an ihr entlang wie ein außer Form geratener Elitesoldat.

Stefan sah ihm kurz hinterher und setzte sich vor einen lichten Busch, der ihm Deckung gab, aber die Sicht nicht komplett nahm. Mit dem Gewehr konnte er nicht im Liegen schießen und so winkelte er die Beine an, damit er seinen linken Arm am Knie abstützen konnte, während er Rich und den hünenhaften Kerl neben ihm ins Visier nahm. Als er die diabolische Freude auf ihren Gesichtern wahrnehmen konnte, schoss ihm erneut das Blut in den Kopf. Zwar war er von seinen Schießkünsten überzeugt, da er in den letzten Wochen genug Praxis sammeln konnte, aber er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, Liz zu verletzen, und auf den Riesen mit Schnauzbart hatte er freies Schussfeld. Also nahm er sich den älteren Typen hinter Rich vor. Umso länger er ihn ansah, umso deutlicher erkannte er die Ähnlichkeiten zu Rich. Dann fiel der Groschen. Es war sein Vater. Am liebsten hätte er sofort abgedrückt und sein Hirn im Gewächshaus verteilt, aber er bekam sich rasch wieder in den Griff, denn auf ihn kam es an.


***

Helge hatte die vier Typen fest im Blick. Er hatte Glück, denn sie standen ihm den Rücken zugewandt, in nächster Nähe hinter dem milchigen Glas. Jeder Einzelne von ihnen hatte eine so breite Statur, dass sie unverkennbar waren. Gegen diese Riesen war Liz nur ein unbedeutender bunter Strich. Von seiner Lage aus konnte er Stefan nirgends erkennen, aber er erahnte seine Position hinter dem ersten großen Busch in zehn Meter Entfernung. Helge überlegte, wie er es anstellen sollte. Er musste die beiden linken innerhalb von wenigen Sekunden erledigen, damit den anderen keine Zeit mehr zum Reagieren blieb. Ganz rechts stand Liz und daneben der Kerl, den Stefan Rich nannte. Neben ihm erkannte er einen Glatzkopf. Um diese beiden musste sich also Stefan kümmern.

Helge spürte seine Anspannung. Aber ein besserer Moment würde nicht kommen. Er ging im Geiste durch, wie er sie erledigen würde. Einem von ihnen musste er gezielt in den Kopf schießen, solange sie noch so regungslos an Ort und Stelle standen. Den anderen konnte er dann mit einer Salve von Schüssen niederstrecken. Er entschied sich für den größeren der Beiden und zielte auf seinen Kopf.

Wäre doch nur Marty da, wünschte er sich, dann wäre es ausgeglichener. Aber so wie sich die Situation darstellte, handelte es sich bei dem dunklen Schatten, der vor den fünf Personen im Gewächshaus lag, um seinen Freund. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den Schuss, den er gleich abzugeben vermochte. Im Geiste zählte er von drei rückwärts, und betete, dass Stefan ebenfalls bereit war. Er drückte ab und hörte das dumpfe Krachen des Kunststoffglases.


***

Stefans Hand begann unmerklich zu zittern, dann hörte er den Schuss und drückte in dem Moment ab, als der Knall am lautesten in seinen Ohren hallte. Seinen eigenen Schuss hingegen, nahm er kaum wahr. Auch nicht den Rückschlag, den er an seiner Schulter hätte spüren müssen. Er war viel zu sehr beeindruckt von der Blutfontäne, die aus dem Kopf von Richs Vater schoss und die beiden Personen hinter ihm bespritzte. Der größere der beiden Körper fiel regungslos nach vorn, während der rechts von ihm noch im Kugelhagel zuckte, den Helge aus seiner Pistole abgab. Stefan gab seine Deckung auf und rannte wie im Wahn zum Eingang des Gewächshauses. Fest entschlossen, Rich ein für alle Mal den Schädel einzuschlagen.

Noch immer starr vor Trauer bekam Liz kaum mit, was gerade um sie herum passierte. Dann sah sie, wie sich Rich panisch umschaute und griff mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte nach seiner Waffe und drehte sie ihm aus seiner Hand, aus der plötzlich jegliche Entschlossenheit gewichen war. Aus ihrer Trauer loderte ein frisch entfachtes Fegefeuer des Hasses und sie begann mit erhobener Waffe zu schreien.

„DU MIESES STÜCK SCHEISSE WIRST DAS BÜSSEN!“

Stefan stand auf einmal neben Liz und schlug Rich den Gewehrkolben mit voller Wucht gegen die Schläfe. Der massige Körper sackte in sich zusammen und fand seinen Platz neben Martins Leiche. Helge wollte gerade seine Pistole in Position bringen, da rief Liz wie von Sinnen, dass er es nicht wagen solle, ihn zu erschießen.

„Mit dem bin ich noch nicht fertig!“, kreischte sie und sah zu Stefan rüber, der mit bleichem Gesicht vor dem Leichnam seines besten Freundes stand.

Stefans Magen verkrampfte sich und fühlte sich an, als würden sich seine Gedärme auf der Stelle in die eines Untoten verwandeln. Er verlor das Gleichgewicht und sank auf die Knie. Dann übergab er sich vor Martys Stiefel. Helge trat zu ihm und stützte ihn an der Schulter, damit er nicht in die Lache aus Erbrochenem und Blut fiel. Helge bemerkte den fragenden Ausdruck in seinem Blick, als Stefan zu ihm hinauf sah, wusste aber auch keine passende Antwort auf das, was hier gerade passiert war.


***

„Was sollen wir mit ihm tun?“, beendete Helge die unangenehme Stille, nachdem sie Rich gefesselt hatten.

Er war noch immer ohnmächtig und würde sicher nicht vor der nächsten Stunde aufwachen.

„Wir sollten ihn begraben“, stellte er fest.

„Drauf geschissen“, erwiderte Stefan kühl.

Wieder kehrte Stille ein. Liz sah zu Rich. Am liebsten hätte sie ihm auf der Stelle den Kopf abgerissen.

„Er hat Recht“, sagte sie. „Das wäre Marty egal gewesen. Verbrennen wir seine Leiche besser, dann haben die scheiß Untoten wenigstens keine Mahlzeit an ihm.“

Stefan kniete sich ein letztes Mal zu seinem Freund und nahm ihm seine geliebte Automatikuhr ab. Dann ging er zum Wagen und holte einen Kanister Sprit, den er über Martys Leiche leerte. Stefan trat einen Schritt zur Seite, hielt kurz inne und zündete ihn an.

An den Geruch von brennendem Fleisch hatten sie sich mittlerweile gewöhnt. Der süße, moderige Geruch, rief nicht einmal mehr Ekel in ihnen hervor. In den letzten Wochen mussten sie sich an vieles gewöhnen. Nur der Verlust eines geliebten Menschen fiel ihnen noch immer schwer. Liz konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, als sie in die Flammen sah und heulte hemmungslos. Stefan hatte vor diesem Moment immer schon Angst. Der Tod war ihr ständiger Begleiter, aber er hatte seinen und Martys Traum, ein kühles Bier an einem südlichen Strand zu trinken, nie aufgegeben. Diese fragile Traumblase war nun geplatzt wie der Kopf eines Untoten, nachdem man eine Salve Schrot in ihn hinein gejagt hatte. In diesem Augenblick beschloss Stefan, dass sie diesen verfluchten Strand erreichen würden. Das war er Marty schuldig. Aber vorher musste Rich büßen. Er dachte an ihn. Wie er da gefesselt und bewusstlos auf der Ladefläche des maroden Kleinlasters lag. Beinahe hatte Stefan Angst vor sich selbst, als ihm innerhalb der einen Sekunde, allerlei Gräueltaten in den Sinn kamen. Als die Flammen von Martys Leichnam auf die anderen Körper übergriffen, verließen sie das Gewächshaus, das in Kürze nicht mehr stehen würde.