Kapitel 14

Hoffnung

Der Hund wusste tatsächlich, was er tat. In respektvollem Abstand lief Matteo ihm bereits seit einigen Querstraßen hinterher und bekam keinen einzigen Untoten zu Gesicht, obwohl er wusste, dass sie da waren. Vereinzelt konnte er ihr stöhnen und klopfen hinter Mauern wahrnehmen.

Matteo folgte dem Hund gerade auf die Via Goito und stellte fest, dass sich die Enge der Altstadt wieder in ein freies Terrain wandelte und er einen freien Blick auf einen Park zu seiner Linken hatte. Die rechte Seite der Via Goito bestand aus Hochhäusern. Teilweise fanden dessen ehemalige Bewohner auf bis zu acht Stockwerken Platz. Matteo hatte schon hässlichere Bauwerke gesehen und war sich sicher, dass die Gegend vor einiger Zeit noch recht nett anzusehen war. Nun jedoch, war auf der Straße kein Durchkommen mehr. Neben Autos, verstopften auch mannshohe Mülltonnen den Weg. Ein weißer Lancia hatte beim Rückwärtsfahren eine der riesigen Laternen erwischt, die nun quer über der Straße lag. Auf der Fahrerseite des Wagens konnte man eine Leiche erkennen, deren Kopf durch das kaputte Fenster lehnte. Vermutlich hatte ein Untoter versucht, den angeschnallten Leichnam aus dem Wagen zu zerren. Matteo kniff die Augen zusammen und musterte den Bereich aus sicherer Entfernung. Er schien sicher zu sein, aber hier lebten einmal so viele Menschen, dass er davon ausgehen musste, hier irgendwo eine Vielzahl von Untoten anzutreffen.

Der Labrador sah das vermutlich ähnlich, vielleicht wusste er auch bereits mehr als Matteo, denn er wich auf die Parkseite der Straße aus und trottete voraus. Matteo war ziemlich angespannt. Der Hund hatte ihn bereits einige Kilometer durch die Stadt geführt und er war sich nicht mehr ganz sicher, ob er den Rückweg sofort finden würde. Wenn sein neuer Begleiter nicht auf den nächsten paar hundert Metern erkennen ließ, was er wollte, würde Matteo zurückgehen müssen. Dann hatte sein Trip hier sein Ende gefunden.

Der Hund blieb unvermittelt vor einer Lücke in dem dichten Buschwerk stehen und ließ Matteo an ihn herankommen. Dieser ging langsam in die Hocke und streichelte dem Labrador über den Rücken. Durch die Büsche hatte Matteo freie Sicht in eine der Seitenstraßen, die zwischen den Hochhäusern entlangführte und damit auf eine große Ansammlung wandelnder Leichen, die wie in Trance auf eine Gelegenheit wartete, um über etwas herzufallen und ihren Hunger zu stillen. Matteos Unbehagen wuchs und dennoch pfiff er leise aus, weil er sich über den schlauen Hund nur wundern konnte.

Ein unwirkliches Bild entstand vor seinem geistigen Auge. Die Gegend war ruhig und vereinzelt konnte er in den Pausen seines laut klopfenden Herzens sogar die Vögel zwitschern hören. Die Sonne warf helle Strahlen durch das dichte Blattwerk des Parks und dennoch blitzte der blanke Tod durch das Grün. Würde er auch nur einen einzigen unbeherrschten Laut von sich geben, würde sich hier und jetzt der Höllenschlund auftun und ihn mit seinen fauligen Reißzähnen verschlingen.

„Auf jetzt, Kleiner!“, sagte Matteo leise, während er dem Hund mit beiden Händen den Kopf kraulte. „Bring mich endlich zu deinem geheimnisvollen Ort. Ich bin schon viel zu lang mit dir unterwegs.“

Matteo erschrak ein wenig, als er die Rippen des Hundes aus der Nähe sehen konnte. Er war wirklich viel zu dünn. Matteo holte zwei der Müsliriegel aus dem Rucksack und gab sie dem Hund zu fressen, der sie hastig verschlang und dankbar mit dem Schwanz wedelte.

Geduckt lief Matteo weitere zweihundert Meter hinter den dichten Büschen, die den Park von der Straße trennten, entlang. Der Labrador trottete weiterhin voraus und sprang geschickt über das Wurzelwerk der Bäume, die vereinzelt zwischen den Büschen in die Höhe ragten. Das Ende des Parks rückte näher und Matteo suchte Deckung hinter dem dicken Stamm eines Walnussbaums. Vor ihm lag ein großer offener Platz, der als Innenhof für drei Hochhäuser diente, die in jeder Himmelsrichtung um den Platz herum standen. In der Mitte des Platzes, dessen Durchmesser Matteo auf etwa fünfzig Meter schätzte, lag ein verwüsteter Spielplatz mit Klettergerüst und mehreren kleinen Wippgeräten. An dessen Rand waren pro Seite jeweils zwei Stahlbänke in den Boden eingelassen. Matteo konnte sich kaum auf die mittig platzierten Eingänge der Hochhäuser konzentrieren, denn überall standen Untote herum und regten sich kaum. Matteo hatte die ehemaligen Bewohner des Bezirks also endlich gefunden. Sie drängten sich hauptsächlich vor das linke der drei Gebäude, als hätte dort zuletzt etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Matteo wunderte sich nicht mehr über ihre Regungslosigkeit. Es wusste, dass sie ihre wenige Energie sparten, bis sie ein Ziel aus Fleisch und Blut fanden, auf das sie losgehen konnten. Einige von ihnen wankten mehr, andere weniger. Aus der Entfernung gewann Matteo den Eindruck, sie würden sich wie Grashalme im Wind wiegen.

Was hatte diese Epidemie nur angerichtet, fragte er sich immer und immer wieder. Innerhalb weniger Monate war aus dieser sicheren und friedlichen Welt, eine unwirkliche Hölle geworden, die von unberechenbaren Kreaturen beherrscht wurde.

Matteo konnte den Tod vor ihm riechen. Der süßliche Gestank, der vom Wind zu ihm getrieben wurde, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er musste umkehren, sofort. Es war, als wurde er in die Realität zurück gerissen. Bis auf diesen Hund konnte hier niemand überlebt haben. Es war nahezu unmöglich. Plötzlich durchfuhr Matteo ein Blitz tiefer Ernüchterung. Was hatte er sich nur vorgemacht? Matteo dachte an die vielen Boote, die nach dem Ausbruch Gorgona passiert hatten. Irgendwo musste es doch Überlebende geben. Vielleicht suchte er nur am falschen Ort. Zumindest hatte sich Matteo nun entschieden. Er musste den Weg sofort wieder zurückgehen und den Hund würde er mitnehmen. Er war nützlich.

Matteo blickte sich um. Der Labrador war verschwunden. Er entdeckte den schwarzen Punkt sofort am Rand des rechten Hochhauses. Er schlich sich gerade hinter die Reihe der kleinen Einhausungen, in denen die vielen Mülltonnen ihren Platz fanden. Sie waren mit hellen Holzlatten verkleidet und Matteo konnte das schwarze Fell des Labradors zwischen den Latten durchscheinen sehen. Der Hund verschwand unbemerkt im offen stehenden Eingang des Gebäudes, nur um sich gleich daraufhin umzusehen, wo sein neuer Freund blieb. Aber Matteo hatte Zweifel, ob es sich lohnen würde, auch diese Gefahr in Kauf zu nehmen. Er fluchte in sich hinein, weil der Rückweg ohne die Spürnase einem Himmelfahrtskommando glich. Sollte er ihn doch holen? Matteo sah sich das Gebäude erneut an. Im unteren Geschoss waren die Rollläden herabgelassen. In den meisten darüber nicht. Vielleicht gab es doch Überlebende in diesem Wohnturm. Es gab aber einfach keinen Sinn. Warum waren sie noch da drin und nicht geflüchtet? Wenn es der Hund schaffte, musste es doch auch für Menschen möglich sein. Matteo grübelte. Einerseits war es Irrsinn, sich an den Untoten vorbei und in dieses Gebäude zu schleichen, andererseits war er allein mit dem Ziel auf das Festland zurückgekehrt, Überlebende zu finden. Nun hatte er vielleicht doch die Chance dazu. Er sah sich erneut um. Der Weg hinter die Müllhäuschen war verdeckt durch Büsche. Er musste nur die Straße überqueren und auf den Grünstreifen gelangen. Dann konnte er sich geduckt auf denselben Weg begeben, wie ihn auch der Hund genommen hatte. Einzig und allein der Weg vom Park über die Straße war er ungeschützt und konnte von den Untoten bemerkt werden. Hier hatte der Köter durch seine Größe eindeutig einen Vorteil. Matteo sah sich den rechten Bereich des Hochhauses an. Theoretisch konnte er im Park einen kleinen Umweg gehen, die Straße einige Meter weiter rechts und außerhalb der Sichtweite der Untoten überqueren und dann an der Fassade des Hochhauses entlang, bis zu den Müllhäuschen schleichen. Das konnte klappen, war er sich sicher.

Die Untoten standen noch immer regungslos und geballt vor dem linken Gebäude und konnten die Straße vor dem rechten Hochhaus nicht gänzlich einsehen. Matteo dachte darüber nach, wie er, ohne diese Chance zu nutzen, wieder auf die Insel zurückkehrte. Er wusste, dass er wochenlang darüber nachdenken würde, was er in diesem Haus wohl gefunden hätte und sich Vorwürfe machen. Er musste einfach nachsehen und prüfte seine Beretta. Sie war geladen und entsichert. Matteo verließ seine Deckung und schlich an den Sträuchern auf seiner Rechten entlang. Nach einigen Metern schlüpfte er geduckt durch das Buschwerk und sah schräg in den Innenhof der Hochhaussiedlung. Die Untoten waren zu einem großen Teil hinter dem Spielplatz und den Müllhäuschen verschwunden. Den Rest verdeckte das Hochhaus. Er überquerte vorsichtig die Straße und kauerte sich an die Fassade des hohen Gebäudes. Matteo musste sich eingestehen, dass er Angst hatte. Angst davor, bei lebendigem Leibe von diesen Dingern auseinandergerissen zu werden oder gar eines von ihnen zu werden.

Er riss sich zusammen und lief mit schnellen aber kurzen Schritten zu den Müllhäuschen hinüber. Der Geruch der Untoten wurde immer intensiver und brachte ihn fast zum Würgen. Noch dreißig Meter, dann hatte er den Eingang vor sich. Langsam näherte sich Matteo dem letzten Müllhäuschen und musterte die Stufen des Gebäudeeingangs. Fünf Betonstufen führten auf das kleine Podest, dessen Tür Sprünge im Sicherheitsglas aufwies und sperrangelweit offen stand. Der Labrador war vermutlich mittlerweile tiefer in das Gebäude vorgedrungen, denn er verweilte nicht mehr am Türrahmen. Von Matteos Position aus bis zum Eingang, musste er nur etwa drei Meter zurücklegen. Dies aber in völlig offenem Gelände. Matteo konnte durch die Spalten der Rückwand des Häuschens erkennen, dass nicht alle Untoten mit dem Rücken zu ihm standen. So konnte er es auf keinen Fall riskieren, seine Deckung aufzugeben.

Matteo atmete tief durch und brach mit der Machete einen der Pflastersteine aus dem Boden unter ihm. Er wog den schweren Stein in der Hand und gewann an Zuversicht. Das würde einen ganz schönen Lärm geben, wenn er an der Fassade des anderen Hauses aufschlug. Matteo trat einen Schritt zurück, holte weit aus und warf den Stein mit aller Kraft über die Untoten hinweg und auf das gegenüberliegende Hochhaus. Der Stein riss beim Aufprall ein dickes Stück Putz aus der Fassade des Hauses und löste einen regelrechten Orkan aus. Die Untoten erwachten schlagartig aus ihrer Starre und drehten sich nahezu zeitgleich in die Richtung der Geräuschquelle. Sie konnten sich gar nicht mehr beruhigen und gaben ein Stakkato an Stöhnlauten von sich, während sie auf den Stein zutorkelten und sich vereinzelt gegenseitig über den Haufen liefen.

Das war Matteos Moment. Er schlich sich mit hastigen Schritten die Treppen hinauf und verschwand im dunklen Schlund des Hochhauses. Mittlerweile hatte er die Pistole weggepackt. Ein Schuss würde die Untoten nur weiter anstacheln und zu ihm führen. Mit der Machete in der Hand versuchte er, sich an die neue Dunkelheit des Eingangsbereiches zu gewöhnen. Ein großer, braun lackierter Kasten war an der linken Wand angebracht. Er beherbergte die Klingeln und die Briefkästen. Matteo lief vorsichtig durch den Raum und blieb vor den beiden Fahrstuhltüren stehen. Überall lagen Kleidungsstücke auf dem hell gefliesten Boden. Im linken Gang entdeckte er den passenden Koffer dazu, sowie deren Besitzer, deren abgenagte Knochen keinen Zweifel daran ließen, dass sich die Untoten bereits um sie gekümmert hatten.

Matteo lief den Rechten der beiden Flure entlang. Das Licht des Eingangs reichte nicht annähernd bis zu seiner Position und er sah seine Hand kaum noch vor Augen. Sein Puls raste, obwohl er keine Angst vor der Dunkelheit hatte. Aber als er sich vorstellte, was alles in dem düsteren Gang auf ihn lauern konnte, wäre er am liebsten davon gerannt. Alles was er sah, waren die schwachen Lichtstreifen, die unter den Wohnungstüren auf der rechten Seite des Gangs fielen. Matteo lauschte. Das Gebäude war still wie ein Friedhof. Auch die Meute im Innenhof schien sich wieder beruhigt zu haben. Ohne eine Taschenlampe hatte das aber alles keinen Sinn. Gerade im rechten Moment hörte Matteo das zarte Getrippel seines neuen Freundes. Er lief auf ihn zu und nur wenige Sekunden später spürte er die Berührung des Hundes an seinem Bein. Er zog mit dem Maul an seiner Hose und versuchte so, Matteo dazu zu bewegen, ihm zu folgen.

„Na gut, du Nervensäge. Wo geht’s hin?“, fragte er leise und folgte dem leisen Tapsen der Hundepfoten.

Nach wenigen Metern in völliger Dunkelheit blieb der Hund stehen. Matteo konnte hören, wie er an einer Wohnungstür scharrte und lief so weit vor, bis er genau vor ihr stand und den Türknauf in der Hand hielt. Er schob den Hund mit dem Fuß beiseite und versuchte die Tür durch drehen des Knaufs aufzudrücken. Dieser bewegte sich aber keinen Millimeter. Matteo ärgerte sich, dass er kein Werkzeug in seinen Rucksack gepackt hatte. Ohne viel Lärm zu machen, warf er seine knapp hundert Kilo aus kurzer Distanz gegen die stabile Tür, die sich aber kein Stück rührte. Er musste schon mit voller Kraft dagegen treten und damit die halbe untote Nachbarschaft aufschrecken. Der Labrador wurde immer nervöser und trieb sich hinter Matteos Beinen herum.

Der Italiener ließ sich nicht verunsichern und setzte die Machete auf Höhe des Schlosses, genau zwischen Rahmen und Türe an. Er schlug erst sanft, dann kräftiger gegen den Kunststoffgriff der Machete, dessen Klinge dadurch Stück für Stück tiefer in Richtung der Falle getrieben wurde. Mit ein wenig Glück war die Tür nicht abgeschlossen und der Riegel somit nicht arretiert.

Matteo schlug so leise wie möglich gegen Griff, aber das dumpfe Hämmern hallte dennoch durch die Flure. Mit einem Mal gab es ein leises Klacken und die Tür glitt auf. Diffuses Licht empfing ihn ebenso, wie der bekannte Duft des Todes. Das verhieß nichts Gutes. Matteo hatte kaum Zeit die Lage zu checken, da drängte sich auch schon der Hund an ihm vorbei und lief in die Wohnung hinein. Matteo betrat die Wohnung ebenfalls und spürte Ärger aufkommen, weil der Hund ihn vermutlich nur dazu benutzt hatte, um in die Wohnung zu gelangen, weil er sich von seinen toten Besitzern verabschieden wollte.

Er schloss die Tür hinter sich wieder und stand in einem weiteren Flur. Die Wohnung war aufgeräumt und die Einrichtung stammte offenbar größtenteils von Ikea. Matteo lief dem Gestank entgegen und blickte auf einmal in ein Wohnzimmer, dessen Jalousien nahezu komplett herabgelassen waren. Er stand also tatsächlich in der Wohnung, die er von draußen gesehen hatte. Im blassen Licht des Raumes sah Matteo zwei Leichen. Eine davon lag auf der grauen Stoffcouch und war mit einer Decke zugedeckt. Die andere saß vor der Couch und wurde von Fliegen umgarnt. Eine Frau. Plötzlich verflog sein Ärger und ein schlechtes Gewissen machte sich breit. Die Leiche war noch nicht lange tot. Er hatte sich scheinbar einfach nur wenige Tage zu spät für seine Aktion entschieden. Die Leiche sah grotesk aus. Aufgedunsen und dennoch so dünn wie ein magersüchtiges Bulimiemodel im Endstadium ihres Wahns. Ihre Haut war aufgeplatzt und ihre Lippen hingen nur noch in Fetzen an ihrem Kiefer. Vermutlich hatte sie versucht, ihren Hunger mit ihrem eigenen Fleisch zu stillen. Einige Tage früher und er hätte ihr vielleicht noch helfen können. Schuldgefühle schnürten Matteo den Hals zu. Er schlug die Fliegen beiseite, die er mit seiner Anwesenheit aufgescheucht hatte und zog vorsichtig die Decke der anderen Leiche mit seiner langen Machete beiseite. Er blickte in das ebenso eingefallene Gesicht eines männlichen Körpers, dessen Verwesung allerdings ein Stück weiter fortgeschritten schien.

Matteo hatte die beiden Halter des Hundes gefunden, die es lieber vorgezogen hatten zu verhungern, als ihr geliebtes Haustier zu verspeisen. Der Gestank der beiden Leichen war zu viel für ihn. Er wich zurück und stieß dabei mit dem Fuß gegen einen orangenen Plastiklaster, der lautstark über das Parkett geschleudert wurde. Matteo fluchte aufgrund des Lärms und seinem Ungeschick, da wurde ihm plötzlich klar, was das bedeutete. Sein Herz machte einen Satz und aus seiner Schuld wurde eine Ohnmacht, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Ohne einen weiteren Gedanken an seine Sicherheit zu verschwenden, rannte er in den Flur zurück und suchte das Kinderzimmer, indem vermutlich auch der Hund auf ihn wartete.

Matteo blieb am Türrahmen des Zimmers stehen. Er brachte es nicht übers Herz einzutreten. Auf einer losen Matratze, lagen zwei kleine Kinder in Embryonalstellung. Tränen schossen Matteo in die Augen, als er ihre ausgemergelten Körper betrachtete. Der Labrador schlich unruhig Kreise um die Matratze. Matteo schluckte den zentnerschweren Kloß, bestehend aus einer widersprüchlichen Mischung von Schwermut und Hoffnung hinunter und betrat den Raum. Dann warf er seinen Rucksack beiseite und kniete sich vor die beiden zarten Gestalten, deren entkräfteter Gesichtsausdruck nicht den Eindruck erweckte, dass noch ein Funken Leben in ihnen glomm. Er konnte nicht erkennen, dass sie atmeten, griff dennoch nach dem Arm des Jungen, der sich anfühlte wie der einer hohlen Puppe.

Matteos Hoffnung, wenigstens diese beiden Leben retten zu können, erstarb, als er nicht den Hauch eines Pulses fühlen konnte. Das durfte nicht sein, redete er sich ein. Diese Kinder konnten einfach noch nicht tot sein. Matteo schob seine linke Hand unter den Schlafanzug des Mädchens und fühlte eine geringe Restwärme ihres Körpers. Matteo konzentrierte sich. Entweder sie waren erst vor wenigen Stunden gestorben, oder sie lebten tatsächlich noch. Er legte seine Hand auf ihre Brust und tatsächlich, da war ein unregelmäßiges und kaum wahrnehmbares Pulsieren in ihrer Brust zu spüren. Er traute sich nicht seiner Wahrnehmung zu glauben und doch konnte er es fühlen. Sie lebten. Matteo konnte sein Glück kaum glauben, als er sich davon überzeugt hatte, dass auch der Junge noch am Leben war.

Die beiden sahen aufgrund ihres geringen Körperfettanteils aus wie kleine Greise. Matteo schätzte sie auf drei oder vier. Die armen Dinger hatten so aufgesprungene Lippen als hätten sie einen tagelangen Marsch in der Wüste hinter sich. Matteo zog die Flasche Wasser aus seinem Rucksack und befeuchtete die Lippen der Kinder. Das Mädchen reagierte zuerst. Es bewegte ihren Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Matteo war sich nicht sicher, ob sie die Flüssigkeit ohne Probleme schlucken konnten und tränkte ein herumliegendes T-Shirt mit dem Wasser der Flasche und legte es an den Mund des Mädchens. Sie begann sofort zu saugen. Mit jeder Sekunde kehrte das Leben in ihren dürren Körper zurück. Matteo hätte vor Freude auf der Stelle losheulen können.

Nach einer halben Stunde hatten die beiden die gesamte Flasche mit Hilfe des T-Shirts ausgetrunken und öffneten endlich ihre Augen. Sie starrten ihren Retter jedoch nur apathisch an, als begriffen sie nicht ansatzweise, was passierte. Matteo fütterte die beiden in der folgenden Stunde geduldig mit kleinen Stücken der Müsliriegel. Dem Hund reichte er als Belohnung für seine Tapferkeit ein wenig von dem Trockenfleisch. Als Matteo sicher war, dass die Untoten noch immer am anderen Hochhaus standen, beschloss er, die Nacht über in der Wohnung zu bleiben und die beiden Kinder so lange aufzupäppeln, bis sie genug Kraft hatten, um von ihm transportiert werden zu können.


***

Die beiden sprachen auch am nächsten Morgen noch immer nicht, aber Matteo wusste, dass sie bei klarem Verstand waren, weil sie den Hund streichelten und sich gegenseitig hin und wieder Blicke zuwarfen. Sie hatten vermutlich einfach einen Schock aufgrund ihres nahenden Todes erlitten, redete sich Matteo ein. Es war ihm schwer gefallen, eine Portion Schlaf in dieser Nacht abzubekommen, aber als er sich sicher war, dass die Untoten in ihrer Trance verharrten, ist er nach einigen Stunden doch noch erschöpft in einen traumlosen Schlaf gefallen.

Ein wirklich gutes Gefühl hatte Matteo nicht, als er einen weiteren Rucksack in der Wohnung suchte, um das zweite Kind ebenfalls transportieren zu können. Aber noch eine Nacht in der Wohnung zu verbringen, kam ebenfalls nicht in Frage. Er wollte auf keinen Fall das Schicksal der Eltern teilen, die irgendwann so schwach waren, dass die Untoten im Innenhof eine unüberwindbare Hürde darstellten. Ein kleines Geräusch würde immerhin genügen, um die untote Horde im Innenhof an den Eingang ihres Wohnhauses zu locken. Matteo fand weder Waffen in der Wohnung, noch den kleinsten Nahrungskrümel. Dafür aber eine handgeschriebene Nachricht, die auf dem Wohnzimmertisch neben der Toten lag. Matteo hatte Schwierigkeiten die krakelige Handschrift zu entziffern.

Bitte. Wir sind zu schwach. Helft den Zwillingen.

Nun war er sich sicher, dass sich die Eltern für ihre Kinder geopfert hatten. Respektvoll verhüllte Matteo auch den Leichnam der Frau, bevor er den großen Wohnzimmerschrank durchsuchte. Letzten Endes fand er den Rucksack im Flur. Unterhalb des Ankleidespiegels war eine kleine Truhe, in der er fündig wurde. Matteo zog ihn heraus und schätzte seine Größe ab. Eines der Kinder würde auf jeden Fall hinein passen.

Matteo musterte sich im Spiegel. Was für ein Idiot er doch war. Er trug noch immer die Uniform der Gefängnisanstalt. Nach all den Wochen hatte er gar nicht mehr darüber nachgedacht, dass man ihn so als ehemaligen Häftling erkannte. Er schlug sich selbst gegen die Stirn und schüttelte, aufgrund seiner eigenen Blödheit, kurz den Kopf. Nachdem er den Kindern erklärt hatte, dass er sie nun mit auf eine sichere Insel nehmen würde und sie nicht protestiert hatten, konnte er sich schon denken, dass die Kinder bereits wussten was mit ihren Eltern passiert war. Er empfand tiefstes Mitleid mit den Kindern und dachte an die vielen anderen Opfer dieser Katastrophe. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er zu hundert Prozent, dass er das Richtige tat.

Matteo wickelte jedes der Kinder zusätzlich in eine Decke und bettete sie in jeweils einen der Rucksäcke, in die er zwei Löcher für ihre Beine geschnitten hatte. Er bläute ihnen ein, wegen der Monster draußen still sein zu müssen und erntete endlich eine Reaktion. Beide nickten stumm und legten einen sorgenvollen Blick auf. Keiner der Zwillinge konnte stehen, aber der Junge schien ihm ein wenig kräftiger zu sein und so nahm er ihn auf den Rücken. Den Rucksack mit seiner Schwester band er sich wie einen Babycarrier um den Bauch. So konnte er sie gleichzeitig tragen und verteidigen.

Wieder betrachtete sich Matteo im Spiegel. Die Zwillinge erschraken sich beim Anblick ihrer selbst und schlossen schnell die Augen. Matteo kam sich dämlich vor. Wie eine Kreuzung aus übergroßem Babysitter und einem Neandertaler. Der buschige Ziegenbart kam ihm mittlerweile unpassend vor und musste ab, sobald er wieder auf der Insel war und sich waschen konnte. An den Geruch der Leichen in der Wohnung hatte er sich mittlerweile erstaunlicherweise gewöhnt. An die Ausdünstungen seines eigenen Körpers jedoch nicht.

„So ihr beiden. Ab jetzt keinen Mucks“, flüsterte Matteo, mehr in der Absicht, seine eigene Stimme zur Beruhigung zu hören, als den beiden stummen Kindern ihren ohnehin nicht vorhandenen Lärm zu untersagen.

Er zog seine Machete und lauschte an der Wohnungstür. Als nichts zu hören war, öffnete er sie langsam und ließ den Labrador hinaus, da er seine Nase bereits durch den Spalt gesteckt hatte, bevor die Tür ganz geöffnet war. Matteo war das ganz Recht, denn so kam er wieder in den Genuss seines vierbeinigen Frühwarnsensors. Das Licht aus dem Hauseingang beleuchtete den vorderen Teil des Flurs und so konnte Matteo die Hundesilhouette den Gang entlang laufen sehen. Zum Glück war es der einzige Umriss, den er wahrnehmen konnte. Er folgte ihm. Die Kinder rührten sich kein Stück in ihren Tragegestellen und waren totenstill.

Matteo spähte am Türrahmen vorbei und hinaus auf den Innenhof. Innerhalb der letzten Stunden hatte sich nichts an der Situation im Innenhof geändert. Der einzige Unterschied war, dass einige der Untoten wieder in ihre Richtung sahen. Matteo sah sich im Vorraum des Eingangs um und entdeckte eine leere Bierflasche auf dem großen Briefkastensystem. Er griff nach ihr.

Matteo hoffte inständig, dass die Kreaturen kein Erinnerungsvermögen besaßen und feuerte die Flasche mit Wucht gegen die gegenüberliegende Hausseite. Er sah mit an, wie die Flasche lautstark an der Fassade zerschellte und die infizierten Monster ihre Köpfe langsam drehten. Matteo nutzte erneut die Gelegenheit und spurtete die Treppen hinunter und dem Müllverschlag entgegen. Das zusätzliche Gewicht der Kinder machte ihm plötzlich arge Mühe und so begann er zu straucheln, als er an der Rückwand des Müllhäuschens in die Hocke ging und dagegen stieß.

Er sah wieder durch die Latten und spürte Erleichterung, als er keinen Untoten in seine Richtung laufen sah. Der kurze Lärm hatte keinen von Ihnen angelockt, aber die beiden Kinder hatten Angst, denn ihr Griff wurde enger und Matteo spürte ihre Furcht, obwohl sie nur wenig Kraft hatten.

Die beiden wurden kräftig durchgeschüttelt und der Junge gab plötzlich röchelnde Laute von sich. Matteo spürte, was gleich kommen würde, konnte dem Jungen auf seinem Rücken aber nicht schnell genug den Mund zuhalten, wie es nötig war. Der Körper des Jungen begann zu beben, als er versuchte, seinen Husten zu unterdrücken, schaffte es aber nicht und keuchte plötzlich lauter, als es Matteo für möglich gehalten hatte.

Er rannte in der Hocke los. So schnell er konnte. Die Reaktion erfolgte prompt. Wildes Stöhnen und Grunzen kam ihm aus dem Innenhof entgegen. Sie kamen. Matteos Puls beschleunigte sich. Auf dem kurzen Weg zum Ende der Müllhäuschen versuchte er fieberhaft eine Lösung für das Problem zu finden. Er hatte gerade das Letzte der Häuschen erreicht und kauerte sich dagegen, da sah er durch die Latten der Rückwand, wie einige Untote bereits an dessen Vorderseite standen.

„Verdammte Scheiße!“, dachte Matteo im Bewusstsein, dass er sie aus dem Weg räumen musste, um an ihnen vorbei zu kommen. Er zog seine Beretta, spürte aber plötzlich wie der Labrador an ihm vorbeistürmte. Er stand auf einmal mitten im Innenhof und bellte. Matteo konnte sich denken, was der Hund vorhatte, wollte es aber nicht wahrhaben. Das war sein Ende, dachte er und bewunderte den mutigen Hund erneut für seine Kühnheit.

Solange er die Untoten abgelenkte, durfte er keine Sekunde verlieren. Matteo sah sich um und beobachtete, wie die Untoten den armen Köter einkreisten. Dann rannte er geduckt über die Straße und hechtete durch die Hecke des kleinen Parks, da hörte er aus dem Hintergrund schon das tiefe und kämpferische Brüllen, dass ihn beinahe an das eines Löwen erinnerte. Was folgte, ging ihm durch Mark und Bein. Die Untoten fielen über den Labrador her und aus seinem Brüllen wurde ein heiseres Winseln, dass kaum ein Ende zu finden schien. Die beiden Kinder klammerten sich so fest an Matteos Hals, dass er ihr Schlucken spüren konnte. Sie weinten und Matteo fühlte, wie der Verlust dieses selbstlosen Tieres auch an ihm nagte.

Matteo schlich den Park exakt so zurück, wie ihn der Hund hindurch geführt hatte. Ohne die Spürnase war ihm die verwinkelte Altstadt, vor dessen Toren er nun stand, jedoch zu gefährlich. Auf der linken Seite entdeckte er eine Straße, die breit genug war, um sie an der Altstadt vorbei führen zu können. Erst, als er sich sicher war, die Himmelsrichtung zum Meer und somit zur Fortuna bestimmt zu haben, betrat er die breite Straße. An dem vielen Müll, der überall herumlag, störte er sich schon nicht mehr. Die Stadt war einfach durch und durch verwüstet. Matteo stellte sich vor, wie in einigen Jahren Pflanzen und wild wucherndes Unkraut durch das Pflaster der Straße brechen würde. Die Natur holte sich ihr Revier zurück. Früher oder später. Matteo hatte die Pistole wieder in ihrem Halfter verstaut und bewaffnete sich mit der Machete. Im Nahkampf fühlte er sich mit ihr sicherer.

Zu Matteos Linken reckte sich ein historisches Bankgebäude der Sparda Italia in den Himmel. Heller Granit, verarbeitet zu massiven Säulen, versuchte die Unvergänglichkeit der Bank zu unterstreichen. Ohne Erfolg. Die neue Währung hieß mittlerweile Nahrung und Munition.

Obwohl Matteo den Hund erst einige Stunden kannte, vermisste er ihn. Trotz der Zwillinge fühlte er sich allein. Der Hund hatte ihm dank seiner guten Nase immerhin ein vages Gefühl der Sicherheit geben können. Nun war er wieder auf sich selbst gestellt.

Er hatte die Straße fast hinter sich gebracht, da sah er zwei Köpfe aus einem roten Opel Astra herauswachsen. Matteo sah noch einmal genauer hin. Die beiden Untote standen auf dem Gehweg hinter dem Wagen auf der gegenüberliegenden Seite. Er reagierte zu langsam, denn er hätte sofort in Deckung gehen müssen. Sie sahen ihn und humpelten los. Die Zwillinge waren aufmerksam und klammerten sich wieder instinktiv fester an Matteos Körper, der die Straßenseite wechselte und in Kampfstellung ging.

„Kommt nur her ihr Ratten. Ihr beiden bekommt meine Klinge zu spüren!“

Die Untoten waren eher langsam. Dem Hinteren der beiden fehlte der rechte Unterarm und der Vordere humpelte auf einem fußlosen Stumpf. Matteo war mehr als bereit für die zwei. Als er die Untoten bis auf drei Meter an ihn herangelassen hatte, sprang er mit einem kurzen Satz nach vorn und spaltete den Schädel des ersten Untoten mit einem schnellen Hieb durch sein Gesicht. Der Knochen gab sofort nach und die Fratze der Kreatur, wandelte sich zu einer offenen Wunde, aus der braune Hirnmasse quoll. Der schlaffe Körper fiel Matteo vor die Füße, und das hintere Monster schwang seinen Armstumpf mit einmal Mal so aggressiv, als würde ihm gleich eine neue Hand daraus erwachsen, mit der er auf Matteo losgehen konnte. Stattdessen stolperte er über seinen gesichtslosen Kumpel und gab Matteo die Chance, ihn mit einem gezielten Schlag zu enthaupten, als er mit gebeugtem Oberkörper nach vorn strauchelte. Sein Kopf knallte auf den Boden und rollte unter einen alten Fiat Punto.

Obwohl das Mädchen nichts davon zu sehen bekam, zerrte es an Matteos grauem Kragen. Sie konnte sich kaum beruhigen, da hörte Matteo plötzlich den hohlen Klang einer Glasflasche, die über die Straße rollte. Blitzartig drehte er sich um und sah einer Menge weiterer Infizierter entgegen, die ihn in einer fast menschlichen Geschwindigkeit verfolgten.

Matteo war mit den beiden anderen so beschäftigt, dass er nichts hinter sich wahrgenommen hatte. Er reagierte sofort, denn die Untoten hatten höchstens noch zehn Meter Abstand auf ihn und die Kinder. Er rannte wie von der Tarantel gestochen los. Die beiden Zwillinge wippten in ihren Rucksäcken wild auf und ab. Matteo versuchte, sie ein wenig zu stabilisieren, indem er ihnen mit den Armen Halt gab. Das behinderte ihn aber beim Rennen und so verließ er sich darauf, dass sie sich so gut festhielten wie sie nur konnten. Mit den Kindern als Ballast brachte er kaum Distanz zwischen sich und die Angreifer. Sie humpelten beinahe so schnell wie ein normaler Jogger lief.

Matteo konnte die hastigen und abgehackten Bewegungen in seinen Augenwinkeln sehen und beschleunigte seinen Schritt noch ein wenig mehr. Das Pack grunzte lustvoll. Es hatte seine Mahlzeit gefunden und würde sich nicht mehr davon abbringen lassen.

Nach etwa drei Minuten hatte er die erste Straße hinter sich gelassen und näherte sich einer kleinen Kreuzung. Matteo war bereits völlig außer Atem. Die beiden Kinder wogen zusammen vielleicht zwanzig Kilogramm, brachten ihn damit aber bereits ans Äußerste seiner Belastungsgrenze.

Ein frischer Schub Adrenalin peitschte durch seinen Körper, als er mitansehen konnte, wie aus der rechten Straße eine weitere große Gruppe Untoter kam. Matteo fühlte sich, als wäre die halbe Stadt hinter ihm her und verlor vollends die Zuversicht, als sich nun auch eine Vierergruppe von vorn näherte.

Er war sich sicher, die rechte Straße nehmen zu müssen, um zum Meer zu gelangen, entschied sich aber für die kleinere Vierergruppe vor ihm. Als er die Kreuzung überquerte, verlangsamte er seinen Schritt ein wenig, um zu Atem zu kommen und um seine Machete gegen die Pistole zu tauschen. Er hielt die Luft an und gab im Trab, auf jeden einzelnen der vier, einen gezielten Schuss ab. Zwei der Untoten gingen zu Boden, die beiden anderen ruderten dafür noch wütender mit den Armen als zuvor. Matteo blieb nun stehen und konzentrierte sich. Er war nur drei Meter entfernt und gab zwei weitere Schüsse ab. Einer davon traf den linken der Beiden so genau an der Stirn, dass Matteo sah wie die vordere Schädeldecke aufplatzte und verflüssigte Hirnmasse von sich gab. Der andere Untote wurde vom Einschlag der Kugel zumindest umgerissen und versuchte irritiert, sich wieder aufzurappeln. Die Aktion hatte Matteo viele wertvolle Sekunden gekostet. Seine Verfolger grunzten mittlerweile in einer Entfernung von höchstens zehn Metern hinter ihm.

Matteo war am Ende. Sein Puls raste und er konnte den Sauerstoff kaum so schnell einsaugen, wie seine Lunge nach ihm verlangte. Der Weg war nun erst einmal frei, aber Matteo hatte vermutlich noch ein langes Stück vor sich, da er die Gegend nicht einmal ansatzweise wiedererkannte und vermutlich einen Umweg lief. Lange würde er dieses Tempo nicht durchhalten können. Er fluchte über seine erbärmliche Kondition und versuchte sich zusammenzureißen, indem er kontrollierter atmete. Zweimal aus. Einmal ein. Zweimal aus. Einmal ein. Er fand seinen Rhythmus wieder und wurde zumindest nicht mehr langsamer. Die penetranten Grunz- und Stöhnlaute hinter ihm, machten ihn fast irre.

Dann sah er sie. Die Hauptstraße. Zwar noch einige hundert Meter entfernt, aber er erkannte sie wieder.

„Du packst das Matteo. Streng dich an“, motivierte er sich selbst.

Dabei quälte ihn schon ein übles Seitenstechen und er hörte seinen Atem pfeifen. Vor ihm tauchten immer wieder einzelne Untote auf. Er kam an ihnen vorbei, indem er die Straßenseite rechtzeitig wechselte. Matteo blickte zurück und sah in die irre Traube, der sich vor Fleischeslust verzehrenden Körper. Ekel stieg in ihm auf und er hätte sich vor Erschöpfung am liebsten übergeben. Das Ende der Straße war fast erreicht, denn er erkannte die Betonabgrenzung der Uferpromenade wieder. Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, einfach ins Wasser zu springen und zum Boot zu schwimmen, aber mit den Kindern und seiner körperlichen Verfassung würden sie vermutlich einfach ertrinken. Außerdem würden die Untoten nicht von ihm ablassen. Sie würden ihn am Ufer verfolgen und jede Möglichkeit an Land zu gehen, vereiteln.

Er bog nach rechts auf die Hauptstraße ab und konnte kaum glauben, dass die beiden riesigen Steintore, die die Nähe zur Akademie bedeuteten, doch noch in so weiter Ferne lagen. Matteo pumpte und konnte spüren, wie er mit jedem Meter ein kleines Stück langsamer wurde. Ganz im Gegensatz zu der Horde hinter ihm. Schweiß brannte in seinen Augen und seine Eingeweide zogen sich vor Schmerz bei jedem zweiten Schritt zusammen. Die Last der Kinder wurde immer unerträglicher und das Laktat in seinen Oberschenkeln ließ sie brennen wie Feuer.

In dieser Verfassung konnte er es nicht riskieren, einfach ins Meer zu springen um der Horde zu entkommen. So erschöpft wie er war, würde er von der Brandung einfach verschluckt werden. Er musste es unbedingt bis zur Akademie schaffen. Die Untoten waren bis auf fünf Meter an ihn herangekommen. Beinahe konnte er spüren, wie sie ihre Klauen in seinen Nacken schlugen. Das Gefühl ließ ihn erzittern und versetzte ihm einen letzten kleinen Adrenalinschub. Plötzlich stolperte Matteo vor Erschöpfung über seinen eigenen Fuß. Er strauchelte, gewann aber im letzten Moment das Gleichgewicht zurück. Nun fühlte er, dass er es doch nicht schaffen würde. Sein Körper drohte jeden Moment zu versagen.

„Scheiße verdammt!“, schrie Matteo aus Enttäuschung über sich selbst.

Plötzlich hörte er einen Schuss und spürte, wie eine Kugel in einiger Entfernung an ihm vorbeisauste. Erstaunt hob er den Kopf und erkannte eine Gestalt, die ein paar Meter vor ihm stand und aus dem linken der beiden Steintore herausgetreten war. Sie feuerte weitere Kugeln in die Menge hinter Matteo. Es war Sekou. Wie ein Staffelläufer holte er Matteo ein und nahm ihm das Mädchen ab.

„Mann, Sekou. Das wird verdammt nochmal Zeit.“

„Spar dir deine Kraft und renne. Mein Boot steht neben deinem! Nur noch ein paar Meter.“

Die knapp zehn Kilo weniger, die ihn nun nicht mehr nach unten zogen, verlängerten Matteos Reserven ungemein. Schon der Anblick Sekous bescherte ihm neuen Mut und Zuversicht. Es gelang ihnen tatsächlich, wieder ein paar Meter auf die Horde gut zu machen. Sie liefen bereits am Zaun der Akademie entlang und passierten kurz darauf das Pförtnerhäuschen.

Die beiden Männer hatten es fast geschafft. Sie rannten am beeindruckenden Gebäude der Akademie entlang und Matteo konnte die Fortuna bereits in greifbarer Nähe erahnen. Mit einer dunklen Vorahnung tastete er nach dem Bootsschlüssel in seiner Hosentasche. Das feste Metall fühlte sich an wie ein Triumph.

Matteo machte sich für die letzten Meter bereit. Die Untoten stolperten gerade ums Eck der Akademie und würden den Anlegeplatz ebenfalls in wenigen Sekunden erreichen. Sekou hatte ein wenig Vorsprung und sprang bereits auf das Polizeiboot, mit dem er gekommen war. Matteo sammelte seine letzte Kraft und überwand den Spalt zwischen Boot und Beton ebenfalls mit einem kleinen Sprung. Ihm fehlte im Gegensatz zu Sekou aber die Kraft bei der Landung und so wäre er beinahe ausgerutscht. Er fand Halt an der Reling und zog sich in die Kabine. Sekou hatte schon abgelegt. Matteo konnte den Motor seines Bootes hören.

Matteo stellte gerade den Motor an, da sah er von der offenen Fahrerkabine aus, wie die Untoten zur Fortuna stürmten. Die erste Kreatur stolperte bereits ins Wasser und brach sich das Genick, als sie am Rumpf des Bootes aufschlug. Das Boot war noch immer am Ufer festgemacht. Die nächsten Untoten erreichten ihr Ziel ebenfalls. Zu Matteos Glück, versuchten sie nicht zu springen, sondern rannten einfach über den Rand des Beckens hinaus und prallten ebenfalls an den Rumpf der Fortuna, der aufgrund der Kollision zu schwanken begann.

Matteo zog seine Machete, lehnte sich aus der Fahrerkabine und schlug das Anlegetau in zwei Hälften. Er hatte so viel Schwung, dass die Klinge im Fieberglas des Rumpfes stecken blieb. Er erwischte gerade den richtigen Moment, denn der Rest der Untoten erreichte nun ebenfalls die Fortuna und quoll dem Boot entgegen. Das Gewicht der Menge drückte den Rumpf hinauf aufs Meer. Bis auf zwei Ausnahmen rutschte die Masse der Verfolger ins Meer. Matteo gab zwei Schüsse auf sie ab und legte hastig den Rückwärtsgang ein. Dann gab er Gas und steuerte das Boot aus der Bucht. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, konnte er wieder durchatmen. Sein entkräfteter Körper ließ ihn auflachen wie einen überdrehten Teenager, dann ließ er sich auf den Kapitänshocker sinken und kümmerte sich um den Jungen. Er klammerte so sehr, dass er Schwierigkeiten hatte, den Rucksack abzunehmen. Mit sanfter Gewalt schaffte er es dann doch. Matteo legte den Jungen auf die gepolsterte Beifahrerbank und streichelte ihm über den Kopf. Matteo erkannte Dankbarkeit in seinen Augen.