Kapitel 4

Rache

Stefan hatte schon immer leichte Schwierigkeiten damit, sich zu beherrschen. Helge und Liz standen im hinteren Bereich des verwahrlosten Wohnwagens und sahen tatenlos zu. Dieses Mal klatschte es nicht nur, denn Stefan fühlte das Blut, dass ihm gerade an die Stirn gespritzt war. Nur noch einmal, dachte er sich. Er konnte einfach nicht anders. Wieder erschien die brennende Silhouette von Martys Leiche vor seinen Augen und er holte erneut aus. Der Wichser hatte es halt einfach verdient. Seine Schläfe pochte vor Wut und er schlug Rich mit der Faust und voller Wucht gegen den Kiefer. Diesmal war es zu fest. Er spürte, wie er nachgab und sah, wie Zähne durch die Luft flogen, als er im selben Moment auch das entsprechende Knacken des Knochens hörte. Rich wurde wieder ohnmächtig. Ein klassischer Knock-Out.

„Scheiße Mann, jetzt lass mal gut sein. Das geht schon seit einer halben Stunde so“, brüllte Helge, der selber nicht gerade zart besaitet war, aber trotzdem langsam genug hatte.

Stefan beruhigte sich allmählich wieder, was aber allein daran lag, dass er keine Kraft mehr in den Muskeln hatte. Er taumelte zurück, ließ sich auf die Ecke der Sitzbank fallen und betrachtete sein blutiges Werk. Die große Kerze auf dem Tisch wackelte, als er gegen sie stieß und tauchte den kleinen Raum in ein flackerndes Licht. Schatten tanzten wild auf und ab.

Rich saß noch immer mit gefesselten Füssen auf dem Boden des Wohnmobils. Seine Arme waren mit Plüschhandschellen hinter dem Rücken festgemacht. Ein am Bett festgezurrtes Seil sicherte die Handschellen und hinderten Rich daran, zu entkommen. Sein Kopf war nach unten gesackt und der Mund stand weit offen, weil sein Kiefer merkwürdig nach rechts gebogen war. Blut und Spucke liefen unaufhörlich an seinem Kinn hinab und färbten seinen grauen Pullover an den Stellen, wo Flüssigkeit den Stoff berührte, dunkel.

„Da hast du echt ganze Arbeit geleistet, Stefan. Hätte nicht gedacht, dass du dünner Hering so hart zuschlagen kannst“, stellte Helge fest und setzte sich ihm gegenüber auf die andere Seite der Eckbank.

„Er hat jeden einzelnen Schlag verdient, das weißt du genauso gut, wie ich.“

„Das will ich nicht abstreiten, aber warum erschießen wir ihn denn nicht einfach?“

„Erschießen? Frag doch mal Liz, was er und seine Kumpels mit ihr angestellt haben, bis Marty und ich aufgetaucht sind.“

„Genug jetzt, verdammt“, keifte Liz, die mit der Situation überfordert war und plötzlich hinausging.

„Stefan, pass einfach nur auf, dass du nicht noch mehr zum Tier wirst. Es wäre schade drum. Es ist eine Sache, was du mit den Infizierten da draußen anstellst, aber eine andere, was du einem Menschen antust.“

„Einem Menschen? Helge, das sehe ich irgendwie anders. Die Dinger da draußen folgen einfach ihrem Trieb. Aber dieses Etwas hier ist einfach nur böse und sadistisch. Aber ich will mich mit dir nicht streiten. Wir überlegen morgen gemeinsam, was wir mit ihm anstellen. Solange lassen wir ihn hier schmoren. Vielleicht erstickt der Pisser ja über Nacht an seinem eigenen Sabber. Dann erledigt sich das von allein.“

„Warten wir es ab. Ich lass mich gern davon überraschen, dass du morgen wieder zu Sinnen gekommen bist.“

Stefan sah in den Schein der Kerze. Es war schon spät.

„Ich bin nicht stolz darauf Helge, aber ich kann nicht anders. Er muss dafür büßen, was er Marty und Liz angetan hat. Wenn sie dir mal erzählt, was vorgefallen ist, wirst du mich nicht mehr dafür verabscheuen.“

„Weder verabscheue ich dich, Stefan, noch verurteile ich dich dafür, was du mit ihm angestellt hast. Ich wundere mich nur ein wenig darüber, wie schnell du deine Skrupel bei all der Scheiße hier verloren hast.“

Stefan ließ die Worte sacken. Er wusste dass Helge Recht hatte, aber die Erinnerung an Marty übermannte ihn einfach. Er sah an Helge vorbei und betrachtete erneut Rich, dessen Gesicht langsam völlig zu schwoll.

„Wer hätte gedacht, dass unsere größten Feinde nicht die Untoten, sondern die Lebenden sein würden und die größte Herausforderung darin besteht, ein Mensch zu bleiben?“, sagte Stefan mehr zu sich selbst, als zu Helge.

„Wahre Worte, du Philosoph. Darum lass uns versuchen, halbwegs menschlich zu bleiben und genug Schlaf zu bekommen“, erwiderte Helge, der dabei auf die Martys Uhr blickte, die Stefan an sich genommen hatte. „Es ist schon nach zwölf. Lass uns gehen. Wir sollten Liz nicht allein da draußen herumlaufen lassen.“


***

Er fühlte ein Pochen. Was in aller Welt pochte da so vehement, fragte sich Rich. Da begann er sich zu erinnern und mit jeder Erinnerung kam ein weiterer stechender Schmerz hinzu. Er versuchte die Augen zu öffnen, schaffte es aber nicht. Dann merkte er, dass sie bereits offen standen, aber er nur durch zwei Schlitze sehen konnte und es zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Sein Kopf fühlte sich schwer und aufgedunsen an. Jeder Gesichtsmuskel, den er versuchte zu bewegen, erzeugte Druck auf andere Bereiche, sowie einen fiesen pochenden Schmerz. Er wollte seinen Kopf betasten, um herauszufinden, was alles kaputt war, doch dann stellte er fest, dass er seine Arme nicht spüren konnte. Panik stieg in ihm auf, als er kurzzeitig dachte, sie seien nicht mehr da. Er wand sich und zog an ihnen. Plötzlich fühlte er ein Kribbeln in den Schultern, das sich schmerzhaft in die Arme übertrug. Wie ein Blitz traf ihn das Bild und ihm fiel ein, wie sie ihm die Handschellen angelegt hatten. Langsam beruhigte er sich wieder. Doch dieses Kribbeln wurde immer schlimmer und so wünschte er sich, die Arme wären tatsächlich nicht mehr da. Nachdem er sich minutenlang ruhig verhalten hatte, gaben sich seine Arme wieder ihrer Taubheit hin, was auch nicht angenehm war, aber immerhin auszuhalten.

Aus diesem ganzen Schmerzorchester stach einer ganz besonders hervor. Sein Mund. Rich betastete mit der Zunge erst die Obere, dann die untere Zahnreihe. Er bemerkte drei große Löcher auf der unteren rechten Seite. Als er mit der Zunge in eine der neuen Kuhlen fuhr, berührte er aus Versehen den blanken Nerv des zugehörigen Zahns und zuckte zusammen. Ihm wurde kurzzeitig noch schwärzer vor Augen und er konnte die Tränen nun nicht mehr unterdrücken. Sie liefen ihm die geschwollenen Wangen hinab. Er dachte an den verfluchten Bastard, der ihm das angetan hatte. Er musste sich anstrengen, um seinen Speichelfluss in den Griff zu bekommen, aber er schaffte es einfach nicht, den Kiefer in seine gewohnte Position zu zwingen. Hatte er das wirklich verdient? Rich war sich nicht sicher, denn in seinen Augen ist der Überfall nur ausgleichende Gerechtigkeit gewesen.


***

Der verhangene Himmel ließ keinen einzigen wärmenden Sonnenstrahl auf die gefrorene Schneedecke fallen. Im Gegenteil. Es schneite seit Tagen dicke Flocken. Der Winter war angekommen. Liz und Helge saßen am Kamin im Restaurant des Campingplatzes. Stefan hatte seinen Platz auf einem Hocker an der Bar des Restaurants gefunden und nippte an seinem Whiskey.

Die Flasche Jameson war schon halb leer und er hatte nicht vor aufzustehen, bis sie ganz leer war. Martys Tod hatte ihn so hart getroffen wie der Frontalunfall mit einem dreieinhalb Tonner. Er wollte nicht in Selbstmitleid versinken, aber im Suff war es so viel einfacher zu ertragen und da er sich mit nichts ablenken konnte, blieb ihm auch nicht viel anderes übrig. Der letzte große Schluck Whiskey brannte in seinem Rachen und sein Kopf fühlte sich nicht mehr so leicht an, wie nach den ersten drei Gläsern. Er war schon ziemlich voll, schenkte sich aber erneut ein Glas ein. Eigentlich hasste er Whiskey, aber Marty hatte ihn so oft genötigt, welchen zu bestellen, dass er sich daran gewöhnt hatte. Mal Powers, mal Jameson. Er dachte an die verlotterte Bedienung im Classic Rock Café, die irgendwann immer nur noch gefragt hatte, welchen von den beiden es denn diesmal sein dürfte. Marty trank ihn auf Eis, Stefan immer pur, weil es dann schneller vorbei war. Er erinnerte sich an diese Abende ungern zurück, konnte es aber nicht vermeiden. Die Vergangenheit loderte geradezu in ihm auf.

Er stützte seinen Kopf mit der Hand und schwenkte den Whiskey im Glas. Was wollte er eigentlich? In schmerzhaften Erinnerungen schwelgen, oder verdrängen? Er wusste es nicht und konnte sich auch nicht entscheiden. Jeder Gedanke an Marty, brachte ebenso viele Bilder der ehemals heilen Welt hervor, die Stefan so tief in seinem Unterbewusstsein vergraben hatte, wie er nur konnte. Martin war besser mit der neuen Welt klargekommen, als er. Sie hatten nie direkt darüber gesprochen, aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er dem Alltagstod nicht so sehr hinterher getrauert hatte, wie er selbst. Stefans Kopf glitt von seiner Hand und wäre beinahe auf den Rand des Glases aufgeschlagen, hätte er nicht in letzter Sekunde einen klaren Gedanken fassen können.

„Er hat langsam echt genug“, bemerkte Liz, als sie beobachtete, wie Stefan versuchte, sich auf dem Hocker zu halten.

„Lass ihn einfach. Das gehört dazu.“

„Ja stimmt, ich vergaß. Du kennst dich ja aus. Wie lange hast du dir die Birne weg geschossen, bis wir hier aufgetaucht sind?“

Helge sah sie verärgert an. Es stimmte ja. Er hatte sich wirklich wochenlang die Birne zu gesoffen. Wollte seinem Dasein ein Ende bereiten.

„Ihr habt mir Hoffnung gegeben. Das Problem hat Stefan nicht, weil er nicht allein ist. Wir müssen jetzt für ihn da sein, wenn er seinen Schmerz bekämpft hat. Wie auch immer er das zu tun gedenkt.“

„Sorry, mir will nur nicht in den Kopf, wieso Männer ihren Schmerz immer wegsaufen müssen“, bemerkte Liz, die versuchte die Wogen wieder zu glätten. Liz mochte Helge sehr und war froh über seine Anwesenheit. Sie hatte ganz vergessen, wie schwer es gewesen sein musste, den Anfang wochenlang allein zu überstehen.

„Pragmatismus? Ist halt herrlich einfach. Flasche auf, rein in den Schädel und gut ist. Und am nächsten Morgen, hast du so heftige körperliche Schmerzen, dass du dich einen Scheiß um deine eigentlichen Sorgen kümmern kannst“, brummte er in seinen schon teilweise ergrauten Vollbart. „Mal was anderes. Was stellen wir mit Rich an? Wenn du meine Meinung hören willst, dann sollten wir ihn endlich beseitigen! Seit wann bin eigentlich ich hier der Vernünftige, verdammt?“

„Helge hat Recht, Liz“, lallte Stefan, der sich mit seinem Hocker zu ihnen gedreht hatte. „Er hat genug gelitten. Der ist so ausgehungert und verdorrt, der merkt den Schuss ja kaum noch.“

Liz sah zu Stefan herüber und wunderte sich, dass er überhaupt noch klare Sätze herausbringen konnte.

„Nein!“, schoss es aus ihr heraus. Sie legte die braune Tagesdecke zur Seite und stand auf. „Ich habe eine bessere Idee.“

Sie verschwand in der Küche. Helge und Stefan sahen ihr hinterher. Ihre langen dunkelblonden Haare wogen im Wind, den sie beim Gehen erzeugte. Selbst mit seinem eingeschränkten Sichtfeld konnte Stefan noch verstehen, dass sich Marty in sie verliebt hatte. Er hatte es ihm nie verraten, aber Stefan konnte es ihm jede Sekunde ansehen.

„Was hat sie vor?“

„Was weiß ich, Helge“, nuschelte Stefan und machte eine viel zu ausladende Handbewegung, die ihn fast die Balance verlieren ließ.

Minutenlang konnten sie Liz mit Töpfen und Geschirr scheppern hören und wunderten sich erneut, als sie wieder mit einem Topf aus der Küche kam.

„Will sie ihn jetzt durchfüttern? Ist die durchgeknallt?“, fragte Stefan lallend.

„Kommt mit!“, rief Liz ihnen entgegen.

Helge schnappte sich Stefans und seine Waffe. Die beiden gingen hinter Liz her. Sie lief zum Wohnwagen. Stefan konnte sich bemerkenswert gut halten und schwankte nur leicht. Stefan sprang zur Tür des Wohnwagens und stellte sich theatralisch daneben. Dann tat er mit seinen Händen so, als würde er eine Pistole halten. Wie dutzendfach geübt, zog er sie anschließend für Helge auf, der mit richtiger vorgehaltener Waffe als erster hinein lief.

Liz stand mit ihrem Topf mitten im Wagen und sah zu Rich.

„Was, verdammt noch mal, hast du vor?“, fragte Helge.

„Ich will nicht, dass er schon stirbt. Der soll das schon noch mitbekommen. Er wird Hunger haben“, antwortete sie.

Im Wohnwagen war es nur wenige Grad wärmer als draußen. Rich saß wie ein Häufchen Elend vor dem Bett und hatte seltsam verdrehte Gliedmaße. Er musste sich beim Versuch sich loszumachen, die Schulter ausgekugelt haben. Durch die Fenster des Wohnwagens fiel diffuses Licht. Es roch streng nach Urin und Scheiße. Rich regte sich, als er die Besucher bemerkte. Ein heiseres Keuchen drang aus seinem Mund. Er nuschelte, weil sein Kiefer noch immer angeschwollen war.

„Was habt ihr mit mir vor? Erschießt mich doch einfach!“

„Ganz meine Rede“, entgegnete Helge, der mitansah, wie Liz näher zu ihm lief. „Willst du das wirklich tun, Liz? Sei vorsichtig.“

„Ja Liz, sei vorsichtig. Du weißt ja, dass ich beißen kann“, krächzte Rich, der sie bösartig musterte.

Sie trat näher mit der Schüssel an ihn heran. Liz war vorsichtig, zuckte aber trotzdem zusammen, als Rich sich ruckartig bewegte. Mit schmerzerfülltem Gesicht sah er davon ab, noch mehr Unruhe zu stiften, als er begriff, was in der Schüssel war.

„Warum tust du das?“, fragte er Liz, die näher kam und den Löffel in den Eintopf tauchte.

„Stell dir einfach vor, dass wir dein Leid noch ein wenig verlängern wollen.“

Beim Anblick des vollen Löffels wäre Rich am liebsten über die gesamte Schüssel hergefallen. Der Durst, den er hatte, brachte ihn die letzten Nächte schier um den Verstand und sein Magen fühlte sich an, als hätte er wochenlang trockene Erde zu fressen bekommen. Er hatte so einen unfassbaren Hunger, dass er sich nur über seinen Körper wundern konnte, der noch immer dazu fähig war, Speichel zu produzieren

„Bitte“, flehte er und schnappte nach Liz Hand, die damit begann, ihn zu füttern.

„Du bist doch völlig durchgeknallt, Liz“, stellte Stefan fest. „Gestern hatten wir uns noch darüber unterhalten, dass wir ihn beseitigen und nun fütterst du ihn mit unserem Eintopf.“

Liz legte die leere Schüssel neben Rich und stand wieder auf.

„Nein, verrückt bin ich nicht, und das war auch nicht unser Eintopf. Es war seiner. Ich will sehen, wie er sich in einen von ihnen verwandelt.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Worte ihre Wirkung entfaltet hatten. Rich machte auf einmal große Augen.

„Das ist nicht wahr! Du verfluchte Hure!“, brüllte er mit entgleisten Gesichtszügen.

„Doch“, sagte Liz ruhig. „Jetzt bekommst du, was du verdienst. Das ist mein Geschenk an dich, du Bastard. Es ist von meiner Schwester, meinen Eltern und letzten Endes auch von Marty. Von uns, an dich.“

„Du Hure! Du scheiß Schlampe!“, schrie Rich wie von Sinnen.

Stefan wurde von der einen auf die andere Sekunde wieder nüchtern und stand mit offenem Mund da. Er sah zu Helge hinüber.

„So ein abgefuckter Scheiß. Das wäre nicht einmal Marty eingefallen. Krass, Mann.“

Helge schüttelte nur den Kopf.

„Beruhigt euch. Jetzt sehen wir wenigstens mal, wie sich jemand in einen Untoten verwandelt. Danach darfst du ihn gern abknallen, Helge.“

Rich begann zu würgen. Er strengte sich an wie ein Tier, das sich verschluckt hatte, und nicht fähig war, sich selbst in den Hals zu fassen. Er stöhnte und grunzte, schließlich erbrach er den gesamten Eintopf in seinen Schritt. Liz begann zu Grinsen.

„Ich fürchte, das wird schon zu spät sein, Rich. In dem Topf war schon einiges an Blut. Aber wenn es dir Spaß macht, mach ruhig weiter damit.“

Es ging ihr tatsächlich besser. Sie war erst Anfang zwanzig, fühlte sich aber, als hätte sie bereits ihr halbes Leben hinter sich gebracht. Rich hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Immer wieder wachte sie nachts schweißgebadet auf, und konnte das Metallgitter des Hundezwingers fühlen, in den sie eingesperrt worden war. Manchmal fühlte sie tagsüber sogar seine Anwesenheit hinter sich, obwohl sie mutterseelenallein war. Das würde nun aufhören. Sie wusste es. Endlich konnte sie Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen.