Kapitel 11

Bastian

Der vorausfahrende Viano blieb mitten auf der Brücke stehen. Am hinteren Drittel des Bauwerks ragten auf jeder Seite zwei mächtige Betonstützen nach oben. An ihnen waren jeweils sieben armdicke blaue Stahlseite befestigt, die fächerförmig an der Brückenseite entlang liefen und sie stützten. Die Brücke grenzte direkt an einen kleinen Hügel und führte in einen Tunnel. Stefan hielt neben dem Mercedes und einigen Leichen, die auf dem Asphalt lagen. Er fühlte sich noch ein wenig zittrig und fummelte unsicher an den Fensterhebern herum. Eine Sekunde später glitt die Seitenscheibe wie gewünscht nach unten.

„Holla die Waldfee“, rief Helge. „Das war ja ganz schön knapp.“

Stefan verzog das Gesicht.

„Ach was, wie kommst du denn darauf? Danke auch für die Hilfe.“

Liz sah hinter Helge hervor und hob den Daumen, was Stefans Laune dann doch wieder aufhellte.

„Sorry Mann, aber ich hab nicht gepeilt, dass du nochmal aus dem Amarok steigst, um das Seil loszumachen. Aber das war echt gute Arbeit von dir!“, sagte Helge anerkennend.

„Jaja, passt schon“, meinte Stefan und genoss die Anerkennung aus vollen Zügen. „Wie geht’s jetzt weiter? Mein Navi sagt, zweiundvierzig Kilometer auf der A4 nach Wangen-Brüttisellen und dann weiter Richtung Volketswil.“

„Genau und dann nach Chur, am Walensee entlang. So kommen wir an Zürich vorbei und können auf der Autobahn bleiben. Nur in Volketswil müssen wir kurz runter.“

Stefan zoomte die Darstellung an seinem Navi heraus und verfolgte die Route. Ja, dachte er, so konnte das klappen. Nachdem Schaffhausen schon so ein Chaos war, hätte Zürich mit Sicherheit den sicheren Tod bedeutet. Er sah nach vorn und in den Tunnel hinein, der nicht allzu lang war, aber eine kleine Kurve bestritt.

„Alles klar, Helge. Lass uns weiterfahren. Fährst du voraus?“

Helge nickte und fuhr langsam als erster los. Liz sah zurück und machte sich plötzlich Sorgen um Stefan.

„Er sieht ganz schön mitgenommen aus, oder?“, bemerkte sie.

„Naja, das war ja auch gerade ganz schön hart. Ich hätte nicht so früh losfahren dürfen. Er schien noch ziemliche Probleme gehabt zu haben. Diese dämliche Improvisiererei. Du hast kaum Zeit dir einen Plan zurechtzulegen, weil du ständig Angst haben musst, dass die Dinger ums Eck biegen.“

„Helge, vielleicht hätten wir doch am Bodensee bleiben sollen. Ich mein, immerhin sind wir zu dritt und die Insel war ziemlich sicher.“

Helge bemerkte ihre traurige Stimme und konnte ahnen was mit ihr los war. In den letzten Monaten hatte sie manchmal diese Momente.

„Komm Kleine. Jetzt grüble nicht so viel. Denk einfach noch einmal daran, wie scheiße kalt der Winter war und wie viel sicherer wir auf einer richtigen Insel sind. Auf Gorgona gibt’s jede Menge hervorragenden Wein. Stell dir vor, wie wir am Strand sitzen und ne Flasche davon kippen.“

Helge beschleunigte den Wagen auf vierzig und stellte die Scheinwerfer an.

„Helge?“, fragte Liz traurig.

Er drehte sich zu ihr und bemerkte ihre feuchten Augen.

„Ich vermisse ihn auch, Liz.“

An der linken Seite des Tunnels konnte er zwei Untote stehen sehen, die sich sofort umdrehten, als sie die Wagen hörten. Sie durchquerten den Tunnel problemlos und ließen Schaffhausen damit hinter sich.

Helge fuhr nun fast hundert und schaltete in den sechsten Gang. Er kam sich alt vor als er bemerkte, dass ihm der am Armaturenbrett angebrachte Schaltknauf ganz gut gefiel. Dadurch hatte er mehr Beinfreiheit und außerdem konnte er bequemer schalten.

Die nächste halbe Stunde verlief zum Glück ereignislos und Helge bremste ab, als sich das Navi leise meldete. Er musste die Auffahrt zur A53 nehmen, die sie an Volketswil vorbei führen würde. Stefan fuhr in respektvollem Abstand hinter ihnen. Helge wusste zwar nicht wieso, aber er dachte darüber nach, wo nur all die Menschen abgeblieben waren. Wie konnte es sein, dass sie jetzt allein auf dieser Autobahn unterwegs waren? Selbst wenn das Virus neunundneunzig Prozent der Menschheit vernichtet hatte, so bedeutete dieses eine Prozent, dass noch immer Millionen von Menschen überlebt haben mussten. Liz hatte sich in ihren Sitz gekuschelt und die Augen geschlossen. Sie döste vor sich hin, während Helge den Viano in ein Industriegebiet steuerte. Auf der Autobahn war mittlerweile wieder etwas mehr los und er musste mehreren Fahrzeugen ausweichen. Auf der rechten Seite neben der Autobahn schob sich ein Flughafen in seinen Blick. Es musste ein Militärflughafen sein, da er wusste, dass Volketswil keinen eigenen Zivilflughafen besaß. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ein gutes Stück weiter vorn erkannte er den riesigen Tower. Neben der Straße führte ein hoher Maschendrahtzaun entlang, der die Autobahn vom Flughafengelände trennte. Hinter dem Zaun standen immer mehr Untote. Je weiter er fuhr, desto mehr wurden es.

„Hey Liz, zieh dir das rein.“

Verschlafen hob sie ihren Kopf und sah aus dem Fenster.

„Das ist doch nicht wahr. Verdammte Scheiße nochmal!“, stieß sie hervor.

Es waren tausende. Stefan ließ die Scheinwerfer aufleuchten. Er hatte die Menge ebenfalls gesehen.

„Was tun die nur alle hier?“, fragte Helge. „Die bemerken uns. Siehst du. Die erste Reihe am Zaun wird langsam unruhig.“

Liz sah sich das Grauen mit offenem Mund an.

„Die Leute müssen in ihrer Panik alle zum Flughafen geflüchtet sein. Anders kann ich mir das nicht erklären. Fahr schneller, wenn die da durchbrechen, sind wir platt.“

Helge beschleunigte den Wagen auf hundertzwanzig Kilometer pro Stunde. Schneller wäre Selbstmord gewesen, da zu viele Autos auf der Straße lagen. Zudem konnte er sehen, dass auf Höhe des Towers der Zaun niedergerissen war. Er näherte sich der Stelle und bemerkte, dass die Leute dort versucht hatten, mit ihren Fahrzeugen durch den Zaun zu brechen. Es war die einzige Stelle, wo es eine Unterbrechung der Leitplanken gab, weil sie aufgrund eines Unfalls erneuert werden mussten. Helge bremste wieder ab, weil sich die Fahrzeuge bis auf die rechte Spur hinaus verkeilten. Die Leute mussten regelrecht durchgedreht sein. Der einzige Vorteil war, dass die Fahrzeuge den Zaun verstopften und den Untoten hinter dem Zaun somit keine Möglichkeit gaben, ihn ohne weiteres zu überwinden. Helge stellte die Lüftung ab, weil bestialischer Gestank ins Wageninnere drang.

Liz starrte noch immer wie gefesselt hinaus und begann auf einmal zu schluchzen.

„Liz, was geht mit dir eigentlich ab? Warum bist du auf einmal so gefühlsduselig?“

„Kacke Helge, das waren einmal alles Menschen! Stell dir doch vor, was das hier für eine Panik gewesen sein musste.“

Helge schluckte. Sie hatte schon Recht damit. Aber er verdrängte das alles, indem er in den Dingern nur die fresssüchtigen Monster sah, die sie nun waren.

„Außerdem hab ich meine Tage und schieb nen Affen“, sagte sie weinerlich.

Stefan bekam von Liz Stimmungsschwankungen nichts mit und war einfach froh, dass der Zaun die Menge an wankenden Körpern davon abhielt, sich auf die Straße zu ergießen, und er den Flughafen nun endlich im Rückspiegel erkennen konnte. Die Autobahn führte ihn an Autohäusern und weiteren Fabrikhallen vorbei. Nach einigen weiteren Kilometern wurde das Industriegebiet wieder lichter und die Gegend ländlicher. Sie fuhren durch ein Waldgebiet und aus der Autobahn wurde erneut eine einspurige Landstraße.

Die Gegend war deutlich bergiger, als sie es vom eher flachen Deutschland gewohnt waren. Am Horizont ragte plötzlich ein merkwürdiger Umriss in den Himmel. Stefan konnte ihn nicht deuten, weil die Sonne zu viel Gegenlicht erzeugte. Auch im Viano hatten sie die merkwürdige Silhouette bemerkt. Helge legte den Kopf schräg, konnte sich aber dennoch keinen Reim darauf machen.

„Sieht aus wie ein Dinosaurier“, stellte Liz verwundert fest.

Das Schild, auf dem Sauriermuseum stand, brachte Licht ins Dunkel. Bei dem Dinosaurier handelte es sich um einen gigantischen Scherenschnitt, der an einer Überführung angebracht war. Sie führte die Besucher an normalen Tagen gefahrlos vom Parkplatz aus über die Straße. Vor ihnen lagen zwei riesige weiße Hallen, vollständig umgeben von Wald. Helge bremste ab und sah sich die Umgebung genau an. Vor ihnen wartete schon wieder Ärger. Beide Hallen wurden überirdisch mit einem Durchgang verbunden. An der rechten Halle hatten Arbeiter ein halbhohes Gerüst montiert und Teile der weißen Wellblechverkleidung abgenommen. Unter dem Durchgang, der ein Stück weiter hinter dem Gerüst lag, blockierte neben Autos, auch ein riesiger Armeelaster die Durchfahrt.

„Alter Verwalter, Liz, diese scheiß Straßenblockaden gehen mir dermaßen auf die Eier!“

Helge musterte die Umgebung und sah, dass Stefan direkt hinter ihnen hielt. Er stieg aus und lief zum Viano herüber. Helge öffnete ebenfalls die Tür und befahl Liz, im Wagen zu warten. Hier war es bereits ein paar Grad frischer, als am Bodensee, was daran lag, dass sie schon einige Höhenmeter hinter sich gebracht hatten.

„Da vorn ist schon wieder eine Blockade“, brummte Helge und zeigte zwischen die beiden Hallen.

„Na super“, erwiderte Stefan entnervt. „Wenn das so weiter geht, holt uns noch die Horde vom Flughafen ein. Krass, oder?“

„Ohja, ich hatte Gänsehaut von oben bis unten.“

Helge schüttelte angeekelt das Gesicht.

„Komm, sehen wir mal nach, wie wir den Weg frei bekommen.“

Die beiden tasteten sich mit ihren Waffen nach vorn. Nach einigen Schritten, erreichten sie das Gerüst und blieben stehen. Hinter dem Gerüst machte die Halle einen Knick nach rechts. Vermutlich der Eingang des Museums. Außerdem stand das Gerüst direkt auf einer Baugrube, in der Rohrarbeiten durchgeführt worden waren. Der rasche Ausbruch des Virus hatte zur Folge, dass viele Orte so aussahen, als hätte der liebe Gott einfach die Zeit angehalten. Helge lugte durch einen Spalt der abgehangenen Absperrgitter und sah auf einen runden, etwa achtzig Zentimeter dicken Abflussschacht hinab.

Die Arbeiter hatten die Absperrgitter mit kleinen Steckfundamenten platziert, die wiederum um dem Gerüst herum standen, damit niemand in die Grube fallen konnte. Außerdem nutzte die Baufirma die Absperrgitter zur Eigenwerbung. Planen mit der Aufschrift Mit Kraft am Bau – Kraftbau GmbH hingen an den Gittern.

„Kannst du das hören?“, flüsterte Helge, der plötzlich hinter einer der Planen Deckung suchte und damit beschäftigt war, schräg durch den Spalt der nächsten Absperrung zu sehen.

Aus der Seitengasse hinter dem Gerüst drang ein leises Murmeln und Scharren.

„Ja“, antwortete Stefan. „Aber das kommt nicht aus der Grube. Ich würde eher sagen, dass es aus der Gasse dahinter kommt.“

Stefan entsicherte sein Gewehr und schlich langsam zur letzten Stütze des Gerüstes. Dann kauerte er sich auf den Boden und spähte ums Eck. Was er sah überraschte ihn nicht besonders. Etwa zwanzig Untote standen vor dem großen Eingang des Museums. Links und rechts vom Eingang standen jeweils große Dinosaurieraufsteller. Der eine grün, der andere gelb. Die Untoten machten den Eindruck, als hätten sie etwas in das Gebäude verfolgt.

„Ich kann sie sehen“, flüsterte Stefan. „Vielleicht an die zwanzig, würde ich sagen. Was tun wir?“

Helge verzog das Gesicht. Eigentlich hätte er eine Pause gebraucht. Sein Magen knurrte und er wollte am liebsten ein Mittagsschläfchen mit vollem Bauch einlegen.

„Ich hätte große Lust, einfach rüber zu laufen und sie abzuknallen.“

„Genau Helge, und ich lasse mir dann wieder den Hintern von den Infizierten kraulen, die aus allen Löchern kriechen, während ich eine Lücke in die Blockade reiße.“

Helge dachte nach. Sie mussten sie weglocken, damit sie in Ruhe eines der Fahrzeuge aus dem Weg räumen konnten. Dann sah er sich die Steckfundamente der Gitter genauer an.

„Ist ja gut, Stefan. Pass auf. Wir machen das Gitter hinter und vor der Grube weg und locken die Pissnelken hier rein!“

Stefan runzelte die Stirn. Er war nicht ganz überzeugt.

„Die Dinger sind zwar blöd, aber was, wenn die einfach an der Grube vorbeilaufen?“

Helge dachte wieder nach.

„Dann blockieren wir die Lücke mit dem Viano. Das dürfte gerade so passen.“

Stefan fasste sich an den Kopf. Das war doch schon wieder so eine Schnapsidee, die sie in Schwierigkeiten bringen würde. Er grübelte, schob sich seine dunkle Brille wieder auf die Nase und kam zu der Erkenntnis, dass er auch keine bessere hatte.

„Also guuuut“, sagte Stefan genervt. „Ich räume die Gitter zur Seite. Liz fährt den Viano in die Lücke und du knallst jeden scheiß Wichser über den Haufen, der meint, näher als zwei Meter an uns heran zu kommen.“

Helge grinste, weil Stefan die Schnauze scheinbar noch voller hatte, als er selbst.

„So wird’s gemacht, Chef.“

Stefan lief zur hinteren Absperrung zurück und zog so sanft an der ersten Steckverankerung, wie er nur konnte. Das Gitter war überraschend schwer. Er ließ die andere Steckverbindung im Fundament stecken und drehte das Gitter unter leisem Ächzen des Metalls zur anderen Seite. Aus dem Augenwinkel konnte er beobachten, wie Helge mit Liz redete und sie sich auf den Fahrersitz herüber zog. Stefan nickte, als Helge den Daumen hob. Dann hörte er, wie Liz den Wagen laufen ließ. Helge postierte sich mit der Flinte wieder am vorderen Teil des Gerüsts und war bereit, Stefan Deckung zu geben.

Weil er sich nicht in die Sichtweite der Untoten begeben wollte, sah sich Stefan das vordere Gitter vom Hinteren aus an. Diesmal wollte er nichts dem Zufall überlassen. Der Rahmen des Absperrgitters war mit einer Metallschelle am Gerüst festgeschnallt. Er atmete erleichtert aus, weil er sie rechtzeitig bemerkte. Das hätte ins Auge gehen können. Durch das Zielfernrohr seines Gewehrs konnte er ebenfalls sehen, dass die Schelle ein großes Gewinde hatte, mit der man sie losdrehen konnte. Stefan lief zum wartenden Helge zurück.

„Liz muss die Lücke so eng wie möglich schließen und uns beide dabei möglichst nicht über den Haufen fahren“, bemerkte Stefan, der sich seelisch darauf vorbereitete, das vordere Gitter völlig schutzlos zu entfernen.

„Das schafft sie. Keine Angst.“

„Alles klar“, erwiderte Stefan. „Ich muss erst noch eine Schelle am Gitter lösen. Bei drei laufe ich ums Eck und du gibst mir Deckung. Die Dinger werden direkt auf mich zustürzen, wenn sie mich sehen. Schieß aber nur im Notfall. Das soll diesmal geräuschlos ablaufen“, sagte Stefan.

Helge wirkte irritiert

„Jaja, ich weiß, ICH habe vorhin geschossen. Aber ich mein ja nur“, schob Stefan hinterher und begann zu zählen.

Stefan zählte bis drei und schlich wie eine Katze vor das Gitter. Dann zog er sein Messer und setzte es an. Noch bemerkten ihn die Untoten nicht. Dann drehte er die Schraube langsam aus ihrem Gewinde. Dafür, dass das Gerüst vermutlich schon seit mehr als einem halben Jahr stand, lief die Schraube überraschend sauber. Aber sie glitt so plötzlich aus dem Gewinde, dass Stefan die Vorderseite des Scharniers gerade noch so zu greifen bekam. Das rückseitige Teil fiel jedoch mit einem lauten Pling auf den Boden und von dort aus in die Grube.

„Beeil dich, Stefan. Sie kommen!“, zischte Helge, der bemerkte hatte, wie sich einer der Toten nach dem Geräusch umdrehte und sich stöhnend in Bewegung setzte.

Stefan riss das Gerüst aus seiner Verankerung und drehte es, wie er es bereits auf der anderen Seite getan hatte, zur Seite. Die Untoten hatten sich nun alle aus ihrem Siechtum befreit und grunzten gierig. Stefan lief hinter das offen stehende Gitter und stieß es versehentlich an. Es begann zu wackeln, da es nur noch auf einer Seite in seiner Verankerung steckte. Dann winkte er Liz zu, die den Wagen mit einem wilden Manöver genau vor die Blockade und hinter das Absperrgitter steuerte und damit die Lücke exakt schloss. Helge und Stefan rannten wieder auf die andere Seite der Grube und machten gedämpften Lärm indem sie an das Gerüst schlugen. Gerade genug, damit sich die Untoten interessiert vor der Grube sammelten. Mit erhobenen Armen stöhnten sie und gurgelten und gaben damit ihr gequältes Spiel zum Besten

„Scheiße! Das klappt nicht“, fluchte Stefan. „Die Spasten bleiben einfach vor der Grube stehen!“

Einer der Untoten aus den hinteren Reihen stolperte im Gedränge und stieß den ersten vor der Grube dann doch in die Tiefe. Stefan konnte hören, wie sein Genick brach.

„Oh Mann, so blöd sind die also doch nicht. Also schon ziemlich, aber nicht blöd genug“, stellte Helge fest und kratzte sich an seiner dicht bewachsenen Backe.

„Ja, da ist guter Rat teuer. Vielleicht klappt es, wenn wir Liz in die Grube werfen?“, fragte Stefan trocken.

„Neee, die ist schlecht drauf. Bei dem Geflenne rennen selbst die davon.“

Plötzlich hörten sie das Gitter laut knarzen und einen angestrengten Schrei hinter den Untoten.

„IHR SCHAFSECKEL, IHR!“

Auf einmal fiel die gesamte Gruppe unkoordiniert vor ihren Augen in die Grube. Jemand hatte sich das Gitter hinter den Untoten geschnappt und zugedrückt. Staunend standen Helge und Stefan vor der Grube und betrachteten den jungen Mann in Armeeuniform.

„Könnte ein Schweizer sein“, bemerkte Stefan spöttisch, als er das rote Kreuz an seinem Ärmel sah.

Helge sah Stefan fragend an.

„Schafseckel? Entweder ein Schweizer, oder er hat nen Sprachfehler.“

„Vermutlich ist er auch noch verrückt, so lebensmüde, wie er das Gitter gerade zugedrückt hat.“

Helge ließ die Schrotflinte sinken.

„Immerhin scheint er Eier zu haben!“, sagte Helge und setzte sich in Bewegung.

„Der hat ja noch nicht mal Haare am Sack!“, stellte Stefan fest und sah Helge nach, wie er zum Auto lief.

Einige der Untote hatten ihren Sturz überlebt und gaben wilde Grunzlaute von sich. Stefan sah den Untoten zum Abschied in die Augen und deutete mit seiner Hand einen Blow-Job an. Dann steckte er das Gitter zurück in das Loch des Fundamentblocks, als wäre nie etwas passiert

Stefan lief zu den anderen und stand mit seinem Gewehr direkt an Helges Seite. Er richtete es auf ihren unbewaffneten Helfer. Der junge Mann war vielleicht Anfang zwanzig. Zwischen seiner Akne konnten die drei spärlichen Bartwuchs erkennen. Er hatte hellbraunes Haar und neben seiner Uniform auch eine Militärmütze auf.

„Was bist denn du für einer? Gibt es von dir noch mehr?“, fragte Stefan als erster.

„Sebastian“, sagte er. „ Sebastian Stöckli“, schob er dann ein wenig überzeugter nach. „Nein, ich bin allein hier.“

Stefan musste grinsen, als der junge Soldat seinen Nachnamen auf Schwitzerdütsch aussprach. Als hätten Nachnamen in dieser Welt überhaupt noch eine Bedeutung.

„Also Sebastian. Du darfst gern Hochdeutsch mit uns sprechen. Warum bist du unbewaffnet? Und vor allem, warum hast du uns geholfen?“, fragte Stefan nun kühler.

„Nun, weil ihr wohl meine letzte Chance seid, hier wegzukommen.“

Ohne, dass er es ahnte, setzte Sebastian einen flehenden Blick auf.

„Ich will euch ja nur ungern bei eurem Kaffeekränzchen stören, aber sollten wir nicht erstmal eines der Autos wegräumen?“, meldete sich Liz zu Wort.

„Ohja, das sollten wir“, brummte Helge und lief zum Viano, um das Abschleppseil zu holen.

„Ich hab den Schlüssel zum Laster. Der dürfte noch laufen. Ich kann ihn zur Seite fahren.“

„Ahh, dann warst du das also! Vielen Dank auch!“, erwiderte Stefan.

Helge blieb stehen und sah den verzweifelten jungen Mann an.

„Wie gesagt“, antwortete Sebastian. „Ich bin allein und würde mich euch gern anschließen.“ Er machte eine Pause und druckste ein wenig herum. „Das ist auch meine Bedingung. Wenn ich das Ding wegfahren soll, müsst ihr mich mitnehmen“, sagte er. „Bitte!“, fügte er mit zitternder Stimme hinzu.

Sebastian versuchte sein Pokerface aufzulegen, aber er hatte schon so lange keine lebenden Menschen mehr gesehen, dass er seine Hoffnung, endlich Gesellschaft gefunden zu haben, nicht verbergen konnte. Seine Mundwinkel bebten.

„Lasst uns das doch mal eben besprechen“, sagte Helge zu den anderen beiden und trat einige Meter zurück.

Die drei steckten ihre Köpfe zusammen.

„Auf mich macht er einen halbwegs vertrauenswürdigen Eindruck“, stellte Helge fest.

„Auf mich auch“, sagte Liz überzeugt. „Außerdem können wir den armen Kerl hier wohl kaum zurücklassen. Habt ihr seinen Blick gesehen? Wie ein Hundewelpe.“

„Ja, wie ein Hundewelpe in der Pubertät. Aber er hat uns gerade geholfen“, ergänzte Stefan. „Das sollten wir nicht vergessen.“

Stefan dachte an ihre letzten Erlebnisse mit Menschen. Ihm kam die kurze Begegnung mit dem irren Bauern in den Sinn, der sich vor Martins und seinen Augen den Kopf weggeschossen hatte. Er drehte sich zu dem jungen Soldaten um und schob sich die Brille wieder auf die Nase.

„Bist du ein Psycho?“, fragte er ernst.

Liz stieß Stefan den Ellenbogen in die Seite. Sebastian blickte irritiert und wollte etwas erwidern.

„Klar nehmen wir dich mit!“, sagte Stefan. „Brauchst nicht gleich anfangen zu flennen. Komm rüber.“

Wieder stieß Liz ihm den Ellenbogen in die Rippen. Diesmal deutlich fester.

„Aua!“

„Manchmal bist du echt ein Arsch!“, schimpfte sie und reichte Sebastian die Hand.

„Danke fürs Aushelfen.“

Er griff zu und schüttelte ihre Hand dabei vor Aufregung so wild, dass Liz lachen musste.

„Bevor ich das Ding wegfahre, brauch ich noch kurz Hilfe, kommst du mit?“, fragte er Liz, die kurz davor war zu nicken, aber von Stefan gebremst wurde.

„Nene, du bleibst hier, ich helfe ihm“, sagte er und zeigte auf sein Gewehr.

Dann verschwanden sie im Museum und kamen nach einer viertel Stunde bepackt wieder. Stefan trug einen großen Teddybären im Arm und grinste schräg, als die anderen ihn sahen.

„Fragt nicht. Er hatte wirklich schon länger keinen Kontakt mehr zu Menschen.“

Sebastian, der Bastian genannt werden wollte, lief rot an. Stefan drehte sich zu ihm und begann zu flüstern.

„Und Kumpel, nehm es mir nicht übel, aber du brauchst echt eine Dusche!“

Bastian dachte nach. Vor Wochen, als er das Museum aufgrund der Untoten nicht mehr verlassen konnte, hatte er sich die Lage in Wetzikon angesehen. Er war auf der Suche nach Unterstützung und Munition gewesen, aber das Industriegebiet des Nachbarortes war so überlaufen mit Untoten, dass er seinen Ausflug sofort abbrechen musste.

„Ihr wollt die Autobahnauffahrt am Ende von Wetzikon erreichen, stimmts?“, fragte Bastian.

„So war der Plan, ja! Warum?“

„Nun ja, hinter der Blockade wartet der halbe Ort auf uns.“

„Hmmmm“, brummte Stefan, der nicht sehr begeistert drein blickte.

Er hatte die Hoffnung, dass es nach Schaffhausen einfacher werden würde und dachte an die Untoten am Flughafen.

„Denkst du, zwei Fahrzeuge könnten da durchbrechen? Gibt es da irgendwo noch etwas das uns aufhalten würde?“

Mittlerweile hatten die beiden den Rest der Gruppe erreicht. Liz und Helge hörten gespannt zu.

„Ich bin natürlich nicht durch den ganzen Ort gestiefelt, aber eine weitere Blockade habe ich nicht gesehen. Im Grunde geht es auch nur um das Industriegebiet dort hinten“, erklärte Bastian und zeigte mit seinem Arm durch den Laster. „Dort tummeln sich Unmengen von denen. Der Ort bis dahin dürfte hingegen frei sein. Hinter dem Gebäude hier stehen übrigens auch noch etwa dreißig.“

Helge und Stefan ließen ihre Mundwinkel gleichzeitig fallen. Das waren genug negative Nachrichten in der kurzen Zeit.

„Oh Mann! Was eine Scheiße!“, fluchte Stefan. „Also gut. Folgender Vorschlag. Du fährst mit dem Laster hinter uns her und wir schauen uns das Industriegebiet erst einmal aus der Ferne an. Wenn wir den Eindruck haben, dass wir mit den Wagen durchkommen, dann räumst du uns den Weg bis zur Autobahnauffahrt mit dem Laster frei. Wir gabeln dich dann wieder auf und hauen ab.“

Bastian wurde kreidebleich. Das war nicht unbedingt der Vorschlag, den er hören wollte. Aber er war auch nicht wirklich in der Position, zu verhandeln. Helge dachte nach und zwirbelte dabei einige seiner Barthaare.

„Hört sich irgendwie sinnvoll an. Sorry Bastian. Aber du kannst den Laster ja sicher auch ganz gut fahren“, stellte er fest.

„Nun“, sagte Liz. „Der Laster ist schon ein echtes Monster. Der wird mit denen spielend fertig, glaube ich. Ist denn noch genug Sprit drin?“

Bastian kannte die Antwort, überlegte aber noch, ob es sich lohnen würde zu lügen.

„Läuft auf Reserve, aber zur Auffahrt langt es bestimmt.“

„Tjaaaa“, rief Stefan aus. „Wir haben unseren Gewinner! Herzlichen Glückwunsch! Sie, mein Herr, haben eine Aufnahmeprüfung gewonnen. Und jetzt los, bevor wir noch Besuch von der Rückseite des Gebäudes bekommen!“

Bastian schluckte und bemerkte ein Grummeln in seiner Magengegend, das nichts mit Hunger zu tun hatte. Er musste sich konzentrieren, keinen fahren zu lassen. Da musste er jetzt wohl durch, dachte er.

Die vier fuhren mit ihren drei Wagen an den Rand des Industriegebietes und Stefan prüfte die Lage mal wieder durch das Fernrohr seines geliebten Gewehrs. Was er sah, beunruhigte ihn. Hunderte umherwandelnde Untote trieben sich auf der Straße und den Plätzen vor den Gebäuden herum. Immerhin gab es im Industriegebiet viel Platz. In beide Richtungen führten jeweils zwei Spuren. Der alte Mercedeslaster war noch recht gut in Schuss und würde mit den riesigen Reifen eine Schneise der Vernichtung hinterlassen. Da war sich Stefan sicher. Es hing jetzt einzig davon ab, wie sich Bastian anstellen würde.

„Bist du bereit, Basti?“, fragte Stefan, der sein Gewehr mittlerweile zur Seite gelegt hatte. „Einfach mit Vollgas durchballern! Die Auffahrt kann ich von hier schon durch das Fernrohr sehen. Das sollten maximal zwei Kilometer sein. Wir folgen dir mit ein paar Metern Abstand. Wenn du denkst, dass du durch bist, hältst du an und wir sammeln dich auf.“

Bastian hatte seine Gesichtsfarbe noch immer nicht wieder erlangt.

„Ja, ist klar“, sagte Bastian und fühlte sich hundeelend dabei.

„Also gut, Herrschaften!“

Helge klatschte leise in die Hände.

„Dann machen wir uns an die Arbeit.“

Er reichte Bastian zur Sicherheit die Schrotflinte und stieg mit Liz in den Viano. Stefan stand noch bei Bastian und sprach ihm etwas Mut zu, dann setzte er sich in den Amarok und wartete.

Bastian stieg wieder in den LKW hinauf und startete den Motor. Der Laster erzitterte und gab ein rasselndes Laufgeräusch von sich. Er klammerte sich an das große Lenkrad und atmete ein paar Mal tief durch. Er war spürbar nervös und versuchte, sich nicht auf das Grummeln in seinem Magen zu konzentrieren. Er hatte so lange darauf gewartet, endlich andere Überlebende zu finden, nun wollte er sie auf keinen Fall enttäuschen.

Entschlossen gab er Gas und ließ das Ungetüm von der Leine. Im Seitenspiegel konnte er sehen, wie die beiden anderen Wagen ihm folgten. Er passierte bereits das Ortsschild und fuhr an einer maroden Wellblechhalle vorbei. In zweihundert Metern sah er bereits die ersten Untoten auf der Straße stehen, dann würde der erste Aufschlag erfolgen. Das kraftvolle Vibrieren des Lasters beruhigte ihn und er fühlte sich plötzlich etwas zuversichtlicher. Wenn er es nicht vermasselte, würde er mit Sicherheit lebend aus dem Ding aussteigen. Er dachte kurz nach, drosselte dann seine Geschwindigkeit, weil er verhindern wollte, dass er die Kontrolle über den Laster verlor. Plötzlich hörte er ein dumpfes Ploppen von der rechten Seite des Lasters. Es ging los!

Die Untoten wandten sich ihm zu. Zu viele um sie zu zählen. Sie setzten sich in Bewegung und liefen direkt auf den Laster zu. Bastian konnte kaum etwas von draußen hören. Das aggressive Grummeln des Dieselmotors machte die Untoten rasend vor Fleischlust und trieb sie zu Höchstleistungen an. Ein paar der Infizierten konnten sogar noch rennen. Bastian warf einen kurzen Blick auf die Tankanzeige. Sie leuchtete nach wie vor orange und auf einmal setzte es mehrere Schläge, die den LKW leicht ins Wanken brachten. Er hatte eine Gruppe von zehn Untoten erwischt und steuerte bereits auf die nächste zu. Bastian hielt das Lenkrad fester im Griff, das gerade einige kräftige Schläge von sich gegeben hatte und ihn damit aus seiner Konzentration riss. Blut bespritzte die Windschutzscheibe und er hatte zu seinem Unbehagen gesehen, wie einige Körperteile durch die Luft geflogen waren. Er trat das Gaspedal stärker durch und ließ den Motor damit noch lauter rasseln, als er es ohnehin schon tat.

Wie ein Insektenschwarm prasselten die Einschläge auf die Front des Lasters. Bastian konzentrierte sich nur noch auf sein Ziel und hielt das Lenkrad so fest er nur konnte, während die Kräfte der Kollisionen an der Karosserie des Lasters zerrten. Er hatte schon die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht und steuerte auf die Autobahnauffahrt zu. Plötzlich erkannte er vor ihr eine größere Ansammlung der Kreaturen. Ein Tropfen Schweiß, der ihm in das Auge gelaufen war, hinterließ ein fieses Brennen. Der Aufschlag stand kurz bevor und Bastian versuchte fieberhaft, seine Aufregung in den Griff zu bekommen. Die beiden Wagen hinter ihm ließen immer mehr Abstand, als hätten sie ebenfalls bemerkt, was nun vor ihm lag. Bastian ging panisch die Konsequenzen durch, die der Aufschlag auf den Laster haben könnte. Stahl gegen Fleisch, dachte er. Was sollte da schief gehen?

Noch hundert Meter.

Er spannte seine Muskeln an und duckte sich leicht hinter das Lenkrad. Das würde mächtig krachen, dachte er noch und schon schlug die Front des Lasters wie eine Bowlingkugel in die Menge und riss sie auseinander. Die Wucht des Aufschlags drückte Bastian kräftig in seinen Gurt. Körper flogen durch die Luft und ein loser Kopf hinterließ bei seinem Aufprall auf der Windschutzscheibe einen großen Riss. Wie in einem Hagelsturm aus Fleisch prallten immer wieder Körper gegen den Laster. Da er durch die blutverschmierte Scheibe bereits nichts mehr erkennen konnte, musste er sich auf die Beifahrerseite herüber lehnen. Dort gab es noch eine kleine unbefleckte Stelle. Trotz aller Widrigkeiten steuerte er den Laster sicher die Auffahrt hinauf. Er atmete ein paar mal tief durch und mit einem Mal begann der Motor zu stottern. Doch das war jetzt auch nicht weiter schlimm. Schließlich war er durch und die Auffahrt erreicht.

Endlich beruhigte sich sein Puls langsam wieder, doch plötzlich schmeckte er Blut in seinem Mund. Für den Bruchteil einer Sekunde flammte erneut Panik in ihm auf und er suchte das Loch in der Scheibe, durch das das Blut in seinen Mund getropft war. Aber er hatte sich nur auf die Zunge gebissen. Er spürte die geschwollene Stelle auf ihr. Erleichterung machte sich breit und ließ ihn vor Freude schreien. Er hatte es den Biestern gezeigt und war mächtig stolz. Der Laster rollte aus und auch die anderen Wagen hatten die Fahrt ohne Probleme überstanden.

Sie bremsten ab und blieben neben dem Laster stehen. Die drei hielten tatsächlich ihr Wort, dachte Bastian. Endlich war es soweit. Er hatte Gefährten gefunden und konnte sein Glück kaum fassen. Stefan winkte ihn zu sich in den VW und begrüßte ihn mit einem überschwänglichen Handschlag.

Er brannte bereits vor Neugier und fragte Bastian auf den nächsten Kilometern Löcher in den Bauch. Wie die anderen hatte er ähnlich viel erlebt. Er erzählte Stefan, wie er auf dem Militärflughafen in Volketswil stationiert gewesen war und wie der gesamte Stützpunkt seit Wochen aufgrund der Ebola-Epidemie in höchster Alarmbereitschaft auf Befehle wartete. Die Soldaten waren völlig übermüdet und massiv angespannt. Bastian erinnerte sich nicht gern an diese Zeit zurück. Er war erst seit einem halben Jahr dort stationiert und mit seinen zwanzig Jahren einer der Jüngsten. In der Regel hatte er die Arschkarte und musste Jobs erledigen, auf die kein anderer Bock hatte. Unter anderem musste er die Zelte, in denen sie die Ebola-Patienten behandelt hatten, ausspritzen und desinfizieren. Schon bevor er den ersten Untoten zu Gesicht bekam, hatte er die Grausamkeit des Lebens kennengelernt. Am Tag des Ausbruchs erhielten sie den Befehl, den Stützpunkt um jeden Preis abzuriegeln, keinen Zivilisten mehr hinein zu lassen, und jeden Kranken, der keine Überlebenschance mehr hatte, zu beseitigen. Kurze Zeit später brach die Hölle los. Als die Nachricht der Untoten herumging, flüchteten zuerst die Piloten, und mit ihnen die Soldaten, die sich am besten durchsetzen konnten. Dann kamen auch noch die Zivilisten in der Hoffnung, auf dem Stützpunkt eine schnelle Fluchtmöglichkeit, oder zumindest Hilfe zu erhalten. Aber stattdessen gab es Mord und Totschlag. Die Leute kämpften in ihrer Panik wie die Besessenen, und das Militär löste sich innerhalb eines halben Tages von selbst auf. Sie plünderten, was zu plündern war und verpissten sich, um ihre Familien zu retten. Bastian nahm an, dass seine Basis keine Ausnahme war und es weltweit so zuging. Mehr als seine Dienstwaffe und ein wenig Ersatzmunition konnte er für sich nicht ergattern. Mal von dem unpraktischen Armeelaster abgesehen, mit dem er immerhin fast fünfzig Kilometer weit gekommen war. Als der Tank dann auf Reserve sprang, suchte er vorsichtshalber im Museum Schutz.

Stefan hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder bedächtig, dann wurde ihm klar, dass vermutlich jeder Überlebende auf der Welt solche Geschichten zu erzählen hatte. Bastian kramte in seinen Sachen, die in der Kiste auf dem Rücksitz steckten und zog ein kleines schwarzes Büchlein hinaus.

„Dein Tagebuch?“, fragte Stefan.

„Genau. Hat mich in den letzten Wochen oftmals wieder ein wenig auf Kurs gebracht, wenn ich kurz vor dem Durchdrehen war.“

„Ist sicherlich nicht so einfach, die ganze Zeit allein zu sein“, stellte Stefan fest.

„Nein, war ziemlich hart. So blöd es klingt, aber das Ding hat mir auch geholfen.“

Er zeigte auf Noodles, den Plüschbären.

„Nee Mann, so blöd klingt das nicht. Tom Hanks hat in Cast Away beispielsweise mit Kokosnüssen gesprochen. Da ist ein Teddy echt schon weit weniger crazy.“

Bastian sah sich sein Tagebuch ein letztes Mal an. An die letzten Monate wollte er sich nicht mehr freiwillig erinnern. Er ließ das Fenster runter und warf sein Tagebuch mit Schwung hinaus. Stefan blickte zu ihm herüber und sah, wie das Büchlein hinter den Leitplanken verschwand.

„Sorry übrigens, dass wir dich aufgrund des Lasters so bearbeitet haben. Aber wir mussten sicher gehen, dass du uns weiterhilfst, wenn es drauf ankommt.“

„Ja. Ist ja nicht so, als hätte ich mich in den letzten Wochen nicht auch schon selbst in Gefahr gebracht. Ist schon gut. Ich hatte nur kurz Angst, ihr würdet ohne mich weiterfahren als mir der Sprit ausging.“

„Keine Angst, Mann“, sagte Stefan. „Wir halten zusammen.“

Die breite Autobahn führte sie langsam immer tiefer in die Berge und es wurde spürbar kühler. Die Anzeige in Stefans Wagen zeigte gerade noch zehn Grad an. Bastian sah verträumt aus dem Fenster und erkannte den Walensee.

Der fünfzehn Kilometer lange Bergsee lag inmitten eines Tals und zog sich vorbei an riesigen Steilhängen, die den See im Sommer vor dem Aufheizen schützten. Tiefe Wolken zogen sich in Gruppen über den blauen Himmel und spendeten dem leichten Nebel Schatten, der sich am Ufer des Sees breit machte. Die Witterung erzeugte diese Art von Stimmung, die es zur Besonderheit machte, wenn man als Stadtmensch in die Berglandschaft eintauchte und zum ersten Mal deren klare Luft atmen konnte. Die Gegend um den See herum war verlassen und ließ es zu, dass sich Stefan auf die Anzeigen des Navis konzentrieren konnte. In einer dreiviertel Stunde würden die vier Chur erreichen. Zumindest konnte er das auf dem Display ablesen und wünschte sich dabei, es könne auch Geisterstaus vorhersagen.