Kapitel 5

Verwandlung

Die Nacht brach herein. Egal wie erschöpft Rich auch war, er konnte nicht schlafen. Nie hätte er zu denken vermocht, einmal so aufzugeben. Er war fertig. Sein Körper war so zerschunden und in die jetzige Haltung versteift, dass jede Bewegung eine unglaubliche Tortur für ihn war. Er wollte sterben und bereute mittlerweile tatsächlich, dass er nicht auf seinen Vater gehört hatte. Jetzt saß er in seiner eigenen Scheiße, und wartete darauf, dass er sich verwandeln würde. Er hatte Angst. Dann stellte er sich vor, wie er sich verwandelt, sich befreit, seine Bewacher zerreißt und sich an ihrem Fleisch labt. Diese Vorstellung gefiel ihm. Er wollte noch ein letztes Mal in das Leid anderer eintauchen. Die Schreie von Liz hören und die Macht spüren, nach der er so gierte.

Am Tisch konnte er Stefan erkennen, der zusammen mit Liz Wache schob. Bei seinem Anblick traten ihm Tränen der Machtlosigkeit in die Augen. Er musste sich eingestehen, dass er verloren hatte. Auf ganzer Linie. Martys Tod war nur noch ein schwacher Trost. Er wollte den beiden so wenig Genugtuung wie möglich verschaffen und verhielt sich ruhig. Langsam konnte er fühlen, wie es losging. Obwohl es arschkalt war, stieg Hitze in ihm auf. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und er fühlte sich fiebrig.

Die Kerze auf dem Einbautisch war zu zwei Dritteln abgebrannt. Liz schlief erschöpft mit dem Kopf auf dem weiß laminierten Tisch. Sie gab ein leise rasselndes Schnarchen von sich. Stefan versuchte, ihr nicht zuzuhören, um nicht ebenfalls einzuschlafen. Er war hundemüde und kurz davor ebenfalls einzuschlafen, aber immerhin fühlte er sich wieder halbwegs nüchtern. Kopfschmerzen machten sich breit und er bereute, dass er sich nicht bewusstlos gesoffen hatte. Ein kleiner Kater war nichts Halbes und nichts Ganzes. Wenn das so weiter ging, musste er Helge wecken, damit er ihn ablöste.

Er sah zu Rich, der im Dunkeln saß und keinen Laut von sich gab. Er wusste, dass er nicht schlief, denn er konnte seine Blicke ab und zu spüren und ihn atmen hören. Er widerstand dem Drang, die Kerze zu nehmen, um nachzusehen, ob er sich schon verändert hatte. Denn eigentlich war er froh, dass Rich ruhig war und ihm kein sinnloses Gespräch aufdrückte. Es war ihm unangenehm, was sie mit Rich veranstalteten. Er war ein Teufel, aber damit waren sie zu weit gegangen. Liz hatte sich verändert. Diese eisige Kälte, die sie aufbrachte, als sie ihm seinen eigenen Tod serviert hatte, war neu für ihn. Zwar hatte er Verständnis, aber dennoch fielen ihm Helges Worte ein. Sie sollten aufpassen, nicht zu Tieren zu werden. Sie standen jedoch kurz davor. Nicht Rich war es, der sich verwandelte, sondern sie selbst. Stefan stand auf. Er brauchte Luft. Leise ging er zur Tür und öffnete sie. Die kalte Winterluft wehte in den Wagen und ließ seine Müdigkeit und den Schmerz in seinem Kopf kurzzeitig abklingen. Er sog den frischen Sauerstoff ein und beschloss nun doch nachzusehen. Es war immerhin schon einige Stunden her, dass er sich infiziert haben musste. Stefan nahm die dicke Kerze vom Tisch und trat zwei Schritte näher an Rich heran, konnte im Dunkel jedoch nicht einmal seine Umrisse erkennen. Er stand nun neben der kleinen Einbauküche und vor dem Klo auf der rechten Seite des Wohnwagens. Die Schatten, die der Schein der Flamme erzeugte, machten die Situation noch unheimlicher, als sie es ohnehin schon war. Vorsichtshalber zog Stefan die Pistole aus seiner Beintasche, die Helge ihm dagelassen hatte, und versuchte, Richs Gesicht zu erkennen, ohne noch weiter nach vorn gehen zu müssen. Das Licht der Kerze reichte nicht aus. Wachs lief auf seinen linken Daumen und er zuckte kurz zusammen, als er die heiße Flüssigkeit spürte.

Richs Atem rasselte und Stefan trat einen weiteren Schritt an ihn heran. Er roch fürchterlich. Der ganze Wagen stank nach ihm, aber im Umkreis von zwei Metern war die Intensität noch um ein Vielfaches höher. Stefan stellte das Atmen kurzzeitig ein und zog sich das T-Shirt unter seinem Hemd über die Nase. Nun konnte er ihn erkennen. Rich blickte ihn ausdruckslos und mit blutunterlaufenen Augen an. Er konnte nicht die geringste Regung in seinem verschobenen Gesicht erkennen. War er noch bei Bewusstsein? Er lebte, zumindest atmete er noch, aber er bewegte sich keinen Millimeter. In seinem Gesicht konnte er dunkelblaue Flecken erkennen. Die waren neu und hatten nichts mit den Malen zu tun, die Stefan ihm zugefügt hatte. Dann bemerkte er den Schweiß auf seiner Stirn. Rich war regelrecht durchnässt. Ihm war klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er wieder erwachte.


***

Gleißendes Licht blendete Rich. Er konnte nichts dagegen tun, denn sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er wollte die Augen schließen, war aber gleichermaßen von den vielen Farben fasziniert, die vor ihm tänzelten. Neben der Lichtquelle erkannte er eine unscharfe Silhouette, die sich langsam bewegte. Das Brennen in seinem Inneren wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Sein Körper fühlte sich an, als würde er von innen heraus verbrennen. Neben dem unglaublichen Hunger, war Hitze das Einzige, das er fühlen konnte. Rich wusste, dass er nicht träumte. Eher fühlte er sich wie ein Betrunkener, der so besoffen war, dass er nur noch ansatzweise mitbekam, was um ihn herum passierte. Aber dieser Hunger. Wo kam dieser merkwürdige Hunger her? Das, was einmal sein Körper war, stand in Flammen. Er spürte nichts weiter als diese unendliche Hitze in ihm. Wo also kam diese Lust auf Nahrung her? Es musste alles nur in seinem Bewusstsein stattfinden. Das wurde ihm blitzartig klar. Und auf einmal verstand er es. Er hatte den Punkt überschritten und wurde zu einem von ihnen. War es das also, was sie waren? Ferngesteuerte Körper, deren Geist hellwach war? Lebten sie etwa noch in ihrem Inneren? Bevor er sich die Frage beantworten konnte, schoss ihm ein glühend heißer und endgültiger Blitz in den Kopf. Für einen winzigen Augenblick lang spürte er noch, wie sich sein Geist öffnete und sich die Hitze schwallartig verbreitete. Dann löschte sie seinen Verstand vollends aus.


***

„Scheiße Stefan. Der sieht ja richtig übel aus. Wie lange stehst du hier schon?“, fragte Liz, die gerade hinter ihm aufgetaucht war.

„Vielleicht fünf Minuten, oder so. Zieh dir das rein. Er ist voll weg, atmet aber noch. Sieht so aus, als würde er innerlich verbrennen. Schau mal wie nass der ist!“

„Ja, du hast Recht. Ich kann beinahe spüren, wie er glüht. Wie spät ist es? Wie lange hat das jetzt gedauert?“

„Es ist nach zwölf und damit etwa fünf Stunden her. Ich denke, er wird gleich aufwachen und versuchen, uns anzufallen.“

Fasziniert starrten die beiden auf den nahezu leblosen Körper. Richs grauer Sweater war fast durchgeschwitzt und klebte an seinem Oberkörper. Seine Beine lagen ausgestreckt vor ihm und der erbrochene Eintopf war mittlerweile eingetrocknet und unterschied sich farblich kaum noch von seiner Trainingshose.

„Sein Atem wird immer langsamer.“

Liz machte eine Pause und fügte ihrer Beobachtung noch eine weitere hinzu.

„Ich glaube, er stirbt gerade.“

Sie wollte ihre Feststellung nicht so theatralisch von sich geben, aber auf einmal wurde ihr klar, was sie getan hatte. Beim Anblick des Körpers, der so viel physischen Schmerz erdulden musste und nun kurz davor stand, endgültig zu versagen, taumelte sie benommen zurück und stützte sich an der Arbeitsplatte der Küche ab.

„Alles okay bei dir, Liz?“

Sie sah ihn an.

„Scheiße nein, sieh dir an, was wir getan haben.“

Stefan kapierte, was in ihr vorging, konnte nun aber auch nichts mehr rückgängig machen.

„Naja, ich wollte ihm eigentlich nur die Fresse einschlagen. Auf die Idee ihn zu infizieren, bist du gekommen. Fuck, Liz! Wenn es jemand verdient hat, dann er.“

„Wir hätten die Drecksau einfach erschießen sollen. So wie Helge es wollte.“

„Krieg dich wieder ein, verdammt. Es ist sowieso nicht rückgängig zu machen.“

Stefan war Liz zugewandt und bekam nicht mehr mit, was mit Rich passierte. Sein Körper atmete nicht mehr. Stattdessen lief dunkles Blut aus seinen Augen, das aussah wie verbrauchtes Motoröl. Ruckartig zuckte sein Kopf nach rechts und gab ein lautes Knacken von sich. Stefan drehte sich erschrocken um. Auch Liz starrte wie gebannt auf den noch immer sitzenden Körper. Wieder zuckte sein Kopf mit einer ruckartigen Bewegung. Diesmal auf die andere Seite. Sein Mund öffnete sich langsam und ergoss einen Schwall Blut. Der Untote erwachte aus seiner Starre und vibrierte am ganzen Körper. Die beiden konnten mitansehen, wie sich der schlaffe Leichnam in ein rasendes Monster verwandelte. Der Untote gab ein Gurgeln und ein Fauchen von sich, als er versuchte, sich zu befreien. Das Bett, an dem das Seil und die Handschellen festgemacht waren, bebte und schepperte an der Rückwand des Wohnmobils.

„Okay, Stefan. So langsam wäre ein guter Zeitpunkt gekommen, ihn zu erschießen.“

Das sah Stefan ähnlich. Er warf Liz die Kerze in Panik fast zu und tastete mit dem rechten Daumen hektisch nach dem Entsicherungshebel, der aber bereits umgelegt war.

Plötzlich gab es einen lauten Schlag, als das Bett einen Satz nach oben machte und der Untote seinen rechten Arm plötzlich aus der Handschelle riss. Stefan wunderte sich über die unförmige Hand, die da schlaff am Körper herabhing, erkannte dann aber, warum sie so aussah. Ihr fehlte der komplette Handballen, sowie der Daumen. Das Ding hatte ihn beim Herausziehen aus der Handschelle glatt abgerissen. Der Untote holte mit seiner blutigen Klaue aus und schwang sie wie ein Wilder nach vorn. Genau auf Stefan und Liz. Die beiden wichen im gleichen Moment zurück, um dem Blut zu entgehen, dass er mit seinem Arm versprühte. Bevor er auch den zweiten seiner beiden Arme befreien konnte, legte Stefan an und gab aus kurzer Distanz zwei schnelle Schüsse ab, während der Tote noch versuchte, seine gefesselten Füße aufzustellen. Ein Schuss traf Rich in den Oberkörper, erzielte aber kaum Wirkung. Der Zweite durchschlug das hintere Fenster. Der Untote stand nun und grunzte sie mit blutendem Oberkörper an. Er reckte seinen Kopf nach vorn, als könnte er sie aus der Entfernung auffressen. Der schwache Schein der Kerze färbte seine ohnehin bereits blutenden Augen, in ein furchterregendes rotes Farbenspiel des Todes. Stefan hielt die Waffe ruhig und konzentrierte sich. Kurzer Ärger flammte in ihm auf, denn er konnte eigentlich besser schießen. Er feuerte seine Pistole ein drittes Mal ab und bereits der Rückstoß verriet ihm, dass diese Kugel ihr Ziel erreichen würde. Die Kugel drang direkt in die Stirn des frisch Infizierten ein und hinterließ ein kleines rotes Loch. Der Körper erschlaffte und sank wieder zu Boden. Der Spuk war vorbei.

Aus dem hinteren Bereich des Wagens ertönte ein dumpfes Scheppern. Helge platzte mit Stefans M-16 durch die Tür und wollte gerade losfeuern, da erkannte er, dass die Situation schon wieder unter Kontrolle war.

„Nun, ihr hattet also schon euren Spaß“, stellte er trocken fest, als er neben Liz am Tisch stand und auf den leblosen Körper herabsah.

„Komm Helge, lass gut sein. Wir wissen auch, dass das eine scheiß Idee war.“

Stefan ging auf ihn zu und hob abwehrend die Hände, aber Helge konnte nicht anders und setzte noch eins oben drauf.

„Jap, eine scheiß Idee. Dumm und gefährlich.“

Liz sah benommen zu Boden und verließ das Wohnmobil ohne einen Ton von sich zu geben.

„Und was ist mit ihr los?“, fragte Helge.

„Ich fürchte, ihr ist gerade klar geworden, dass sie das Tor zur Hölle geöffnet hat und kurz davor war, hindurchzugehen.“

Stefan musterte Helge von oben bis unten.

„Sag mal, pennst du eigentlich immer in deiner Lederhose? Ist ja widerlich!“

„Du Klugscheißer. Ich wollte dich gerade ablösen, da hab ich auch schon den Schuss gehört und bin hier her gerannt.“

Stefan ging an ihm vorbei und sprang in die Dunkelheit hinaus. Es war wirklich stockfinster. Allein der Schnee erhellte die Umgebung kaum merklich. Einige Meter weiter vor ihm hüpfte der Lichtkegel der Maglite, die Liz Helge abgenommen hatte, auf und ab. Sie hatten abgemacht, die Taschenlampen nur noch im Notfall zu benutzen. Zwar konnten sie im Kiosk des Campingplatzes noch einige Packungen der großen D-Zellen erbeuten, aber die kleinen Energiespeicher waren in der neuen Zeit von großem Wert und mussten so lange aufgespart werden, wie nur irgendwie möglich. Kerzen hatten sie hingegen genug, nur gingen die eben gern im dichten Schneefall aus.

„Verdammt Liz, nun warte doch“, rief Helge von hinten. „Wir können kaum etwas erkennen!“

Liz blieb stehen, drehte sich zu den beiden um, und schlug ihre Lampe demonstrativ in ihrer Hand. Der Lichtkegel zuckte wild an der modernen Holzfassade der Unterkünfte und hellte den halben Eingangsbereich des kleinen Komplexes damit auf.

„Beeilt euch. Mir ist kalt hier draußen.“

Stefan beschleunigte seinen Schritt. Für einen kurzen Augenblick meinte er, im aufflackernden Schein der Taschenlampe eine frische Spur im Schnee gesehen zu haben. Dann zuckte das Licht wieder weg und er stand bei Liz.

„Leuchte noch mal da hinten hin“, befahl er ihr und kniff die Augen zusammen, weil er seine Kopfschmerzen nach dem Stress wieder spüren konnte.

Liz suchte die nähere Umgebung mit dem Strahl ihrer Lampe ab.

„Was soll da sein?“, fragte Helge, der mittlerweile ebenfalls bei ihnen stand.

„Nichts mehr. Ich dachte, ich hätte frische Spuren im Schnee gesehen. Dann bist du durch sie hindurch gerannt, Helge. Oder ich habe mich geirrt.“

„Lasst uns morgen noch einmal nachsehen, Jungs. Ich will jetzt echt in die Wärme.“

„Jetzt ist es sowieso zu spät. Der reinste Trampelpfad. Gehen wir rein.“

Sie öffneten das Bügelschloss, das den Eingang mit einer dicken Gliederkette sicherte, und betraten die Unterkunft, die vor Monaten noch den Campern zur Verfügung stand, die weder Wohnmobil, noch Zelt besaßen.