Kapitel 18

Lugano

Seit einer gefühlten Ewigkeit lag Fritzek nun schon regungslos in seiner Position. Der beißende Gummigeruch der vor ihm lagernden Reifen, hatte ihm Anfangs zu schaffen gemacht, nun war es nur noch der Gedanke, seinen Triumph nicht mit Bildern untermalen zu können. Es war sein Finale gewesen und er hatte es verpasst. Er konnte noch nicht einmal sagen, wer alles überlebt hatte, aber die Detonation am Schluss, und das plötzliche Verstummen des Hubschrauberrotors, mussten einfach den Tod des Piloten bedeutet haben.

Er war wieder im Spiel und nicht nur das. Er hatte eine gratis Transportmöglichkeit und Waffen. Besser hätte es für ihn nicht laufen können. Sein Plan war zu mehr als hundert Prozent aufgegangen. Er konnte nicht fassen, dass sie einen Rucksack voller Waffen auf die Ladefläche geworfen hatten. Er musste sich nur bedienen. Nun war allein der Zeitpunkt seiner persönlichen Vorstellung entscheidend. Immerhin wussten sie ja nicht, wer er war. Er wartete auf einen Moment der Überraschung. Nach all dem, was er in den letzten Stunden auf die Beine gestellt hatte, sollte das für ihn aber nur eine kleine Herausforderung sein. Ein diabolisches Grinsen umschmeichelte plötzlich sein Gesicht.

Der Wagen wurde langsamer und kam zum Stehen. Fritzek bereitete sich auf seinen Auftritt vor.


***

Sie waren schon seit über einer Stunde unterwegs und fuhren mittlerweile auf der A2, die sie durch Lugano führen würde. Die A2 war Teil der Europastraße 35, die ursprünglich in Amsterdam begann, über Frankfurt am Main und Basel, bis nach Rom führte. Dieser Teil der Schweiz war, aufgrund der sattgrünen Vegetation und der Berge, einer der Schönsten. Die zweispurige Straße führte die beiden Wagen unter Hilfe eines leichten Gefälles durch eine Berglandschaft, an deren Fuße der Luganer See lag. Ein atemberaubendes Panorama inmitten der grünen Gebirgsketten. Liz und Helge hatten jedoch keine Sekunde Zeit, die Aussicht zu genießen.

Gerade Helges Sorgen wuchsen von Kilometer zu Kilometer. Die erste Zeit hatte er von Stefan nichts wahrgenommen. Dann jedoch, begann er zu phantasieren. Murmelte immer wieder die Namen seiner Toten Freunde. Helge wollte es sich nicht eingestehen, aber zwischen all der Sorge, keimte nun auch ein kleiner Spross der Angst, denn sie hatten ihn nicht gefesselt. Er dachte nach der Explosion vor dem Tunnel und dem ganzen Trubel danach, nicht eine Sekunde darüber nach. Sie wollten einfach nur so schnell wie möglich weg. Nun wurde der große Schock jedoch bereits zu einer Erinnerung und Helge hatte genug Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Sie mussten ihn fesseln. Es war töricht, es nicht zu tun. Er musste handeln und wartete nur noch den richtigen Moment ab. Die Situation auf der Straße ließ es gerade zu und so hielt er den Wagen an, bevor sie in zweihundert Metern den ersten kleinen Tunnel in Richtung Lugano durchqueren würden.

Stefan war noch immer kreidebleich und schwitzte. Es ging im schlecht. Der Armstumpf hatte aber glücklicherweise aufgehört zu bluten. Liz, die den Amarok gerade verlassen hatte, saß nun bei Stefan auf der Rückbank und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. Helge stand außerhalb des Wagens vor der großen Türöffnung und beobachtete Liz.

„Denkst du, er wird es schaffen?“, fragte sie besorgt.

Helge dachte darüber nach. Stefan war mental stark. Aber den Verlust einer Hand musste man erst einmal verkraften.

„Ich hab keine Ahnung. Bin ja kein Arzt. Steriler hätten wir sie ihm nicht abnehmen können. Bis auf mein blödes Missgeschick ist es eigentlich gut gelaufen. Wahnsinnig viel Blut hat er auch nicht verloren. Aber er hat phantasiert.“

Liz kontrollierte den Verband an seinem Arm noch einmal und straffte den Knoten, der die Wunde abband. „Phantasiert?“

„Ja. Ich glaube er macht sich Vorwürfe, wegen Bastian.“

„Der arme Bastian. Ich kann noch gar nicht glauben, dass er weg ist. Er war ein guter Typ. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Stefan alles Menschenmögliche versucht hat.“

„Mehr noch“, antwortete Helge. „Ich musste ihn von den Untoten wegzerren. Stefan war völlig außer sich und hat die Arschgeigen mit bloßen Händen bearbeitet. Scheinbar hatte er keine Munition mehr. Außerdem glaube ich, dass Bastian ein Kind schützen wollte. Ich habe es aber nicht ganz erkennen können. Als ich bei Stefan war, habe ich nur noch“, Helge rang nach Worten. „Habe ich nur noch dieses furchtbare Gemetzel gesehen. Und eben Bastians Teddy, der neben einer zerfetzten Kinderleiche lag.“

Helge schlug wütend gegen den Viano.

„Verdammt! Ich will auf diese verfluchte Insel und werde da auch Stefan hinschaffen. Koste es, was es wolle. Und dann bauen wir uns da ein Leben auf. Ohne diesen ganzen Mist!“

Liz sah ihn mitfühlend an. Im selben Moment war sie aber auch froh, dass sie das Grauen im Tunnel nicht aus nächster Nähe mitbekommen hatte. Sie dachte an die ganzen Überlebenden im Tunnel, die nun alle tot waren und musste schlucken.

„Ach Helge, ich wünsche es mir ja auch mehr als alles andere. Endlich wieder Ruhe haben. Nicht ständig in Angst zu leben. Wir sind noch zu dritt und am Leben, aber wir müssen uns wieder besser ausrüsten. Stefans Messer liegt noch im Amarok. Hätte er das gehabt“, Liz senkte gedankenschwer den Kopf. „Wäre vielleicht auch noch Bastian am Leben. Und wegen vorhin. Ich bin ein wenig ausgetickt als du, nun ja, die Hand. Ich wollte dich nicht beschimpfen. Ich glaube nicht, dass ich das hätte machen können.“

„Ist schon in Ordnung, Liz. Wir standen beide neben uns“, antwortete Helge und nahm sie in den Arm. „Eins noch. Auch wenn ich es mir gern ersparen würde, aber wir müssen ihn fesseln. Wir können uns nicht sicher sein, dass er sich nicht doch verwandelt.“

Liz Miene verfinsterte sich. Den Gedanken, dass er sich noch verwandeln könnte, hatte sie sehr weit nach hinten geschoben.

„Helge. Denkst du wirklich, dass das noch passieren könnte? Es ist schon fast zwei Stunden her. Er ist so schwach, vielleicht reicht es aus, wenn wir ihn einfach anschnallen?“

Helge war zwar anderer Meinung, aber er nickte und nutzte den mittleren Gurt, um Stefan an der Rücksitzbank festzuschnallen. Liz beobachtete Stefan, der seinen Kopf hin und her warf.

„Er scheint Fieber zu haben, seine Stirn glüht“, sagte Liz und dachte an Rich, bei dem das Ganze auch so angefangen hatte.

„Wir sollten das jetzt auch nicht überbewerten. Er hat einen Schock“, sagte Helge, der sie zu beruhigen versuchte. „Wundert mich nicht, dass sein Körper durcheinander kommt, nachdem wir ihm die Hand abgeschlagen haben. Lass uns weiterfahren. Er ist versorgt und wir sollten den Tag nutzen, um Livorno zu erreichen. Ach und holst du die Knarren von der Ladefläche? Mein Magazin ist nur noch halb voll.“

Plötzlich erhob sich die Abdeckplane auf der Ladefläche des Amaroks. Liz und Helge, die noch immer am Viano standen, drehten sich erschrocken um. Sie wussten nicht ansatzweise, was geschah und was der kleine Mann auf der Ladefläche zu suchen hatte.

„Einen Moment noch, meine Herrschaften.“

Fritzek hielt in jeder seiner Hände eine der Pistolen, die er im Rucksack gefunden hatte. Die Waffen waren auf Liz und Helge gerichtet, die sich verwundert ansahen. Die Situation schien brenzlig zu sein und so langsam realisierten die beiden das auch.

„Haltet schön die Hände ruhig und macht nichts Dummes. Ich möchte niemanden erschießen, immerhin habt ihr mir ja geholfen, auch wenn ihr es wahrscheinlich nicht wisst.“

Liz erkannte den kleinen Kahlköpfigen mit dem verschlagenen Blick und der dämlichen Brille wieder. Ihr schwante böses.

„Was meinst du damit? Wir hätten dir geholfen?“, fragte sie.

„Was willst du von uns?“, schickte Helge hinterher.

„Einer nach dem anderen. Und nicht vergessen, die Hände schön vor euch halten und am besten nach oben, über den Kopf.“

Liz und Helge reagierten widerwillig und hoben ihre Hände über den Kopf.

„Ihr habt mir geholfen, aus meinem Gefängnis zu entkommen. Der Pilot, das feige Schwein, hat alles dafür getan, dass die Leute im Tunnel blieben. Kam sich vor wie ein König! Aber nicht mit mir! Und ihr seid gerade im richtigen Moment gekommen.“

„Kapierst du, was der will?“, flüsterte Liz zu Helge, der plötzlich wütend wurde und Fritzek zur Rede stellte.

„DU warst das!“

„Na endlich. Ihr seid ja doch nicht so doof, wie ihr ausseht“, bemerkte der Bürgermeister. „Ein wenig schwer von Begriff vielleicht. Seht ihr, ohne euch wäre ich niemals von dort weggekommen. Danke!“

Nun verstand auch Liz, was Helge meinte. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr vollends.

„Ich glaub es nicht. Du verdammter Teufel! Du hast all die Menschen auf dem Gewissen!“

„Ach kommt, das waren schon lange keine Menschen mehr. Die waren krank. Ich habe sie einfach zu dem werden lassen, was sie ohnehin schon waren. Leblose Kreaturen!“

Helge bebte vor Wut. Seine Mundwinkel zuckten. Am liebsten hätte er ihm sofort eine Kugel in den Schädel gejagt. Dieser Mistkerl hatte Schuld an Bastians Tod und vielleicht auch an Stefans.

„WAS WILLST DU?“, schrie ihm Helge entgegen.

„Mensch, beruhige dich, Dicker“, frotzelte der Bürgermeister. Er genoss die Situation. Endlich war er wieder Herr der Lage und konnte über den Fortgang der Geschehnisse bestimmen.

„Ich sag doch, ich will euch nicht erschießen. Aber strapaziert meine Freundlichkeit nicht über! Benehmt euch und ihr werdet Leben. Ich will nur den Wagen. Habe gesehen, dass genug Sprit und Essen geladen ist. Das langt mir schon. Bitte werft auch noch eure Waffen auf den Boden vor euch. Aufgrund der kritischen Situation möchte ich kein Risiko eingehen. Wenn ich weg bin, dürft ihr sie wieder aufheben.“

Helge reagierte nicht. Die Waffen waren ihre Lebensversicherung.

„LOS VERDAMMT!“, keifte Fritzek.

Dann sprang er unbeholfen die Ladefläche hinunter. Im Gegensatz zu Helge war er ein Winzling und bestimmte dennoch die Situation. Er näherte sich den beiden, achtete aber penibel darauf, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben.

„Waffen weg und her mit euren Autoschlüsseln!“, befahl er.

„Scheiße nein“, erwiderte Helge. „Dann kannst du uns auch gleich erschießen. Ohne Wagen sind wir aufgeschmissen. Außerdem haben wir einen Verletzten an Bord.“

Fritzek überlegte. Er hatte noch nie jemanden erschossen und war sich nicht einmal sicher, ob er dazu fähig war. Dann hatte er eine Idee. Er lief hinter den Viano, hob die rechte Waffe und schoss auf die beiden Hinterreifen, deren Gummi aufplatzte und den Wagen innerhalb einer Sekunde um fünf Zentimeter tiefer legte. Dann hielt er Liz eine der Waffen an die Schläfe und zielte mit der anderen auf Helge. Liz warf ihre Pistole ein paar Meter vor sich und brach damit Helges Widerstand. Er gehorchte ebenfalls und lieferte sich dem kleinen Scheusal vollends aus. Fritzek grinste und befahl Helge, zwei der vier Ersatzreifen vom Amarok zu holen.

„Na seht ihr. Geht doch! Da soll nochmal jemand sagen, ich wäre ein Unmensch.“

Fritzek gefiel sich in seiner gönnerhaften Rolle. Er überzeugte sich davon, dass der Zündschlüssel im Amarok steckte und richtete sein Wort wieder an Helge und Liz.

„So, und jetzt geht ihr beiden hundert Schritte die Straße aufwärts. Wenn ich weg bin, könnt ihr machen was ihr wollt.“

Stumm nickten sich die beiden zu und liefen rückwärts und mit noch immer gehobenen Händen nach hinten.

„So kommt der uns nicht davon“, flüsterte Helge. „Der hat unsere Munition, fast alle Waffen und den verdammten Sprit. Ohne sind wir am Arsch.“

„Und was willst du machen? Willst du mit platten Reifen hinterherfahren? Die müssen wir erst einmal wechseln. Dann ist der schon über alle Berge.“

„So ne verfluchte Scheiße! Wenn wir uns beeilen, holen wir ihn vielleicht wieder ein.“

„Ja klar, Helge. Schau hin, der Wichser gibt doch schon Gas.“

Wutentbrannt rannte Helge zum Viano zurück. So schnell hatte Liz ihn noch nie laufen sehen. Er riss den Kofferraum auf, zog den Wagenheber heraus und löste bereits die Schrauben, des rechten Hinterreifens. In weiter Entfernung, konnten die beiden bereits die ersten sechs Silhouetten erkennen, die durch Fritzeks Schüsse angelockt worden waren. Noch humpelten sie orientierungslos über die Straße und folgten einem längst verklungenen Geräusch, aber in wenigen Minuten würden sie den Wagen und die beiden Lebenden erspäht haben und sich an ihre Lust auf Fleisch erinnern. Helge beunruhigte das keine Sekunde, denn er war sich sicher, dass sie bestimmt noch eine viertel Stunde brauchten, bis sie eine wirkliche Gefahr werden würden. Er hatte die Schrauben schon gelöst und kurbelte den Wagen hinauf, um den Reifen abzunehmen. Nachdem er den ersten Reifen auf die Achse gewuchtet hatte und die Schrauben wieder festgezogen waren, öffnete er das Ventil des Wagenhebers und der Wagen glitt wieder hinab. Fünf Minuten waren vergangen, in denen Liz die kleine Horde im Hintergrund beobachtet hatte. Sie konnte Helge nicht wirklich zur Hand gehen und schätzte lieber, wie viele Meter die verfaulten Monster in der Minute zurück legten. Sie kam zu dem Schluss, dass es zu viele waren und tippte Helge auf die Schulter, der bereits mit dem zweiten Reifen beschäftigt war. Allmählich wurde sie nervös.

„Nichts für ungut, Helge, aber wir müssen einen Zahn zulegen. Das sind nur noch hundert Meter, oder so. Haben wir noch eine Pistole im Viano?“

„Meine Fresse, Liz. Noch ein paar Minuten. Ich hab die Schrauben gleich drin!“, ächzte Helge, der Schwierigkeiten hatte, den fünfzehn Kilogramm schweren Reifen so zu justieren, dass die Löcher der Felge mit denen des Radträgers überein stimmten. „Schau mal ins Handschuhfach. Da müsste noch eine sein.“

Die Biester kamen immer näher, aber nach weiteren zwei Minuten hatte Helge auch den zweiten Reifen montiert und sprang in den Wagen.

„Scheiße verdammt“, Helge schlug auf das Lederlenkrad des Vianos. „Nur eine Knarre, kein Sprit und unsere Fressalien sind auch fast weg. Dieser verfluchte Wichser! Am liebsten würde ich ihm die Haut abziehen und sie ihm zu fressen geben!“

„Hilft alles nichts, du Pappnase“, murmelte Stefan von der Rückbank aus. Er klang fertig und geschwächt. Seine Gesichtsfarbe war noch immer mehr grau als orange. „Ihr Arschgeigen ihr. Ihr habt mir halt echt die Hand abgeschlagen!“

Stefan sah auf den verbundenen Stumpf. Er pochte wild und strahlte einen dumpfen Schmerz in den gesamten restlichen Arm aus. Dann sah er erneut auf seinen Arm und ihm fiel auf, dass ihm nicht nur die Hand fehlte. Liz hatte sich auf ihrem Sitz bereits nach hinten gedreht und sah Stefan sorgenvoll an, brachte aber kein Wort heraus.

„Wo ist meine Uhr, Liz? Bitte sag mir nicht, dass sie irgendwo auf der Straße liegt und ein Zombie mein Blut von ihr lutscht.“

Helge registrierte die geistige Anwesenheit Stefans wohlwollend, zog es aber vor, wieder so schnell wie möglich voran zu kommen.

„Du Penner! Das war nicht gerade einfach!“, jammerte Liz. Ihr schossen schon wieder die Tränen in die Augen. Einerseits vor Erleichterung, dass Stefan wieder bei Bewusstsein war, andererseits, weil sie die Aktion mit der Hand ziemlich mitgenommen hatte. „Sollen wir uns jetzt entschuldigen? Ich mein, wir wollten dir das Leben retten!“

Stefan schüttelte sich. Der Schmerz brachte ihn fast zum Würgen. Er sah Liz an und wusste, dass sie alles richtig gemacht hatten, hatte aber bei weitem nicht die Kraft, die beiden dafür auch noch zu beglückwünschen. Stattdessen hob er den Stumpf und verzog sein Gesicht zu einer irren Grimasse, die ein Lächeln hätte sein sollen.

„Halt den Arm ruhig, Stefan“, sagte Helge, der sich auf die Straße konzentrierte.

Liz kramte in den Taschen ihrer Outdoor-Jacke und zog die Seiko hervor, von der sie wusste, was sie Stefan bedeutete.

Er streckte seinen rechten Arm vor, damit Liz ihm die Uhr anlegen konnte.

„Hältst du mir auch die Eier, wenn ich mir einen runterholen will?“, kommentierte Stefan die Aktion trocken.

„Das werde dann wohl ich machen müssen“, antwortete Helge für Liz. „Immerhin bin ich schuld, dass dir die Hand fehlt“

Helge war erleichtert, dass Stefan seinen Humor noch nicht verloren hatte.

„Nene, lass mal. Ich will dich dafür nicht auch noch belohnen“, erwiderte Stefan und legte seinen Stumpf so vorsichtig wie möglich auf den Oberschenkel. Neben all dem Schmerz, konnte er seine Hand noch immer fühlen. Wenn er die Augen schloss, spürte er, wie sich seine linke Hand öffnete und zusammenzog, nur, um danach in einem irren Schmerz zu explodieren. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken.

Helge prüfte die Anzeigen. Der Tank war noch fast zur Hälfte voll. Wenn nichts Blödes dazwischen käme, würde das gerade so bis nach Livorno ausreichen. Vor ihnen lag ein weiterer Tunnel. Helge sah auf das Navi und erkannte, dass sie dieser durch das Gebirge Luganos und damit zum Luganer See bringen würde. Obwohl er noch immer die Hoffnung hatte, den Bürgermeister einholen zu können, bremste er vorsichtshalber ein wenig ab. Der Tunnel war länger als die letzten und führte durch die komplette Gebirgskette. Immerhin war er frei befahrbar. Nach wenigen Minuten erkannte er schon den Lichtkegel am Ende des Tunnels. Vor ihnen lag eine langgezogene, etwa neunhundert Meter lange, vierspurige Straße, die sie über den Damm des Luganer Sees bringen würde. Der See lag inmitten einer hohen, grünen Gebirgskette und gab, mit den im Hintergrund dunkler werdenden Gewitterwolken, ein apokalyptisches Bild ab. Liz sah sich die voraus liegenden Meter genau an.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte sie fassungslos beim Anblick der sich stauenden Wagen. „Über wie viele Brücken sind wir jetzt schon gefahren? Auf Zweidrittel davon stand dieser verdammte Stahlmüll jetzt schon. Warum? Ich kapier es nicht! Warum immer auf Brücken?“

„Beruhige dich“, sagte Helge. „Diesmal ist das vielleicht unser Vorteil. Schau da vorn. Der graue Pickup. Das könnte der Amarok sein.“

„Scheiße ja, du hast Recht!“, stieß Liz überrascht aus.

Stefan verstand gar nichts mehr. „Wieso der Amarok? Was macht der da vorne?“, fragte er verwirrt.

„Den hat uns derselbe Kerl abgenommen, der auch die Untoten in den Tunnel gelockt hat“, erklärte ihm Helge. „Erinnerst du dich an den schrägen Typen mit Halbglatze und der Brille, mit den dicken Gläsern?“

„Golum? Ja, klar! Der Wichser war das also!“

Stefans Puls beschleunigte sich automatisch, und ließ seine Wunde umso schmerzhafter pochen. Er biss die Zähne zusammen und zischte durch sie hindurch. „Wenn ich den in meine restlichen Griffel bekomme, schieb ich ihm meinen Stumpf so tief in den Hintern, dass er sich wünscht, es wäre dein Pimmel, Helge.“

„Ha! Ich werde es zuerst mit meiner Faust probieren, wenn dir das recht ist.“

Stefan versuchte sich zu beruhigen und wartete, bis der Schmerz wieder auf normales, kaum erträgliches Niveau, nachließ.

„So Jungs, genug jetzt mit dem vorpubertären Gelaber“, ermahnte Liz die beiden, weil sie das Gerede manchmal an die Kerle erinnerte, die sie und ihre Schwester entführt hatten. „Er ist es tatsächlich. Überlegen wir uns lieber, wie wir ihn aus dem Wagen bekommen.“

„Rammen?“, fragte Helge.

Stefan stutzte.

„Besser keine halsbrecherischen Manöver. Dann sind vielleicht die Autos hinüber“, antwortete er.

„Gut, dann versperre ich ihm von hinten den Weg und wir kreisen ihn ein.“

„Könnte klappen“, zischte Liz.

Als sie das letzte Mal so großen Hass empfunden hatte, vergiftete sie Rich mit dem Eintopf.

„Holen wir ihn uns!“, brüllte sie.

Helge steuerte den Wagen auf den Damm und an der kleinen Landzunge, die sich auf der rechten Seite entlang streckte, vorbei. Direkt auf die Ansammlung der ausgeschlachteten Wracks zu. Er ließ den Wagen ausrollen, um die Lage besser einschätzen zu können. Der Damm war nicht besonders hoch. Höchstens drei Meter, so dass sie bis aufs Wasser hinab sehen konnten. Der See sah wüst aus. Überall hatten sich Boote an der Betonmauer des Damms festgesetzt. Teilweise ragten nur noch die Masten, der vom See verschlungenen Boote, in die Höhe. Vor Monaten musste der Blick über den See hinweg und auf Lugano ein atemberaubender gewesen sein. Nun war es nur noch das gewohnte Antlitz des Chaos.

Der Amarok stand direkt vor den Wracks. Von Fritzek fehlte jedoch jede Spur.

„Wo ist der Hurensohn?“, fragte Liz.

Stefan, der mit seinen Stumpf im Schoß zu Liz und Helge vorgebeugt saß, wurde allmählich nervös.

„Da stimmt was nicht. Der würde den Wagen doch nicht allein lassen“, stellte er fest.

Schlagartig splitterte die Windschutzscheibe des Vianos auf Höhe von Liz Kopf und ein lauter Knall drang zeitgleich mit den ersten Glassplittern ins Wageninnere. Liz duckte sich sofort weg und schlug sich dabei fast den Kopf an der Seitenscheibe an. Als Kugeln direkt neben ihm einschlugen, fühlte sich Stefan augenblicklich an den Tunnel erinnert. Panisch drehte er sich um, um sich vor anrückenden Untoten zu schützen, merkte aber sofort, wie dämlich seine Reaktion war und wunderte sich über seine extreme Schreckhaftigkeit. Nachdem er sich kurz verwirrt umgesehen hatte, fand er das Austrittsloch schließlich im Schulterbereich von Liz Sitz.

„Der Bastard schießt auf uns!“, fluchte Stefan, und erzählte den beiden anderen damit nichts Neues.

„Duckt euch, verdammt!“, brüllte Helge und begann Schlangenlinien zu fahren, um die Angriffsfläche zu verringern.

Wieder ertönten Schüsse und schlugen in den Wagen ein. Keiner von ihnen schaffte es bis ins Wageninnere, aber das Blech der Karosserie gab bei jedem Einschlag dumpfe Schallwellen in den Innenraum ab. Entgegen aller Vernunft, beschleunigte Helge den Wagen in die Richtung, aus denen er die Schüsse gehört hatte. Nach wenigen Metern riskierte er einen Blick und konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, um den Wagen nicht frontal in die Wracks zu donnern. Die Reifen quietschten und das ABS ließ den Viano stottern. Plötzlich gab es einen Ruck und der Mercedes blieb unvermittelt stehen. Helge hatte den Wagen zu spät abgebremst und krachte mit geringer Geschwindigkeit in einen verbeulten Nissan Qashqai, der auf der Seite lag und den Weg versperrte.

„Alles klar bei euch?“, fragte Helge, der sich noch immer unter das Lenkrad duckte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Stirn rieb.

„Ja. Soweit schon. Und jetzt?“, fragte Stefan.

Liz hob den Kopf und versuchte den Glatzkopf ausfindig zu machen.

„Ich sehe ihn nicht. Wo steckt der?“

„Hinter dem Amarok. Genau unter der Fahrertür. Ich kann ihn im Rückspiegel erkennen“, antwortete Helge.

Der Viano stand zwei Meter von dem grauen Amarok entfernt, auf dessen rechter Seite. Fritzek hatte sich offenbar bereits in Sicherheit gebracht.

„Das dreckige Schwein! Ich steig aus und lenke ihn ab“, sagte Liz entschlossen. „Helge, ich versuche von hinten an ihn ran zu kommen und gebe ein paar Schuss auf ihn ab. Dann kommst du von vorn. So kriegen wir ihn.“

„Moment“, befahl Helge, der erst darüber nachdenken musste. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Vielleicht versuche ich besser, ihn zu überfahren.“

Mit einem lauten Krachen zersplitterte Helges Seitenscheibe. Fritzek ließ eine regelrechte Kugelsalve auf den Viano los. Immer wieder schlugen Kugeln in das Blech. Stefan kauerte bereits auf der rechten Seite der Rücksitzbank und Helge duckte sich soweit wie möglich zu Liz herüber, die ihren Entschluss bereits gefasst hatte. Ohne einen weiteren Ton zu sagen, verließ sie den Wagen und lief zum Heck des Mercedes.

„Gib auf, du Monster! Wir haben dich umzingelt!“, schrie sie in seine Richtung.

Fritzek gab keinen Laut von sich. Stattdessen antwortete er mit weiteren Schüssen. Hätte sich Liz nicht hinter den Viano gestellt, hätte Fritzek sie glatt getroffen. Sie konnte es nicht glauben. Sie lieferte sich eine Schießerei mit einem kleinen Glatzkopf. Vor einem dreiviertel Jahr saß sie noch in sterbenslangweiligen Vorlesungen über die Reaktionsmechanismen organischer Chemie. Ihr Magazin war noch fast voll und so gab sie ebenfalls drei Schüsse im Abstand von wenigen Sekunden ab. Einer schlug in einen der Reifen auf der Ladefläche ein und gab ein dumpfes Plopp von sich. Die anderen beiden verfehlen ihr Ziel vollständig und sausten über den See.

Helge nutzte die Möglichkeit. Er schlich sich, wie von Liz geplant, von vorn an den Amarok heran. Er kauerte bereits vor dem mächtigen Stoßfänger und konnte Fritzeks Füße unter dem Wagen sehen. Der stand noch immer auf Höhe der Fahrertür und lehnte sich gehockt gegen sie. Ohne lang zu fackeln, hechtete Helge um den Wagen herum. Fritzek, der die Waffe noch immer in der Hand hielt, war aufgrund der Überraschung so gelähmt, dass er nicht rechtzeitig reagieren konnte. Helge trat ihm wuchtig gegen den Arm und beförderte seine Waffe damit in den See.

„NEIIN! Bitte nicht!“, jammerte er und hielt sich den schmerzenden Arm.

Helge ging nicht auf sein Geflenne ein und verpasste dem Feigling eine mächtige Backpfeife, die seinen Kopf zur Seite fliegen ließ. Dann zog er ihn hinter dem Wagen hervor, wo bereits Stefan wartete.

„Du hast also die Untoten in den Tunnel gelassen.“

Er zeigte demonstrativ mit seinem Stumpf auf Fritzek.

„Ist doch so, oder?“

Fritzek kniete auf der Straße und blickte Stefan benommen an.

„Ihr versteht das einfach nicht“, stammelte er fast flehentlich.

„Du hast Recht“, erwiderte Stefan kühl und nahm Liz die Pistole ab. „Ich verstehe dich wirklich nicht. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Du hast einem Freund das Leben gekostet. Und vielen anderen auch. Du hast es nicht verdient, das man dich versteht, du widerliches Stück Scheiße.“

Einen winzigen Augenblick lang, dachte Stefan an die Situation im Schrebergarten, als Marty Tarek erschossen hatte. Nun wusste er, wie sich Marty damals gefühlt hatte und wie er es schaffte, so kaltblütig zu handeln.

Es war einfach gerecht.

Auge um Auge.

Es war das starke Bedürfnis, die Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Stefan legte an und verpasste dem Bürgermeister ohne zu Zögern einen Schuss ins Herz. Fritzek schaute ein letztes Mal verständnislos, dann fiel er tot nach hinten.

Liz sah den zuckenden Körper geschockt an. Fritzek rang noch ein paar Sekunden mit dem Tod. Dann machte sich ein Gefühl der Genugtuung in ihr breit.

„Ich glaube, er war sich tatsächlich bis zum Schluss keiner Schuld bewusst“, sprach sie in die Stille.

„Drauf geschissen. Der Penner musste weg“, erwiderte Helge, der sich den Viano genauer ansah. „Der Wagen ist hinüber. Er hat den Kühler getroffen. Da unten sifft es schon raus. Seht ihr?“

Helge zeigte auf die Flüssigkeit, die sich genauso schnell unter der Frontschürze ausbreitete, wie das Blut unter der frischen Leiche hinter ihnen.

„Den können wir vergessen. Kommt, lasst uns den wichtigsten Krempel schnell umladen, nicht, dass wir hier auch gleich umzingelt sind, nach dem ganzen Lärm.“

Helge und Liz luden das notwendigste Gepäck um, tankten den Amarok nach und rollten ein paar der Wagen beiseite, um über den Damm zu kommen. Stefan war noch nicht über den Berg und setzte sich wieder in den Amarok um sich auszuruhen. Die vier Ibuprofen linderten zumindest kurzfristig seinen Schmerz, konnten ihm aber nicht die Kraft zurückgeben, die er durch seinen Blutverlust verloren hatte. Er fühlte sich schlapp und wackelig auf den Beinen. Dazu kam das permanente Pochen in seinem Arm. Er sah auf den Stumpf und bewegte die fehlende Hand. Doch da war nichts mehr und Stefan fragte sich, wann sein Kopf das ebenfalls begriff. Es waren nur Impulse, die sein Hirn an etwas sendete, das nicht mehr existierte. Vorsichtshalber schnallte sich Stefan an, denn so langsam wurde ihm immer wärmer. Er dachte an den Wohnwagen auf Reichenau zurück und an Rich, wie er vor seiner Verwandlung beinahe in seinem eigenen Schweiß ertrunken war.