Kapitel 20

Mailand

„Nichts für ungut, aber so langsam muss ich echt pissen“, erwähnte Stefan nun schon zum zweiten Mal.

Die drei hatten die Alpen mittlerweile hinter sich gelassen und fuhren gerade auf Höhe Lomazzos in Richtung Mailand. Die dunklen Wolken hingen tief und schwer über den toten Maisfeldern, die sich seit Kilometern am Straßenrand entlangzogen. Die bergige Landschaft wurde zu einer tristen flachen Ebene, die einzig und allein durch die Tatsache glänzen konnte, dass sie mit jedem zurückgelegten Kilometer, näher an ihr Ziel kamen. Ein gewaltiges Unwetter in den Bergen, das nun ebenfalls über das flachere Land zog, hatte sie aufgehalten. Durch den starken Regen kamen sie nur langsam voran. Livorno war nur noch zweieinhalb Fahrstunden entfernt und Helge hatte wenig Lust, noch eine weitere Nacht im Wagen zu verbringen.

„Ohne scheiß jetzt, in zwei Kilometern kommt ein Klo, da fahren wir raus. Bitte!“, quengelte Stefan erneut beim Anblick des verwitterten Autobahnschildes und erntete dafür einen genervten Blick von Helge im Rückspiegel.

„Och Stefan“, brummte er. „Muss das echt sein?“

„Ja, muss es. Ihr habt mich doch mit Wasser abgefüllt, damit es meinem Kreislauf besser geht. Und was ist nun, jetzt pocht der Arm noch immer höllisch und ich muss zusätzlich auch noch pissen.“

„Ist ja gut. Immerhin regnet es gerade nicht. Kannst also im Trockenen strullen. In zwei Minuten fahr ich runter. Aber wieso eigentlich? Ich kann auch gleich auf der Bahn halten.“

„Nee lass mal. Fahr ruhig runter“, beharrte Stefan, der Wert auf seine Privatsphäre legte.

Helge hielt sein Wort. Er steuerte den Wagen die kurze Ausfahrt entlang und stoppte den Wagen auf dem großen Parkplatz, der von zahlreichen Pinien umgeben war und die damit den Blick auf das dahinterliegende Areal blockierten. Einige Meter entfernt stand ein kleines weißes Klohäuschen mit Flachdach. Stefan versuchte die Umgebung von der Rückbank aus zu erkunden und zerrte mit seinem gesunden Arm an Liz Lehne, um sich weiter nach vorn zu ziehen.

„Sieht doch ganz gut aus“, sagte sie zu Stefan, als er aus Versehen ihre Schulter mit seiner Hand streifte. „Soweit ist nichts Faulendes zu sehen, aber ich komme trotzdem mit. Helge, fahr doch den Wagen noch ein Stück nach vorn.“

„Oh Mann, wenn es sein muss, lass ich es doch noch im Wagen laufen“, erwiderte Stefan schnippisch.

Liz sah nach hinten und setzte ein ernstes Gesicht auf.

„Du weißt genau, warum ich so vorsichtig bin!“

Stefan gab ein tiefes Stöhnen von sich, aber natürlich wusste er warum. Umso länger die Tour dauerte, umso anstrengender war es, die ständige Anspannung aufrecht zu halten und vorsichtig zu bleiben.

Stefan kramte in der Seitentasche seiner Hose nach der Pistole und drückte auf den Entriegelungsknopf für das Magazin, dass er in seinen Schoß gleiten ließ. Es war voll. Nach wie vor. Erleichtert schob er die Waffe wieder über das Magazin und hörte es leise einrasten.

„Also gut, Mama, dann bring mich mal aufs Klo“, sagte Stefan mit einem erzwungenen Grinsen.

Die beiden stiegen aus und liefen auf das Klohäuschen zu.

„Du gehst da aber nicht wirklich rein, oder?“, fragte Liz, die mit vorgehaltener Waffe vor der verdreckten Metalltür stand und einen angeekelten Gesichtsausdruck aufsetzte.

„Hatte ich eigentlich schon vor“, antwortete Stefan. „Aber dann mach ich es mir eben hinter dem Häuschen gemütlich.“

Nachdem die beiden auch die Rückseite des Gebäudes gesichert hatten, verschwand Liz auf Nachdruck von Stefan, wieder im Wagen. Er hasste es, wenn er beim Pinkeln gehetzt, oder gestört wurde. Obwohl er richtigen Druck hatte, stand er noch immer mit geöffneter Hose an der Wand und brachte keinen Tropfen heraus. Es war ungewohnt. Die Hose hing ihm halb in den Kniekehlen, weil er sie nicht mit seiner zweiten gesunden Hand halten konnte. Im Gegenteil, er musste höllisch aufpassen, dass er nicht im Eifer des Gefechtes versuchte, sie zu benutzen und mit dem wunden Stummel irgendwo anstieß. Stefan gab sich redlich Mühe und drückte, aber es wollte einfach nicht klappen. Er war einfach zu verkrampft und redete zu sich gut zu.

„Lenk dich ab, Junge. Die anderen wundern sich bestimmt schon, was so lange dauert.“

Vor ihm stand ein großer Laster auf dem Parkplatz. Er war nur wenige Meter entfernt und machte einen intakten Eindruck. Er inspizierte ihn, in der Hoffnung, sich dadurch ablenken zu können. Der hintere Radkasten sah komisch aus. Irgendetwas steckte zwischen Reifen und Karosserie. Stefan versuchte die Umrisse des Dreckhaufens zu deuten und kniff die Augen zusammen. Kurz bevor es endlich zu laufen begann, erkannte er den Dreck als menschlichen Körper, der komplett verdreht und zerquetscht im Radkasten klemmte. Vorbei war es mit der Ablenkung.

„Stefan?“, rief Liz von hinten.

„Alles OK, Liz. Komme gleich“, antwortete Stefan und verkrampfte schon wieder.

Stefan begutachtete die gesunde Hand, die noch immer mit Halten beschäftigt war. Ihm fielen die schon etwas zu langen Nägel seiner Finger auf und er fragte sich, wie er sie mit nur einer Hand kürzen sollte. Aber das waren nur die kleinen Probleme, die ihn noch erwarten würden. Endlich öffnete sich seine Blase und er gab einen tief gelben Strahl Urin von sich. Beim Anblick der Farbe überlegte Stefan wieder, ob er tatsächlich krank sei. Er fühlte sich nicht so. Auch die Hitzewallungen waren zu seinem Glück abgeklungen. Der Druck seiner Blase ließ nun endlich nach und Stefan gab ein erleichtertes Seufzen von sich. Eine unvermittelt aufbrausende Windböe sorgte dafür, dass der Urinstrahl fast seine Schuhe einnässte. Er konnte den linken Fuß gerade noch rechtzeitig wegziehen, da glitt plötzlich die Tür des Lasters auf und ein Untoter fiel aus der Kabine. Stefan konzentrierte sich auf seinen Strahl. Es lief gerade so schön, dass Stefan unbedingt vermeiden wollte, dass er versiegte. Der Untote brach sich beim Sturz das Bein und versuchte erst gar nicht mehr aufzustehen. Stattdessen zog er sich mit den Armen und dem intakten Bein über den Boden hinweg und an Stefan heran.

„Scheiße, nur noch ein paar Sekunden du Arsch!“, zischte er ihm zu.

Der Untote war noch immer auf Distanz und kam nur langsam voran. Trotzdem schaffte er es, Stefan so sehr zu irritieren, dass er sich die letzten Tropfen unter Anstrengung herausdrückten musste. Beim Abschütteln erwischte er seine Hose doch noch mit ein paar Tropfen, war aber positiv überrascht, wie einfach er den obersten Hosenknopf mit nur einer Hand schließen konnte. Stefan lief auf den Untoten zu. Die Kreatur trug ein zerrissenes, rotes Holzfällerhemd zu einer Jeans. Stefan trat ihm mit Anlauf an den Kopf, der ungewöhnlich leicht nachgab, und seinen Hauptpreis in Form verflüssigter dunkler Hirnmasse freigab. Er sah sich den Leichnam noch einmal genauer an. Der Untote war extrem stark verwest. Ein Wunder, dass er sich überhaupt noch fortbewegen konnte, ohne zu Staub zu zerfallen.

Stefan beobachtete die schnell über den Amarok hinwegziehenden Gewitterwolken am Himmel, da hörte er auch schon wieder Helge durch Liz offenes Fenster rufen.

„Sag mal Stefan, hast du dir noch einen Geschüttelt? Was hat denn so lange gedauert?“

„Hab noch unerwartet eine Freundschaft geschlossen. Aber er war streitsüchtig, also habe ich ihm den Schädel eingetreten“, entgegnete Stefan, während er auf den Wagen zu lief.

„Dann kannst du dir ja noch in Ruhe den Hosenladen schließen, bevor noch etwas raus fällt“, erwähnte Liz beiläufig und musterte amüsiert den dunklen Fleck auf seiner Hose.

„Sag mal, Liz?“, setzte Stefan beim Einsteigen an. „Kannst du mir bei Gelegenheit mal eine Maniküre verpassen? Ich hab wenig Lust mir die Nägel wegzukauen.“

„Kommt drauf an“, erwiderte sie. „Wenn du mir eine Nagelschere besorgst, dann ja.“

„Und wenn du keine findest“, brummte Helge. „Auch kein Problem. Ich habe ja schon ein wenig Übung mit der Axt. Dann erledige ich das.“

Helge konnte sich den Spruch nicht verkneifen, wusste aber, dass Stefan diese Art von Humor verkraften konnte.

„Du Saftarsch, du! Warten wir mal ab, was wir dir noch so amputieren müssen.“

Würde seine Wunde nicht noch immer so verflucht schmerzen, hätte er darüber lachen können. Mittlerweile war er aber einfach nur froh, noch am Leben zu sein.

Helge steuerte den Wagen wieder auf die leere Autobahn. Nach einer knappen halben Stunde und einer nahezu geraden Autobahnetappe erreichten sie Passirana und mussten laut Navigationssystem in ein paar Kilometern auf die A50 abbiegen. Was das Navi allerdings verschwieg, war die riesige Mautstation und den davor entstandenen Phantomstau. Die insgesamt vier Fahrspuren führten jeweils durch ein mit Betonmauern abgetrenntes, blaues Mauthäuschen. Autos verkeilten sich in die Durchfahrten und blockierten jeglichen Weg hindurch. Helge rollte an die Stelle heran und gab ein resigniertes Stöhnen von sich, als er die Ursache für die Ansammlung der Wracks erkannte.

„Hätte ja auch mal einfach sein können. Fuck!“

„Einfach? Dann hätten wir uns einen Panzer suchen müssen mit dem wir querfeldein hätten fahren können“, murmelte Stefan vor sich her und suchte die Straße vor sich nach einer Lücke ab. Die Ausfahrt auf der rechten Seite schien zu einer Option zu werden. Sie führte jedoch auf einer mautfreien Straße ins Zentrum von Mailand, wie auch das große Schild ein paar Meter vor der Ausfahrt unheilvoll ankündigte. Stefan bekam Gänsehaut.

Mailand.

Mailand war mit großer Sicherheit nicht mehr die Hauptstadt der Mode, die es einmal war, sondern stattdessen ein eitriger Schmelztiegel, verfaulter Körper. Er sah zu Liz, die nach einer Lösung suchte.

„Keine Chance, Jungs“, stellte sie fest. „Hier kommen wir nicht weiter.“

Sie tippte auf dem Navi herum und ging Alternativrouten durch.

„Entweder wir drehen um und nehmen einen Umweg von über einer Stunde in Kauf, oder wir fahren hier ab und schlängeln uns an Mailand vorbei. Das würde laut Navi kaum länger dauern.“

„Ja, mag sein“, erwiderte Stefan. „Aber das führt uns dann über Landstraßen und durch Randbezirke Mailands. Das ist doch scheiße.“

„Und wahrscheinlich gefährlicher, als wieder zurückzufahren und eine andere Route zu suchen“, ergänzte Helge, dessen Stirn in Falten lag. „Aber egal für was wir uns entscheiden, wir sollten es schnell tun. Wir sind nicht allein.“

Vor den dreien, regte sich ein umfassendes Begrüßungskomitee. Wie ein plötzlich erwachter Ameisenhaufen bewegten sich zwischen den Wracks leblose Körper und suchten nach der Ursache für das regelmäßig wummernde Motorengeräusch.

„Also gut! Ich sage, wir nehmen die Ausfahrt und halten uns so gut es geht aus der Stadt heraus.“

Stefan sah Helge an, der tatsächlich überzeugt schien, dass das klappen würde.

„Und du meinst, dass das was wird? Alter! Ich weiß nicht“, antwortete er.

Eine Gruppe von knapp dreißig Untoten war auf den Weg zu ihnen und noch einige mehr orientierten sich im Hintergrund. Manche von ihnen krochen, andere konnten noch hektisch humpeln. Allen gemein, war aber der unstillbare Hunger, der ihnen ins Gesicht geschrieben war.

„In Gottes Namen!“, platzte es aus Liz heraus. „Nimm die Ausfahrt. Aber nur, weil ich keinen Bock habe, hier noch länger im Auto zu vergammeln.“

Helge gab sofort wieder Gas und steuerte auf die Gruppe der Untoten zu. Seelenruhig setzte er den rechten Blinker, scherte kurz nach links aus und fuhr die beiden äußersten Untoten mit einem Schmunzeln auf den Lippen über den Haufen.

„Um es mit Nelsons Worten auszudrücken: HAHA!“, kommentierte Stefan Helges Aktion.

Liz sah zu Helge herüber und verstand nur Bahnhof.

„Nelson? Hab ich was verpasst?“, fragte Liz verwirrt.

„Lass mich raten, du hast in deinem kurzen Leben noch keine einzige Folge der Simpsons gesehen, oder?“

„Nee, ist das schlimm?“

„Irgendwie schon“

Stefan wünschte sich, Marty wäre mit an Bord. Er hätte ihn sofort verstanden. Gedankenverloren sah sich Stefan die Gegend durch das sichere Fenster des Amaroks an. Die vierspurige Autobahn wurde zu einer zweispurigen Landstraße und langsam näherten sie sich wieder der Zivilisation, oder zumindest deren Überresten. Sie fuhren an öden Fabriken vorbei, eingestürzten Lagerhallen und Wohnhäusern, die bereits vor dem Ausbruch nach einer Absteige ausgesehen haben mussten. Mit jedem Kilometer, den sie näher an Mailand heran kamen, reihten sich mehrere Stockwerke hohe Vorstadtbauten dichter aneinander. Der dunkle Himmel hatte sich noch kein einziges Stück gelichtet und verbarg die Sonne weiterhin hinter schweren und tief vorbeiziehenden Regenwolken, die eine schwache Reflexion im parallel zur Straße verlaufenden Kanal erzeugten. Dem Naviglio Grande. Er trug seinen Namen, weil es sich bei ihm um einen der größten Kanäle der Stadt handelte. Den Wasserleichen nach zu urteilen, hätte es auch der Ganges sein können.

Stefan kramte nach einem weiteren Paar Ibuprofen, um seinen Schmerz zu betäuben. Aber was ihm eigentlich zu schaffen machte, war das dunkle Gefühl, dass sie gerade in den sicheren Tod steuerten.

„Schaut euch mal um“, sagte Stefan und schluckte die beiden Tabletten auf einmal herunter. „Wir sind noch immer in einem Außenbezirk Mailands und hier ist schon richtig Leben in der Bude“

Stefan meinte die Untoten, die in großen Gruppen, auf Wiesen und vor Wohnblöcken anzutreffen waren. Das dumpfe Nageln des Amaroks riss sie aus ihrer Starre und setzte sie in Bewegung. Helge fuhr im Slalom um einige große Mülltonnen herum, die umgekippt auf der Straße lagen und ihren Müll schon vor Monaten verteilt hatten.

„Wir sehen sie auch, Stefan“, erwiderte Helge, der sich nachdenklich durch den Bart strich. „Laut Navi geht es in fünf Kilometern über den Kanal und danach wieder Richtung Autobahn. Zum Wenden ist es jetzt ohnehin zu spät.“

„Schon übel, wie viele das sind“, bemerkte Liz. „Das Virus muss sich hier rasend schnell ausgebreitet haben. Sieht nicht so aus, als wären viele entkommen. Überall stehen noch geparkte Autos vor den Blöcken und die Straßen sind auch halbwegs frei. Irre. Seit dem Militärflugplatz bei Volketswil, habe ich solche Mengen nicht mehr gesehen.“

Hunderte der Kreaturen belegten eine Fußballfeld große Fläche zwischen zwei Wohnblöcken. Durch das Getrampel der Untoten, war die einstige Wiese jedoch zu einem matschigen Acker verkommen. Totgetreten von den kleinen Trippelschritten der Infizierten, die versuchten, ihre unkoordinierten Bewegungen mit ihnen auszugleichen. Mit dem ersten neugierigen Kopf, drehten sich Dutzende weitere in die Richtung des Wagens. Eine Perlenkette des Todes setzte sich in Bewegung und verfolgte das sich viel schneller bewegende Ziel.

„Klasse, uns folgt jetzt die gesamte Via Lodovico Nummer 8“, kommentierte Stefan das grausige Treiben hinter ihnen. Mit seinem neuen Handicap fühlte er sich seltsam schutzlos und dachte an sein Gewehr, dass nun irgendwo im San Bernardino Tunnel verschollen lag. Diese Zeiten waren vorbei. Nun war er für immer und ewig auf Handfeuerwaffen festgelegt.

Die Straße entfernte sich nun wieder von dem Kanal und bot freistehenden Einfamilienhäusern Platz, die man aufgrund ihres Zustandes und Alters nicht gerade als Villen bezeichnen konnte. Dennoch hatten sie in der Vergangenheit aufgrund ihrer direkten Nähe zum Wasser sicherlich einen gewissen Wert. Auch wenn zu ihrer Linken noch immer Wohnblöcke in den Himmel ragten, konnte man der Gegend bereits ansehen, dass sie nicht mehr zu den Günstigsten gehörte. Weitere Untote lösten sich aus ihrer Regungslosigkeit und schlossen sich der Via Lodovico Traube an und walzten hinter dem Amarok her.

„Schön die Ruhe bewahren“, brummte Helge zuversichtlich, als er die uneinsichtige Biegung in einigen hundert Metern Entfernung als letzte Kurve vor der Brücke identifizierte.

Zumindest konnte er das dem Streckenverlauf auf dem Navi entnehmen.

„Hinter der nächsten Kurve muss die Brücke sein. Dann ist es nicht mehr weit zur Autobahn und wir haben wieder Ruhe.“

Liz bekam von ihren Verfolgern und der angespannten Stimmung im Wagen genauso wenig mit, wie von Helges Versuchen, Stefan zu beruhigen. Sie betrachtete gedankenversunken den kleinen dunklen Fleck auf ihrem weinroten Windbreaker. Sie konnte nicht genau sagen, ob es Blut oder nur Dreck war, aber sie hatte definitiv genug Action in den letzten beiden Tagen gehabt und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich in Ruhe und Sicherheit sauber zu machen. Sie kam sich dreckig vor und hatte das Gefühl zu stinken. Ihre schönen dunkelblonden Haare trug sie mittlerweile zu einem praktischen Zopf gebunden. Das hatte nicht zuletzt den Vorteil, dass sie ihre verfilzten Haare nicht ständig vor Augen hatte.

„BREMS! Verdammt!“, brüllte Stefan von er Rückbank.

Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Liz, ob es Stefans Schrei, oder der Ruck des Bremsmanövers war, der sie schlagartig aus ihren Gedanken gerissen hatte. Aber es war der verfluchte Schmerz des Gurtes, der ihr gerade unnachgiebig in den Hals schnitt. Beim Anblick der fehlenden Brücke riss sie panikartig die Augen auf und griff mit ihrer rechten Hand ins Leere, als sie sich an der kleinen Säule in der Türverkleidung abstützen wollte, die sie dort vermutete. Der Amarok besaß jedoch nur eine kleine Schale in der seitlichen Erhebung der Tür und so wurde sie allein durch den Gurt, vor einem Aufprall mit der Windschutzscheibe geschützt.

Obwohl er die Situation als erster richtig gedeutet hatte, verpasste Stefan den Moment, sich vor dem anstehenden Manöver zu schützen. Er war nicht angeschnallt, weil er in der Mitte saß und rutschte jetzt so plötzlich nach vorn, dass er mit dem verletzten Armstummel gegen die Sitzlehne stieß. Ein blitzartiger Schmerz durchschoss ihn und brachte ihn an die Grenze einer Ohnmacht. Er keuchte und fluchte innerlich gegen die unvermittelt aufkeimende Schwärze vor seinen Augen.

Helge hatte es ein wenig besser, denn er konnte sich am Lenkrad festhalten und so die Kontrolle über den Wagen behalten. Der Abgrund kam bereits gefährlich nahe und ihm wurde plötzlich klar, dass der Bremsweg nicht ausreichen würde. Der Abstand betrug gerade noch zehn Meter und da der VW sechzig Sachen drauf hatte, standen die Chancen ziemlich gut, dass der Wagen in den Kanal stürzen würde. Helge trat das Bremspedal nach wie vor ins Bodenblech, aber das ABS konnte auch nicht mehr tun, als wie ein Maschinengewehr zu rattern und den Wagen kontrolliert abzubremsen.

Mit einem fiesen Ruck, der sich eher wie ein Sturz in die Tiefe anfühlte, rutschten beide Vorderräder über den Abgrund. Der Wagen machte einen Satz nach unten und schlug mit dem Unterboden auf dem aufgerissenen Stahlbeton auf. Irgendetwas am Unterboden verkeilte sich an der Kante und beendete die Reise des Wagens mit einem weiteren kleineren Ruck. Das Knattern des ABS war auf einmal verklungen und Stille breitete sich aus. Allein der Leerlauf des Motors gab noch ein leises Nageln von sich.

Helge sah sich ungläubig um und konnte durch die Windschutzscheibe einen Teil des Kanals sehen. Aus ihm ragten verschieden große Trümmerteile der Brücke heraus. Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke stand ein großer Panzer. Das erste Zeichen überhaupt, dass sich die zivilisierte Gesellschaft gegen die Übermacht der Untoten gewehrt hatte. Liz berappelte sich langsam aus ihrem Gurt.

„Alle in Ordnung?“, fragte sie und rieb sich den Hals an der Stelle, an der der Gurt ihr die Luft abgeschnitten hatte.

Helge drehte sich langsam in seinem Sitz, weil er sich nicht sicher war, wie weit der Wagen über den Abgrund gerutscht war und ob ihn plötzliche Bewegungen nicht doch noch in die Tiefe befördern würden. Er sah zu Stefan, der sich mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht den Armstumpf hielt. Frisches Blut breitete sich in seinem Verband aus.

„So weit ja. Stefan? Bei dir auch?“

„Blöde Frage. Ich kotz vor Schmerz gleich in den Wagen, verdammt!“

Überraschend bebte der Wagen erneut. Aus dem hinteren Bereich des Wagens waren Schläge zu hören.

„Gott, was für eine Scheiße! Unsere madenverseuchten Verfolger sind da“, fluchte Helge. „Wir müssen uns beeilen!“

Verfolgt von Liz Blicken kramte er hektisch im Handschuhfach und holte eine Rolle mit gelben Säcken heraus und gab sie Stefan.

„Hier. Wickel deinen Arm damit ein. Irgendwo auf der Rückbank liegen auch Kabelbinder! Und gib mir den Rucksack mit den Waffen.“

Stefan nahm verwirrt die Rolle entgegen und tat was Helge sagte.

„Was zum Teufel hast du vor?“, fragte Liz.

„Na was wohl? Wir müssen hier raus! Hinter uns wimmelt es gleich von Untoten. Bevor die uns von der Brücke befördern, springe ich lieber selbst ins Wasser. Das sind höchstens drei Meter.“

Wieder waren Schläge zu hören, die den Wagen nun beben ließen. Das Metall des Unterbodens scheuerte am Beton und gab ein Krächzen von sich.

„Oh fuck! Uns bleibt auch nichts erspart“, stellte Liz fest. Im Rückspiegel konnte sie die Untoten sehen, die den Wagen schon umzingelt hatten und auf ihn einschlugen.

„Ich muss zu euch vor. Hier komme ich nicht raus“, meinte Stefan.

Durch die Seitenfenster geiferten die Infizierten zu ihm hinein und ließen ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er musste auf die Zähne beißen, als er den dritten Kabelbinder festzog, war aber nun bereit, ins Wasser zu springen.

Liz wollte gerade vorsichtig die Tür des Wagens öffnen, da fiel ihr die Tüte mit Lebensmitteln ein.

„Was ist mit unserem Essen?“

„Liegt auf der Ladefläche. Da kommen wir nicht mehr ran“, entgegnete Helge. „Und jetzt raus mit dir!“

Liz schnallte sich ab und öffnete vorsichtig die Tür. Die Untoten versuchten nach ihr zu greifen, reichten aber gerade so zur B-Säule. Sie sah nach unten, erkannte aber auf den ersten Blick nicht genau, ob das Wasser tief genug war und ob nicht ein Teil der Brücke direkt unter der Oberfläche auf sie wartete. Es war ein Sprung ins Ungewisse, aber die einzige Möglichkeit, die sie hatten. Sie schluckte ihre Angst hinunter und peilte eine Stelle möglichst weit weg von der Brücke und von der Betonwand des Ufers an. Dann stieß sie sich vom Sitz ab und sprang. Helge sah, wie einige der Untoten ihr folgten und ebenfalls nach unten fielen.

„PASS AUF!“, schrie er ihr hinterher und hörte das Klatschen, als ihre Körper auf dem Wasser aufschlugen.

Sekunden, die sich für Helge wie Minuten anfühlten, vergingen und trieben ihm die Sorgenfalten ins Gesicht. Dann hörte er sie endlich von unten rufen.

„Alles gut! Die Hackfressen können hier nicht stehen. Ist tief genug!“, rief sie aus einigen Metern Entfernung. Sie war bereits Kanal abwärts geschwommen und in Sicherheit.

Helge öffnete ebenfalls die Tür. Das Knarzen des Wagens wurde immer lauter. Bald würde er der Last, die die Untoten hinter dem Wagen ausübten, nachgeben.

„Also, jetzt gilt es. Brauchst du Hilfe, Stefan?“

„Nee Mann, geht schon“, antwortete er und zog sich auf den Beifahrersitz vor.

Helge prüfte ebenfalls die Wasseroberfläche und konnte die Köpfe der Untoten einige Meter rechts von seiner Position aus sehen. Sie trieben im Wasser und ruderten wild mit den Armen, dann gingen sie unter. Hinter ihm fielen zwei weitere Infizierte mit einem ekelhaften Grunzen in den Kanal. Er sah zurück. Es kamen noch viel mehr.

„Nun spring schon, Helge. Der Wagen kippt gleich!“

Helge schulterte den Waffenrucksack und ließ sich fallen. Sein massiger Körper glitt mit einem lauten Platsch ins kühle Nass, aber etwas extrem scharfes bremste seinen Fall unter der Wasseroberfläche abrupt ab und riss sein rechtes Bein nach oben. Es fühlte sich an, als wäre er auf einen überdimensionalen Zahnstocher gefallen. Der plötzliche Schmerz trieb ihm die Luft aus der Lunge. Er befand sich einen halben Meter unter Wasser und riss die Augen auf um zu sehen, was mit seinem Bein los war. Eine senkrecht nach oben stehende Stange aus Bewehrungsstahl hatte sich durch seinen Oberschenkel gebohrt und schaute ein paar Zentimeter aus ihm heraus. Der Schmerz explodierte in seinem Bein und sorgte dafür, dass Helge wild nach Luft schnappte und dabei Unmengen an Wasser schluckte. Viele Möglichkeiten blieben ihm nicht. Würde er das Bein nicht losreißen, würde er ertrinken, oder vom Wagen erschlagen werden, der gleich von oben herabfiel. Und wenn die Eisenstange die Arterie erwischt hatte, würde er sowieso verbluten. Der Untote, der unvermittelt vor ihm auftauchte und nach ihm griff, beschleunigte seine Entscheidungsfindung. Helge riss sein Bein mit zwei kräftigen Bewegungen von dem Spieß herunter und machte sofort zwei kräftige Züge, um aus der Gefahrenzone zu entkommen.

Beim Auftauchen ließ er seinem Schmerz freien Lauf und stieß einen kräftigen Schrei aus. Stefan, der schon bei Liz wartete und seinen Arm aus dem Wasser hielt, sah sich um und wollte nach ihm fragen, da hörte er plötzlich das Knarzen des Wagens, gefolgt von einem lauten, blechernen Aufschlag und splitterndem Glas. Die Untoten hatten es geschafft, den Wagen von der Kante zu schieben. Helge sah zurück. Der Amarok stand kopfüber mit halber Front im Wasser. Die Ladefläche ruhte an einem riesigen Stück Beton, dass aus dem Wasser ragte und ihn daran hinderte, umzukippen. Helge kraulte mit schmerzverzerrtem Gesicht an der kleinen Gruppe von Untoten vorbei, die verzweifelt versuchten, nicht unterzugehen. Die Wunde schmerzte dumpf und verströmte unfassbare Hitze. Sein Bein ließ sich kaum richtig bewegen.

Von dem Vorsprung aus, drang nun eine irre Menge an Untoten, die sich gegenseitig von der Kante beförderten. Wie Lemminge fielen sie nach unten und schlugen sich im besten Fall den Kopf an den Betonplatten auf.

„Was ist passiert um Himmels Willen?“, fragte Liz besorgt. „Du siehst bleich aus. Alles in Ordnung bei dir?“

„Nein, nicht ganz.“ Helge sah an seinem Körper hinab und versuchte im Trüben Wasser etwas zu erkennen. „Ich hab mir ne Eisenstange beim Sprung aus dem Wagen durch den Oberschenkel gejagt.“

Er biss sich auf die Zähne. Jeder neue Herzschlag beförderte einen neuen Schmerzensstoß an sein Hirn.

„Oh Kacke. Wie schlimm ist es?“, fragte Stefan, der durch seine nasse Brille kaum etwas erkennen konnte.

„Na, schön ist es nicht. Aber wenn es eine Arterie erwischt hätte, wäre ich wohl schon hinüber. Kann sein, dass es nur ne Fleischwunde ist.“

„Kannst du schwimmen?, erwiderte Stefan. „Da hinten ist ein Vorsprung, da schauen wir uns dass mal an.“

Die drei schwammen den Kanal wieder abwärts und zogen sich an der Plattform aus dem Wasser. Eisenbeschläge, die in die Kanalwand getrieben worden waren, formten eine Leiter. Vorerst hatten sie jedoch nicht vor, den Kanal zu verlassen. Helges Bein ruhte ausgestreckt auf dem Boden. Es sah nicht gut aus. Seine Lederhose war auf beiden Seiten seines Beins aufgerissen und noch immer strömte Blut aus den Eintrittswunden.

„Scheint tatsächlich nur eine Fleischwunde zu sein“, stellte Liz erleichtert fest, die den Oberschenkel genau untersuchte.

„Nur? Er blutet wie ein Schwein!“, erwiderte Stefan.

„Zum Glück weißt du nicht, wie du geblutet hast, als wir dir deine Hand abgenommen haben“, raunte Helge trocken.

„Mist ist nur, dass wir es nicht verbinden können“, stellte Liz fest und runzelte die Augenbrauen.

„Würde ich jetzt so nicht sagen.“

Stefan zog die Müllsäcke aus seiner Weste und gab sie Liz.

„Okay. Perfekt! Steril geht anders, aber fürs Erste dürfte das wenigstens die Blutung stoppen“

Helge verzog erneut das Gesicht. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten.

„Na danke“, sagte er. „Sind wir hier bei Praxis Dr. Frankenstein, oder wie?“

„Hey, hey“, antwortete Stefan. „Sei mal froh, dass wir dir dein Bein nicht einfach abschlagen.“

Nachdem Liz Helges Wunde so gut verbunden hatte, wie nur irgend möglich und sie kein Blut mehr zu Tage förderte, setzten sie ihren Weg durch den Kanal fort. Stefan und Helge ließen sich größtenteils nur durch das dreckige Wasser treiben. Sie waren völlig entkräftet und kamen nur langsam voran. Immer wieder mussten sie Leichen und Untoten ausweichen. Alle drei hatten sie Angst, dass die Kreaturen unter Wasser auf sie lauerten und schwammen daher so weit wie möglich auf der Wasseroberfläche. Nach einem Kilometer erreichten sie wieder den Anfang des Bezirks und sahen die großen Wohnblöcke, mit denen das Unheil seinen Lauf genommen hatte. Sie schwammen noch einige Meter weiter, bis sie eine der Plattformen erreicht hatten, die sie mit einer Leiter nach oben führte und gingen an Land. Völlig durchnässt und außer Atem standen die drei an der Straße und sahen sich um. Helge musste sich an der Kanalbrüstung abstützen. Sein Bein war so stark lädiert, dass er kaum stehen konnte. Zu Fuß würde er es nicht weit schaffen. Er öffnete den Rucksack und verteilte Pistolen und frische Magazine an die anderen. Während Liz mit Stefan auf die Suche nach einem neuen Wagen ging, wartete er am Kanal und behielt die Gegend im Auge. Sie hatten tatsächlich alle Untoten von hier weggelockt und nun wenigstens freie Bahn. Nach einigen Minuten hörte Helge endlich einen Wagen heranfahren.

„Nicht wirklich, oder? Da passe ich ja kaum allein rein“, stellte Helge ungläubig fest und sah sich den kleinen Wagen an.

„Tja, Helge. So ist das halt, wenn man eine Frau auf Autosuche schickt. Aber hey, immerhin ist der Tank noch halb voll.“

Liz stieg aus dem roten Fiat 500, klappte kommentarlos den Sitz zur Seite und ließ Helge einsteigen. Dann steig sie selbst wieder ein und setzte sich ans Steuer.

„Also Jungs. Ich finde ihn schön. Vor allem die Farbe gefällt mir.“

Der letzte Satz brachte selbst Helge wieder zum Lachen.

„Kein Navi, oder?“, fragte er noch immer grinsend.

„Nee, aber dafür ein riesiges Schiebedach!“, erwähnte Stefan augenzwinkernd.

„Gut jetzt. Hauptsache die Kiste läuft“, entgegnete Helge.

Er überlegte. Ohne Navi und mit dem Chaos im Hintergrund, mussten sie eine andere Route nehmen. „Wie wäre es, wenn wir wieder ein Stück zurück fahren und die Ausfahrt nach Genua nehmen?“

„Genua?“, fragte Liz völlig ahnungslos, denn sie wusste nicht ansatzweise wo das lag. Auch Stefan musterte Helge interessiert.

„Ja Genua. Liegt genau südlich von hier am Meer und hat einen Hafen. So umgehen wir die nächsten großen Städte, wie Parma und Modena und können schauen, ob wir da ein Boot auftreiben.“

Liz sah auf die Tankanzeige und überlegte, wie weit man mit einem halben Tank im Fiat wohl kommen würde. „Wie lange brauchen wir von hier in etwa? Wie weit ist Genua denn weg?“

„Ich würde sagen so zwei Stunden. Auf jeden Fall liegt es näher als Livorno. Und ein Boot brauchen wir sowieso, um zur Insel zu kommen“

„Das heißt“, begann Stefan „Wir scheißen auf Livorno und fahren nach Genua, suchen uns dort am Hafen ein Boot und legen den Rest des Weges auf dem Wasser zurück?“

„Genau. Wir schippern mit dem Ding so lange an der Küste entlang, bis wir Livorno erreichen. Von dort kenne ich mich aus. Aber eigentlich müssten wir Gorgona dann bereits gesehen haben.“

Die Aussicht auf eine längere Bootsfahrt gefiel Stefan und lenkte ihn von seinen Schmerzen ab. Seit einer Stunde versuchte er, seine Muskeln und Sehnen nicht mehr anzuspannen. Sein Gehirn hatte sich noch immer nicht auf den Verlust eingestellt, und so kam es immer wieder vor, dass er sein Handgelenk bewegen wollte, was in einem stechenden Schmerz endete, weil die Sehnen an der Wunde zogen.

„Okay“, erwiderte Liz. „Umso eher wir auf dem Wasser sind, umso besser.“

Liz kuppelte ein und ließ die Vorderreifen quietschen. Der kleine Wagen schoss der Autobahn entgegen.