Kapitel 16

Der Tunnel

„Scheiße Helge. Vielleicht war das doch nicht so eine gute Idee. Ich steh auf mein Gewehr.“

„Nun, immerhin gehen sie einen Kompromiss ein. Ist doch schon mal ein Schritt auf uns zu, oder?“

„Ja und jetzt nimm endlich die Hand runter. Du bist nicht Spock und wir sind hier auch nicht bei Begegnung der dritten Art

„Irgendwann bekommst du von mir noch nen Satz heiße Ohren, Stefan“, brummte Helge und nahm die Hand wieder runter.

Die beiden beobachteten, wie der Maschendrahtzaun von seinen Verankerungspunkten gelöst wurde und ihre Waffen von einem jungen Mann aufgesammelt wurden, der vermutlich im selben Alter war wie Bastian.

„Fahrt eure Fahrzeuge rein und parkt am besten hinter dem Wohnmobil, da ist noch genug Platz“, sagte der Pilot, der die Neuankömmlinge unter den neugierigen Blicken der Tunnelbewohner herein winkte.

Helge und Stefan gehorchten wie befohlen und fuhren die beiden Wagen langsam zu ihrem Platz.
Frank wartete schon auf die vier Neuankömmlinge und lotste sie direkt in seinen Wohnwagen. Bevor er selbst einstieg, hielt er jedoch eine kleine Ansprache an die zerlumpten Gestalten, die im Schatten des Tunnels warteten.

„In Anbetracht unseres Besuchs, findet die Ausgabe des Essens ein wenig später als sonst statt. Ich werde euch später darüber informieren, welche Neuigkeiten unsere Besucher zu berichten hatten.“

Die Leute gaben ein leises Raunen von sich, protestierten aber nicht weiter und zogen wieder ab.

Liz stieg als letzte in den Wohnwagen und horchte interessiert mit. Der Anblick der Menschen hatte sie erschreckt. Sie waren schmutzig und sahen abgemagert aus. Sie erkannte hauptsächlich Alte, Frauen und Kinder.

„Jungs, irgendwie macht mir das hier alles Angst.“

„Entspann dich, Liz“, erwiderte Stefan, der es sich bereits in der Sitzecke des Wohnwagens bequem gemacht hatte. „Die sehen jetzt nicht unbedingt gefährlich aus. Außerdem haben wir alle noch unsere Pistolen.“

Liz verzog das Gesicht und drehte sich erschrocken um, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

„Ich weiß, nicht der schönste Anblick“, sagte Frank, der Liz Blick bemerkte.

„Aber wir sind hier sicher und haben genug zu Essen. Für uns besteht aktuell keine Notwendigkeit, hier zu verschwinden. Außerdem sind wir zu viele, um alle mit dem Heli zu flüchten.“

Die Runde stellte sich gegenseitig vor und Frank begann so zielstrebig, seine Erklärungen fortzusetzen, als hätte er noch einen weiteren Termin.

„Als die Epidemie bei uns ankam, wurden wir genauso davon überrascht wie der Rest der Welt auch. Die Untoten drängten uns aus dem Dorf. Aber wir hatten Glück, zwei Lastwagenfahrer hatten den Tunnel bereits blockiert, als wir vor den Untoten auf die Autobahn geflüchtet sind. Einige haben es geschafft und sind mit ihren Wagen abgehauen. Viele aber, zumeist die Schwachen, also Frauen und Kinder, haben sich in den Tunnel geflüchtet. Die meisten der Männer gingen beim Versuch drauf, den Tunnel endgültig abzusperren.“

Stolz reckte der Pilot sein Kinn in die Höhe, bevor er weitersprach.

„Ich habe mich irgendwann mit meinem Neffen allein zum Hubschrauber durchgeschlagen, der noch im Dorf an der Rettungsstation stand. Ich bin Pilot der Bergrettung, müsst ihr wissen.“

Frank machte eine lange Pause, als würde er in Gedanken die letzten Monate erneut durchmachen.

„Klar, ich hätte einfach flüchten können. Aber die Leute hatten ja kaum noch Nahrung. Irgendwann waren alle Fahrzeuge durchsucht. Da war nichts mehr. Und seitdem kümmere ich mich um diese Leute, als wären sie meine Familie. Ich hatte einfach keine andere Wahl.“

Alle hörten Frank gespannt zu. Aber er sah keine Notwendigkeit noch weiter in seiner Vergangenheit herumzustochern.

„Ihr wollt also nach Livorno?“, durchbrach Frank die unangenehme Stille.

„Ja. Nach Livorno. Wir vermuten dort ein paar Verbündete.“

Stefan wählte seine Worte sehr vorsichtig. Er konnte sein Gegenüber keinen Millimeter einschätzen und hielt es für besser, die Insel erst einmal nicht zu erwähnen.

„So“, antwortete Frank skeptisch. „Gut. Das ist machbar. Es wird euch aber einiges kosten. Wir wollen jeweils zwei Drittel eurer Waffen und Vorräte. Außerdem eure Fahrzeuge. Aber die braucht ihr dann ja sowieso nicht mehr. Wie viel Nahrung habt ihr?“

Franks Direktheit brachte Stefan aus dem Konzept. Helge nutzte die Gelegenheit, ebenfalls einen Teil zur Verhandlung beizutragen.

„Gerade genug für uns vier, sehr viel ist es nicht mehr“, stapelte er tief.

„Nun gut, die Details klären wir dann morgen“, würgte er Helge ab, um keinen Zweifel an der Höhe seiner Forderungen aufkommen zu lassen. „Jetzt ist eigentlich Essensausgabe. Ihr dürft euch natürlich gern umsehen. Vorher aber noch ein paar Einzelheiten zum Tunnel selbst. Die Einwohner verteilen sich auf etwa zweihundert Meter in die Röhre hinein. Ein wenig weiter, kommt die nächste Blockade, die den Tunnel zur anderen Seite hin dicht macht.“

Der Pilot machte wieder eine Pause um zu sehen, ob die vier verstanden hatten. Sie nickten und so fuhr er fort.

„Passt bitte bei den Notausgängen auf, die sind für alle hier tabu“, er sah seine Gäste eindringlich an. „Die Türen dürfen auf keinen Fall geöffnet werden. Hinter den meisten lauern lebende Leichen auf ihre Chance! Öffnet ihr sie, bringt ihr uns alle in Gefahr!“

Wieder machte Frank eine Pause. Stefan sah zu Helge, der versuchte, die vielen Informationen zu verarbeiten.

„Bitte habt Verständnis, dass ich meinen Pflichten als Gastgeber in diesen Zeiten nicht ganz nachkommen kann. Bedient euch also bitte an euren eigenen Vorräten.“

Frank drehte sich um und öffnete die Tür des Wohnwagens.

„Folgt mir.“

Die vier verließen den Wagen und sahen mit an, wie der junge Kerl, der sein Gehilfe zu sein schien, Vorräte aus dem Wohnwagen holte und an die Gestalten verteilte, die in Reih und Glied an dessen Heck warteten.

„Fällt dir was auf?“, flüsterte Liz zu Stefan.

„Ja, bis auf den Glatzkopf da hinten, der aussieht wie Golum und die beiden Wachen, tatsächlich fast nur Frauen, Kinder und alte Leute. Teilweise ziemlich gruselige Gestalten.“

Liz sah sie sich genau an und erschauderte. So manch frischer Untoter sah besser aus, als diese dreckigen und kränklichen Menschen.

Frank stand neben seinem Neffen und achtete darauf, dass jeder nur die Ration bekam, die ihm zustand. Stefan nutzte die Gelegenheit und lief zu Frank herüber, um ihm zu sagen, dass sie nun ebenfalls etwas essen würden. Anschließend verschwanden sie im Viano.


***


„Was für ein abgefahrener Shit, verdammt!“, prustete Liz heraus, als die Tür des Wagens mit einem satten Klacken ins Schloss fiel.

„Das trifft es ziemlich gut“, bestätigte Stefan.

Auch Helge war nicht entgangen, in welchem Zustand sich die Menschen befanden. „Die Leute im Tunnel, oder Bewohner, wie der Typ sie nennt, sehen ja mal echt fertig aus“, stellte er fest.

„Ja“, setzte Stefan an. „Er scheint sich auch nicht sonderlich dafür zu interessieren, wo wir herkommen und was wir so erlebt haben. Der hat seine Leier heruntergespult und ist dann wieder abgedüst. Und ich frage mich schon auch, wieso er keine bessere Bleibe für seine Leute sucht. Soll er sie halt gruppenweise herausfliegen. Einen nach dem anderen.“

Bastian sah sich die Ausgabe des Essens durch die getönten Fenster des Vianos an. „Vielleicht hat er nicht genug Sprit?“

„Und wie will er uns dann bis nach Gorgona fliegen?“, antwortete Liz mit einer Gegenfrage. „Außerdem scheint er auszureichen, um in der Gegend Essen aufzutreiben. Bei der Menge an Leuten, ist das sicher nicht ganz einfach.“

„Was ist mit seinen Forderungen? Sollen wir darauf eingehen?“, wechselte Helge das Thema.

Stefan rutschte tiefer in seinen Ledersitz und machte es sich gemütlich. Helge saß ihm direkt gegenüber.

„Naja, zum einen, bleibt uns nichts anderes übrig“, erwiderte Stefan. „Und zum anderen, haben wir dennoch genug Waffen und Vorräte, um bis auf die Insel zu kommen. Das dürfte von Livorno aus ja nur noch ein Katzensprung sein. Soll er uns halt gleich am Hafen absetzen.“

„Vorausgesetzt er macht es wirklich“, setzte Liz in einem Anflug neuer Skepsis an. „Das lief bis jetzt zu einfach. Ich bleibe dabei, hier stimmt irgendetwas ganz und gar nicht!“

Das sah Stefan genauso.

„Da stimmen wir dir ja zu, Liz“, beschwichtigte er sie. „Deshalb schaue ich mich mit Helge auch gleich mal im Tunnel um. Bastian, du bewachst mit Liz bitte solange die Wagen, okay?“

Die beiden Männer verließen den Viano. Ihre Waffen hatten sie, um niemanden zu provozieren, in ihren Hosentaschen versteckt. Die Sonne war zwar noch nicht ganz untergegangen, aber sie konnten sehen, wie kleine Feuer die Wände des Tunnels erhellten und die Tunnelbewohner ihre Mahlzeit einnahmen, die aus einer Überlebensration bestand, wie sie Stefan ebenfalls schon gegessen hatte. Er rief sich dessen Geschmack in Erinnerung und spürte das fade Curryhünchen wieder auf seiner Zunge. Ihre Ankunft verlief so rasch und überstürzt, dass sie zum ersten Mal Gelegenheit hatten, sich den Tunnel aus der Nähe anzusehen. Die beiden brauchten einen Moment, um ihre Eindrücke zu verarbeiten. Die meisten der Wagen, die noch im Tunnel standen, waren auseinandergenommen und zweckentfremdet. Feuer glommen in aufeinander gestapelten Felgen. Die Steigung des Tunnels reichte offenbar aus, um den Rauch abziehen zu lassen. Dennoch waren die Tunnelwände verdreckt und voll von Ruß, der bereits in Stefans und Helges Augen brannte. Helge zog sich zuerst das T-Shirt über die Nase, als sie an einer der vielen Feuerstellen vorbeiliefen.

„Wie können die nur so leben?“, brachte Helge nur unter einem gequälten Husten heraus.

„Keine Ahnung, aber ich glaube, die haben einfach abgeschlossen. Sieh sie dir mal genau an“, flüsterte Stefan, als sie vor einer kleinen Gruppe kränklich aussehender Frauen standen, die nur apathisch in ihr Feuer starrten.

Helge sah sich noch einmal genauer um und verstand plötzlich, was Stefan meinte. Überall saßen dreckige Menschen, die sich ihrem Schicksal ergeben hatten. Vielen davon war ihre Angst wie ein Permanent-Make-Up ins Gesicht gebrannt.
Je tiefer die beiden in den Tunnel eindrangen, desto dunkler wurde er und umso ekelhaftere Gerüche drangen an ihre Nase. Eine Mischung aus Urin und Kot machte das Atmen der schweren Luft nahezu unmöglich.

Die Schatten, die die Feuer hervorriefen, ließen die Gesichter der düsteren Gestalten zu wild zuckenden Fratzen werden. Manche von ihnen wandten sich Stefan und Helge interessiert zu, als würden sie stumm fragen, was die beiden hier hinten zu suchen hatten.

Zu viel für Stefan.

„Ich gehe keinen Schritt weiter, Helge. Das wird mir echt zu unheimlich. Ich kann fühlen, dass sie uns hier hinten alle anstarren. Spürst du das nicht? Die sind doch alle völlig durch. Niemand spricht. Wie in ner Irrenanstalt für Taubstumme!“

„Ja Mann, echt unheimlich. Ich hab auch genug gesehen. Lass uns zurück gehen, bevor die uns noch auf eine Runde Scrabble einladen.“



***


Nachdem er seinen erbärmlichen Fraß in sich hineingestopft hatte, sah er sich die Ladefläche des grauen Geländewagens so genau an, wie es ihm aus der Distanz möglich war. Er stand am Tunnelende und stellte einen Fuß auf die Leitplanke, von der aus der Schutzzaun bis zum Lastwagen reichte und dort festgemacht war. Erst hatte er sich gefragt, was diese Eindringliche hier wollten, aber nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie wollten, dass Großbauer sie davon fliegt. Dieses verfluchte Schwein, dachte er. Das musste er verhindern und er konnte seine Chance bereits wittern. Diese Besucher würden sein Weg hier hinaus sein, da war er sich sicher. Ganz ohne den Piloten und seinen Hubschrauber. Bevor Großbauer die Möglichkeit hatte, sie an ihr Ziel zu fliegen, würde er den finsteren Plan umsetzen, der gerade in seinem Kopf entstand.

Fritzek strich sich die wenigen Haare über den Kopf. Es waren schon lange nicht mehr genug, um seine Glatze zu überdecken. Konzentriert starrte er auf den Wagen. Er hatte das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Dann entdeckte er plötzlich die Abdeckplane auf der Ladefläche des Amaroks, und das Bild, das er im Kopf hatte, komplettierte sich in diesem Moment. Ein freudiger Schauer überkam ihn. Bald würde er hier raus sein und sich an den Tunnelmenschen, die er so abgrundtief hasste, für ihre Abkehr gerächt haben.


***

Bastian stand gelangweilt am VW und beobachtete den merkwürdigen alten Typen, den Stefan treffend mit Golum verglichen hatte. Der Glatzkopf stand am Zaun, direkt neben dem Tunneleingang und tat so, als würde er Wache schieben, dabei starrte er aber auf den Amarok. Er konnte ihn genau dabei beobachten. Er wunderte sich ohnehin, dass sich die Neugier der Tunnelbewohner bisher in Grenzen hielt, aber vielleicht gaben sie sich auch mit den Informationen zufrieden, die sie von Frank bekommen hatten.

Der Typ verschwand wieder im Dunkel des Tunnels und Bastian verlor ihn aus den Augen. Bastian musterte die vereinzelten Feuerstellen, die einige Bereiche im Tunnelinneren erhellten und spürte eine undefinierbare Anspannung, die aus dem Dunkel dahinter nach außen drang.

Er hielt es für besser, wenn sie hier so schnell wie möglich wieder verschwinden würden. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Kerl, den Frank Köhler genannt hatte, schon wieder auf seinem Campingstuhl schlief. Sein Kopf hing tief und er hörte ihn leise schnarchen. Beim Anblick des Typs konnte er den Anflug eines Gähnens spüren. Herzhaft riss er den Mund auf und ließ seinem Bedürfnis freien Lauf. Wenn die beiden zurück waren, würde er sich genauso wie Liz aufs Ohr hauen.

Vor seinen Füssen hüpfte unvermittelt ein kleiner Stein auf und ab. Bastian war schlagartig wieder wach und musterte die Gegend. Niemand war zu sehen. Der große Vorplatz war, bis auf die beiden Fahrzeuge, den Hubschrauber, das Wohnmobil und den noch immer schnarchenden Wachposten leer. Hinter dem Viano hörte er aber plötzlich schnelle Schritte.

„Verdammt, wer ist da?“, rief er nicht allzu laut.

Bastian hob die Waffe, trat einen Schritt vom Van weg und beugte sich herunter, um unter dem Wagen nachzusehen, aber es war so dunkel, dass er nichts erkennen konnte. Wieder hörte er dieses schnelle Getrippel. Diesmal in die andere Richtung, aber noch immer hinter dem Viano.

Bastian bekam es mit der Angst zu tun. Er musste wohl oder übel nachsehen. Langsam schlich er zur Motorhaube vor und beugte sich an den Scheinwerfer. Wer auch immer dort lauerte, er musste genau auf der gegenüberliegenden Seite stehen. Bastian bereitete sich auf die Konfrontation mit einem Untoten vor und war bereit zu schießen. Es war lange her, dass er eine Waffe abgefeuert hatte, aber im Grunde verlernte man so etwas nicht.

Mit einem schnellen Schritt sprang er vor und richtete die Waffe auf den Kopf eines kleinen Jungen. Sein Herz machte einen Satz und er konnte den Reflex zu schießen, gerade so unterdrücken.

„Mensch, Kleiner! Schleich dich doch nicht so an!“, fluchte er.

Der kleine Junge zuckte zusammen und versteckte sich wieder hinter dem Scheinwerfer des Viano. Er zitterte am ganzen Leib und brachte kein Wort heraus.

„Tschuldige Kleiner. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Bastian griff nach seinem Kopf und streichelte ihn. Er hatte längere verwuschelte Haare und sah schüchtern auf den Boden.

„Du musst aber aufpassen, dass die Leute dich sehen können, damit sie wissen, dass du keines dieser Monster bist. Wie heißt du?“

Der Kleine schien sich zu beruhigen. Er war höchstens fünf Jahre alt und ziemlich schmutzig. Bastian dachte an seine eigene Kindheit zurück und hatte plötzlich Mitleid, weil der Junge hier hausen musste und kein richtiges Zuhause hatte.

„Ich heiße Sebastian. Und du?“, sagte der Kleine leise.

„Das ist ja ein Zufall“, erwiderte Bastian, der noch immer vor dem Kleinen kniete, seine Waffe aber mittlerweile weggesteckt hatte. „Ich auch, aber alle nennen mich Bastian. Oder Basti. Wo sind deine Eltern?“

Bastian ärgerte sich über seine Frage, als er das Schulterzucken des Kleinen sah, hatte aber schon eine Idee, um ihn zumindest kurzfristig aufzuheitern.

„Warte hier, Sebastian, ich bin in einer Minute zurück.“

Bastian lief zum Amarok und holte seinen wertvollsten Besitz von der Rückbank des Wagens.

„Sieh mal. Das ist Noodles“

Bastian hielt dem Jungen seinen Teddy hin.

„Der hat mir geholfen, als ich ganz allein war.“

Die Augen des Kleinen begannen schlagartig zu strahlen und er nahm den Plüschbären liebevoll in seine Arme. Dann verschwand er wieder im Dunkel des Tunnels, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

„Bitte sehr, kleine Version von mir selbst“, rief er dem Jungen leise hinterher.


***

Die vier tauschten sich noch lange über die Geschehnisse des Tages aus und alle waren sich einig, dass man dem Piloten kein Stück trauen konnte. Auf Liz Anregung hin, beschlossen sie, Frank Großbauer dazu zu drängen, sie gleich morgen mit dem Hubschrauber nach Livorno zu fliegen und falls er versuchen sollte, Zeit zu schinden, würden sie stattdessen eben einfach wieder weiterfahren.

Es war ihre erste gemeinsame Nacht im Viano und bis auf Helge bekam niemand ein Auge zu. Obwohl jeder von ihnen wusste, dass die anderen wach waren, gönnten sie sich ihre gegenseitige Ruhe, soweit es Helges Schnarchen zuließ.

Kurz bevor die Sonne ihre ersten Strahlen auf die Gipfel der Berge werfen konnte, klopfte es leise an der Schiebetür des Wagens. Draußen stand ein junges Mädchen mit lockigen, schwarzen Haaren, das sich als Sophia vorstellte und ihnen einiges zu berichten hatte.



***


Nachdem der Bürgermeister alle Schritte seines Plans wieder und wieder durchgegangen war, wartete er solange, bis in allen Ecken Ruhe eingekehrt war und die Feuer nur noch ein sanftes Glimmen von sich gaben. Dann schlich er, von seiner eigenen Genialität berauscht, in den hinteren Bereich des Tunnels.

Die nächsten Momente würden allein ihm gehören. Ihm und seiner Rache. Adrenalin schoss durch seine Venen und seine Pupillen weiteten sich durch die Anspannung so sehr, dass aus den dunkeln Umrissen, Strukturen wurden, die sonst nur das Tageslicht zum Vorschein bringen konnte.

Fritzek hatte sein Ziel klar vor Augen. Es war der einzige Notausgang, hinter den sie keines der Fahrzeuge schieben konnten, weil er etwas erhöht lag und nur durch eine Plattform zu erreichen war. In einigen Metern Entfernung hörte er Menschen schlafen. Ihr regelmäßiger Atem dröhnte beinahe in seinen überempfindlichen Ohren. In wenigen Minuten würde für hier die Hölle losbrechen. Ein Anflug von Mitleid ließ ihn kurz innehalten, aber der Gedanke an die abscheulichen Wesen, die einmal Menschen waren und nun nur noch vor sich hinsiechende, nichtsnutzige Schmarotzer, überzeugte ihn sofort wieder von der Richtigkeit seines Vorhabens. Seine Rechtfertigung war einfach. Bis auf die Quelle ihrer Nahrung, unterschieden sie sich seiner Meinung nach nicht von den Monstern außerhalb des Tunnels und so wollte er sie schlussendlich auch zu solchen werden lassen. Denn, so dachte er, das war es, was sie verdient hatten. Nichts anderes.

Fritzek kannte die Konstruktion des Tunnels genau. Als ehemaliger Bürgermeister von San Bernardino, musste er sich oft mit dessen Schutzmaßnamen auseinandersetzen. Zudem hatte er nach dem Brand im aufwendiger konstruierten Gotthardtunnel, einige Evakuierungsübungen mitmachen müssen, um im Zweifel gewappnet zu sein. Er wusste also genau, was er hinter der ersten Tür finden würde und hob einen dicken Metallsplitter auf, der direkt vor seinen Füssen lag und im schwachen Restlicht des Feuers glänzte.

Leise drückte er den breiten Sicherungshebel nach unten und hörte das Klicken, mit dem der Riegel aus seiner Verankerung glitt. Er drückte die Feuerschutztür sanft auf und blockierte sie mit dem Stück Metall. Die Hälfte seines Vorhabens war bereits geschafft. Sein Triumph war nah und zum ersten Mal seit langem, fühlte er sich wieder wie der Macher, der er einmal gewesen war. Der Entscheidungen getroffen hatte und es gewohnt war, deren Konsequenzen abzuwägen. Im fünf Meter breiten Gang hinter der Tür, war es stockfinster, aber er hatte keine Angst, denn er erinnerte sich an die vielen Betontreppen, die ihn geradewegs ins Freie führen würden.

Sich am Geländer stützend, lief Fritzek in absoluter Stille die Treppen hinauf. Als er mit den Füssen plötzlich keine weitere ertasten konnte, trat er ungeschickt ein Luftloch und stürzte fast. Er geriet ins Taumeln und konnte sich gerade so an der vor ihm liegenden Tür halten, die ihn in die Freiheit führen würde. Er wusste, dass der Pilot die Türen mit seinen Lakaien verriegelt hatte und tastete nun nach der Vorrichtung, mit der sie dies bewerkstelligt hatten. Er fand den Knoten nach wenigen Sekunden. Er griff mit den Fingern nach einer der beiden Schlingen im Knoten und zog das Ende des Kofferbandes, mit dem sie die Türbügel miteinander verbunden hatten, mit einem Ruck heraus. Der Weg war frei und Fritzek bereitete sich instinktiv darauf vor, gleich einen Sprint hinlegen zu müssen. Er hielt die Bügel der Tür fest in den Händen und lugte verstohlen durch einen schmalen Spalt hinaus.

Entgegen seiner Erwartung war kein Untoter zu sehen. Nichts. Keine Bewegung, kein Stöhnen. Fritzeks Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das wenige diffuse Licht gewöhnt hatten, dass die noch nicht aufgegangene Sonne im Hintergrund bereits von sich gab. Der Himmel leuchtete dunkelblau und ließ erkennen, dass die Nacht bereits vorbei war. Er trat nach draußen und blickte auf eine große bewaldete Wiese. Aus dem Augenwinkel erschienen ihm die Silhouetten der Bäume heller, als beim direkten Blick darauf. Er versuchte die optische Täuschung zu nutzen, um die Untoten zu finden. Zu seiner Überraschung funktionierte es und nur einen Hauch später begriff er, dass die vielen starren Silhouetten gar keine Bäume waren, sondern stehende Körper. Sie reagierten schneller als Fritzek und begannen augenblicklich mit ihrem bedrohlichen Totentanz. Fritzek taumelte erschrocken zurück und stieß die Tür panisch in den Gang. Sie kamen, er konnte ihre hektischen Schritte hinter sich hören. Es war eine ganze Armee. Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr aufzuhalten waren, nahm er mit Genugtuung wahr. Nun musste er nur noch heil in den Tunnel zurückkommen und konnte seinen Plan damit vollenden.


***

„Und das sollen wir ihr alles glauben?“, fragte Helge, der im schummrigen Licht des Wagens als einziger einigermaßen erholt aussah.

Liz stieß Stefan gegen die Schulter. „Scheiße verdammt. Das ergibt doch Sinn. Der Typ denkt gar nicht daran, uns irgendwo hin zu fliegen.“

Sophia hatte den Vieren von dem Gespräch erzählt, dass sie mitgehört hatte. Davon, dass der Pilot Probleme hatte, Waffen, Sprit und Nahrung aufzutreiben und vermutlich etwas im Schilde führte. Sie erzählte der Gruppe ebenfalls von ihrer Angst, vor einem Aufstand im Tunnel, und davon, wie der Pilot die Kränksten unter ihnen einfach umbrachte um sie zu entsorgen.

„Vielleicht will sie auch einfach nur, dass wir mit ihr abhauen, statt mit dem Hubschrauber. Schon einmal daran gedacht?“, erwiderte Stefan, glaubte aber selber nicht wirklich daran. „Okay okay, ich glaube ihr mehr als ihm“, relativierte er seine Aussage sofort wieder. „Verdammt, was tun wir jetzt? Der blöde Wichser hat unsere Gewehre. Ich hänge an meiner M-16!“

Stefan schlug verärgert gegen die schwarzen Lederpolster des Vianos.

„Tja, was tun wir? Gute Frage“, antwortete Helge. „Entweder wir hauen sofort ab, oder wir stellen den Typen zur Rede und riskieren, dass wir das mit Waffengewalt lösen müssen. Um ehrlich zu sein, finde ich, dass wir uns still und heimlich vom Acker machen sollten. Scheiß auf die Gewehre!“

„Wohl wahr, wohl wahr“, brummte Stefan. Dann hatte er sich entschieden. „Okay, machen wir uns fertig. Wir hauen ab.“

Das schmeckte Bastian ganz und gar nicht. Er wusste genau, wie es war, ganz allein zu sein und verzweifelt auf Hilfe zu warten.

„Und Sophia?“, fragte er. „Sie hat uns immerhin gewarnt und uns gebeten, sie als Gegenleistung mitzunehmen.“

„Stimmt! Ich finde auch, dass wir sie mitnehmen sollten“, pflichtete Liz ihm bei und verschränkte ihre Arme, als wollte sie damit sagen, dass sie keine Widerrede dulde.

„Gut, Platz haben wir ja genug“, erwiderte Stefan. „Bastian, dann hol du sie bitte zurück, wir sollten keine Zeit mehr verlieren. In einer halben Stunde ist es hell und jeder wird sehen, was wir vorhaben.“

Bastian griff nach seiner Pistole und verließ den Wagen.

Der Rest begann damit, Sachen zu packen und den Wagen aufzuräumen. Nur wenige Minuten waren verstrichen, dass Bastian den Wagen verlassen hatte, als plötzlich ein so lauter Schrei im Tunnelinneren hallte, dass selbst die dicken Scheiben des Mercedes ihn nicht gänzlich dämpfen konnten. Überrascht strich sich Stefan die langen Locken aus der Stirn und rückte seine Brille konzentriert zurecht.

„Macht die Wagen startklar, ich hole ihn. Wir hauen sofort ab.“


***

Bastian hatte nur eine vage Ahnung, wo er nach Sophia zu suchen hatte. Er stand schon halb im Tunnel und sah sich ratlos um. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Der Tunnel hellte sich bereits auf und bald würde wieder Leben einkehren. Hektisch lief er ein paar Schritte umher und versuchte sich an Sophias Worte zu erinnern. Sie hatte sich vor den anderen Bewohner gefürchtet. Daraus schloss er, dass sie sich vermutlich eher im vorderen Bereich des Tunnels aufhielt. Wahrscheinlich war er bereits zu weit vorgedrungen.

An der Tunnelwand zu seiner Rechten entdeckte Bastian eine kleine schlafende Gruppe von Frauen. Leise wie eine Maus, schlich er sich an sie heran und flüsterte Sophias Namen, doch niemand reagierte. Ohne den gesamten Tunnel durchsuchen zu müssen, schien es aussichtslos, sie hier zu finden. Ein leises Krachen drang an seine Ohren und bevor sich Bastian erklären konnte, was es war, hörte er weitere leise Schläge aus dem hinteren Bereich der Röhre.

„Sophia, bist du das?“, flüsterte Bastian den Geräuschen entgegen und hörte nun auch hastige Schritte, die ihm entgegen liefen. Seine Erleichterung hielt nicht lange an, denn kurz darauf setzte ein unheilvolles Getöse ein, dass immer intensiver und lauter zu werden schien. Die geräuschvolle Welle brach im selben Moment über ihn herein, wie der Schatten der ihn plötzlich umriss und wortlos an ihm vorbeihuschte. Die Geräusche breiteten sich im Tunnel aus und Bastian wusste sofort, was gleich passieren würde. Er sprang hastig wieder auf die Füße und hörte auf einmal den gequälten Schrei einer jungen Frau, der ihm sofort an die Nieren ging.

Überall ertönte Geklapper. Dinge wurden zur Seite gestoßen. Die Leute erwachten aus ihrem Schlaf und begannen zu schreien.

„SOPHIA!“, brüllte Bastian in der Hoffnung, er würde sie doch noch finden, bevor die Untoten ihn erreichen würden.

Die unsichtbare Horde setzte ihren Weg unaufhaltsam fort und schien alles zu verschlingen, dass sich ihr in den Weg stellte. Die umgestoßenen Feuerstellen entfachten ein gleißendes Licht und stießen glühende Funken in die Luft, die im selben Moment Stoffe und abgelegte Kleidung entzündeten.

„SOPHIA!, WO BIST DU?“, schrie Bastian erneut und konnte im gleißenden Schein des Feuers nun bereits die toten Fratzen auf ihn zulaufen sehen.

Er wich einige Schritte zurück und blickte sich panisch um. Von Sophia war keine Spur zu sehen, dafür war der gesamte Tunnel nun auf den Beinen. Der Lärm war ohrenbetäubend und im Hintergrund sah er in Flammen stehende Menschen. Sie quiekten vor Schmerz und ließen Bastian damit die Haare zu Berge stehen. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Ereignisse im Tunnel überschlugen, war beängstigend. Es waren zu viele von ihnen und es schienen noch immer mehr zu werden. Er musste nach draußen. Wenn Sophia dort hinten im Chaos steckte, war sie ohnehin bereits verloren.

Bastian wollte gerade loslaufen, da sah er den kleinen Jungen mit Noodles. Er stand ein paar Meter weiter hinter ihm im Tunnel.

„SEBASTIAN, komm her!“, rief er und stürmte auf den Kleinen zu, der sich zwar geschockt umdrehte, jedoch aus Angst keinen Millimeter rührte. Dutzende ausgeschlachtete Fahrzeuge standen bereits in Flammen und beleuchteten die Tunnelwände. Mittlerweile spürte Bastian die sengende Hitze des Feuers in jeder Pore seines Körpers.

Es half nichts, er musste den Jungen erreichen. Wie sollte er es sich selbst verzeihen können, in diesem Moment versagt zu haben? Die Distanz des Jungen zu den Untoten, war in etwa dieselbe wie die zu Bastian und schrumpfte im selben Tempo. Er musste sich beeilen. Während er zu dem Jungen rannte, hörte er plötzlich Stefan hinter sich rufen. Er verstand nicht, was er schrie. Sicher waren sie gerade auf dem Sprung und wollten flüchten. Aber nicht ohne den Jungen. Er war nur noch vier schnelle Schritte von dem Kleinen entfernt, da sah Bastian, wie ein Untoter, der unbemerkt hinter einem seitlich stehenden Wagen lauerte, nach dem Jungen griff. Bastian blieb augenblicklich stehen, legte die Pistole an und gab zwei schnelle Schüsse auf den Kopf des Monsters ab. Der erste Schuss durchschlug die Schläfe des Untoten, der Zweite ließ seinen verfaulten Hinterkopf wie eine reife Melone platzen. Der Junge zuckte wieder erschrocken zusammen und setzte sich endlich in Bewegung, als der Körper des Monsters regungslos vor ihm liegen blieb. Bastian hielt seine Waffe weiterhin ausgerichtet, denn er war fest entschlossen, die weiteren drei Verfolger des Jungen ebenfalls endgültig ins Jenseits zu befördern. Während der Junge ihn fast erreicht hatte, gab Bastian in voller Konzentration eine Salve von Schüssen auf die Untoten ab und leerte sein gesamtes Magazin bei der Aktion. Er war noch immer ein guter Schütze und brachte alle mit gezielten Kopfschüssen zu Fall.

Während sich Bastian noch auf die fallenden Untoten konzentrierte, klammert sich der Junge bereits an sein rechtes Bein. Auf einmal schlugen nur wenige Zentimeter rechts von Bastians Kopf Kugeln in die Windschutzscheibe eines Wagens. Bastian drehte sich verwirrt um und sah Stefan mit erhobener Pistole auf ihn zurennen. Aber da war noch etwas. Stefan schrie.

„RECHTS! BASTI! RECHTS!“

Endlich verstand er. Aber es war zu spät. Die Untoten griffen nach ihm und rissen ihn und den kleinen Jungen um. Sie waren zu viert und drangen mit tödlicher Effizienz von der Seite, genau zwischen zwei Fahrzeugen hervor. Bastian legte sich beim Fallen über den Jungen und konnte nicht mehr verhindern, wie die Kreaturen ihre Kiefer in den Hals des jungen Schweizers schlugen. Er bäumte sich wie ein Stier auf, aber die faulige Last über ihm machte dies zu einem unmöglichen Unterfangen. Sie drückten ihn zu Boden und fielen über ihn her. Bastian lag noch immer auf dem kleinen Jungen und schirmte ihn mit letzter Kraft ab. Sie durften ihn auf keinen Fall kriegen.


***

Stefan stand nur wenige Meter von Bastian entfernt und beobachtete die Szenerie geschockt. In dem Moment, als der erste Untote seine Zähne in Bastians Kopf geschlagen hatte, wusste Stefan, dass sein neuer Freund verloren war. Gerade wollte er wieder zurückweichen, da erkannte er endlich den Grund, wieso sich Bastian nicht sofort in Sicherheit gebracht hatte. Obwohl die wandelnden Leichen bereits Stücke aus seinem ungeschützten Hinterkopf rissen, und er wie am Spieß schrie, schützte er noch immer ein Kind vor seinen Angreifern.

Stefan konnte nicht glauben was er sah. Die faulige Traube verdorbenen Fleisches versuchte an den Jungen heranzukommen. Stefan hielt mit seiner Pistole voll drauf. Nach wenigen Sekunden gab sie jedoch nur noch ein kraftloses Klicken von sich. Als er endlich merkte, dass sie keinen Rückstoß mehr auslöste, rannte er wie ein Berserker vor und trat dem ersten Untoten, der über Bastian lag, so wuchtig mit dem Stiefel gegen den Kopf, dass seine Sohle in dessen Hirnmasse stecken blieb. Stefan verfiel augenblicklich in einen Blutrausch und bekam von sich und seiner Umgebung kaum mehr etwas mit. Sein Puls hämmerte durch seinen Körper, während der Hass auf diese Monster ihm unmenschliche Kräfte zu verleihen schien. Er schrie und schnaufte. Für diesen Moment gab es kein anderes Ziel, als dieses faulige Fleisch aus dem Weg zu räumen.

Den nächsten Untoten riss er am Kragen seines Poloshirts mit Urgewalt von Bastians blutendem Körper. Der Infizierte knallte gegen eines der Fahrzeuge und setzte nach einer Gedenksekunde erneut zum Angriff an. Das gab Stefan dennoch genug Zeit, um dem Untoten der Bastians Kopf zu Boden drückte und an seinem rechten Ohr zerrte, einen Tritt ins Gesicht zu verpassen. Der Schädel des Monsters knickte augenblicklich zurück und entblößte das zermatschte Gesicht, das Stefans Stiefel hinterlassen hatte.

Sein Tritt war so wuchtig, dass er auch den letzten der vier zur Seite warf und Bastian die Möglichkeit gab, sich wieder aufrappeln. Er nutzte die Chance und warf sich auf den Untoten, den Stefan gegen das Fahrzeug geschleudert hatte und der wieder im Begriff war, anzugreifen. Basti sah schrecklich aus. Sie hatten eines seiner Augen aus seiner Höhle gerissen und sein rechtes Ohr war nur noch ein Fleischfetzen, der an seinem blutüberströmten Kopf hing. Stefan hatte nun freie Sicht auf den kleinen Jungen, der am Boden kauerte und warf sich gegen den letzten untoten Körper, der ihn zu erreichen versuchte. Er rammte ihm seinen Ellenbogen ins Gesicht und spürte augenblicklich das Knacken, dass sein gebrochener Schädel von sich gab.

Aber es war zwecklos. Aus den Flammen vor ihnen drangen bereits die nächsten Bestien und stürzten sich auf den Jungen und Stefan. Während er zwei der neuen Kreaturen mit letzter Kraft zur Seite stoßen konnte, rissen andere gerade den kleinen Körper des Jungen in Stücke und Stefan realisierte, dass er den Kampf verloren hatte. Bastian lag regungslos in einer Lache aus seinem eigenen Blut und Stefans Adrenalinrausch ebbte beim Anblick des toten Jungen auf der Stelle ab. Wandelte sich in pure Verzweiflung. Seine restlichen Sinne nahmen ihre Arbeit wieder auf und er hörte, wie jemand ein lautes Wimmern von sich gab. Es war sein eigenes, das er beim besten Willen nicht aufhalten konnte. Schockiert taumelte er zurück und versuchte, seinen Blick von den Untoten zu lösen, die über seinen toten Freund und den Jungen herfielen.

Es waren nur Sekunden vergangen, aber in diesem Moment war die Welt für ihn zum zweiten Mal in sich zusammengefallen. Mit einem Mal löste sich der Knoten in Stefans Hals, der jede Emotion zu ersticken wusste und er begann aus Verzweiflung lauthals zu schreien.

„IHR VERFLUCHTEN BASTARDE!! IHR BASTARDE!!!“

Helge war es schließlich, der Stefan mit einer herzhaften Ohrfeige in die Wirklichkeit zurückholte und ihn aus dem Tunnel zerrte.

Sie rannten dem trüben Hell entgegen und an dem Hubschrauber vorbei, dessen Rotor bereits anlief und ein lautes hochfrequentes Summen von sich gab. Frank saß mit seinem Neffen im Cockpit und versuchte zu fliehen, während Liz die Blockade bereits mit dem Amarok durchbrochen hatte.

Unter dem Lärm des angelaufenen Hubschrauberrotors, hechteten Helge und Stefan in den Viano. Helge setzte zurück und beobachtete im Rückspiegel, wie die Untoten aus dem Tunnel drangen. Einige von ihnen standen in Brand, aber Helge wusste, dass sie das, bis zum Kochen all ihrer Körperflüssigkeiten, nicht sonderlich störte. Er gab Vollgas und schoss durch die Lücke zwischen den beiden Lastern. Im letzten Moment konnte er aus dem Augenwinkel noch einen kurzen Blick auf den Hubschrauber erhaschen, der von einer Traube an Untoten umgeben war. Mit einem Mal blitzte eine riesige Explosion hinter den Lastwagen auf und löste einen ohrenbetäubenden Knall aus. Es musste den Hubschrauber erwischt haben, denn er sah ihn nicht abheben. Dafür flog die Ladefläche des linken Lasters in die Luft, dessen Teile bis zum Viano geschleudert wurden, obwohl er bereits hundert Meter entfernt war und fast den Amarok erreicht hatte. Liz stand mit dem VW mitten auf der Autobahn und wartete. Helge hatte ihr befohlen, sich und den Wagen in Sicherheit zu bringen. Sie hatte nur sehr widerwillig gehorcht.

Stefan starrte geschockt durch die Windschutzscheibe und umklammerte noch das Gelenk seiner linken Hand. Dessen Adern traten hervor und weckten Helges Aufmerksamkeit. Eine dunkle Vorahnung keimte in ihm auf und versetzte ihm einen Stoß in die Magengrube.

„Wieso verdammt, hältst du dir den Arm, Stefan?“, schrie er.

Stefan sah auf seine Hand herab und erinnerte sich an den kurzen Schmerz, den er in ihr gespürt hatte, als er einen der Untoten von Bastians Rücken herunter gerissen hatte.

„Ein Biss. Eines dieser Dinger hat mich wohl gebissen.“

Als hätte ihn Helges Frage zurück ins Leben befördert, sah er sich die Wunde nun genau an und erkannte die Abdrücke der Zähne, die der Untote hinterlassen hatte. Die Wunde blutete nicht und Stefan fühlte nichts bei deren Anblick. Es war ihm egal. Er wusste nicht einmal, wieso er die Hand so fest umklammerte. Das Virus war sicherlich ohnehin bereits in seinem Blutkreislauf. Plötzlich wurde er nach vorn gerissen. Helge legte mitten auf der Autobahn eine Vollbremsung hin und stoppte den Viano kurz vor dem Amarok. Er sprang aus dem Wagen und schrie Liz entgegen, die sorgenvoll durch ihr geöffnetes Fenster sah. Bevor sie fragen konnte, was mit Bastian passiert war, registrierte sie erschrocken Helges Worte.

„Die Axt, Liz! Bring mir die AXT!“

Sie reagierte sofort und zog die rote Sicherheitsaxt aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz. Dem Ort, wo Stefan sie zuletzt hingelegt hatte. Helge stand schon hinter dem geöffneten Kofferraum des Vianos und breitete die silberne Rettungsdecke des Ersthilfekastens auf dem Asphalt aus. Stefan stand mit aschfahlem Gesicht daneben und Liz ahnte plötzlich was Sache war.

„Oh mein Gott, nein. Helge. Bitte nicht!“, rief sie und lief zu Stefan. Liz sah sich die Wunde an seiner Handfläche genau an.

„Die Wunde blutet nicht einmal! Helge!“

„Scheiße, Liz! Du weißt was passieren kann! Bastian ist schon Tod, bei Stefan haben wir vielleicht noch eine Chance.“

Liz Augen füllten sich schlagartig mit Tränen. Die Gefahr, dass er sich verwandeln würde, war definitiv da. Sie konnte sie nicht einfach ausblenden. Helge gab ihr Desinfektionsmittel und eine der Mullbinden.

„Hör auf zu flennen und mach die Axt sauber!“, fluchte er und dachte voller Unbehagen an das, was er gleich tun musste.

Stefan wurde immer bleicher. Er beobachtete unbeteiligt, wie Helge ihm den Ärmel hinauf schob und ihn anschießend mit sanfter Gewalt auf den Boden drückte.

„Am besten, du kniest dich auf den Arm. Dann kann er ihn nicht wegziehen“, sagte Helge und nahm Liz die gesäuberte Axt ab.

Stefan fühlte sich, als würde jemand anderes in seinem Körper stecken. Die Tatsache, dass Liz und Helge nur noch von ihm und nicht mehr mit ihm sprachen, tat ein Übriges. Er ließ mit sich geschehen, was die beiden mit ihm machten.
Liz stand links von Stefan, der bereits auf dem Boden kniete und sich mit der rechten Schulter auf der Straße abstützte und den linken Arm ausgestreckt hielt. Liz band ihm den Arm am Handgelenk mit einem aufgewickelten Stück Mullbinde ab und nahm ihm die Uhr ab. Seine einzige materielle Erinnerung an Marty. Dann presste sie ihr Knie auf die Oberseite seines Armes und redete Stefan gut zu.

„Schließ die Augen“, sagte sie sanft zu Stefan. „Gleich ist es vorbei.“

Helge stand hinter Liz und atmete tief durch. Er hob die Axt wie ein Henker über den Kopf und versuchte sich zu beruhigen. Der erste Schlag musste unbedingt sitzen.Im Geiste zählte er bis drei. Dann schwang er die Axt kraftvoll herab und traf Stefans Hand sehr unglücklich, genau in der Handflächenmitte. Als Stefan das Auftreffen der Axt hörte und den dumpfen Schlag spürte, wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel in Ohnmacht. Helge hatte die Hand nicht ganz durchtrennt. Ein halber Lappen hing mitsamt Daumen noch am Gelenk und begann schlagartig zu bluten.

„DU IDIOT!“, schrie Liz. „Schlag nochmal!“

Helge verfluchte sich selbst. Er konnte nicht glauben, was er seinem Freund gerade antat. Beim Anblick der Wunde, wurde ihm schlagartig anders zumute und seine Beine verwandelten sich in eine weiche Puddingmasse. Am liebsten wäre er einfach davon gerannt, aber er musste sein Werk beenden. Das konnte er Stefan nicht antun.

Helge hob die Axt erneut, schickte ein Stoßgebet in den Himmel und zielte diesmal genau. Er schwang sie wieder hinab und traf den Arm diesmal zwar leicht schräg, aber genau am Handgelenk und trennte Stefan die Hand damit komplett ab. Blut waberte aus dem abgebundenen Arm und besudelte die Rettungsdecke.

Liz hatte sich wieder gefangen. Sie desinfizierte den Armstumpf und drückte ein großes Stück Mull gegen die Wunde, bevor sie den Arm vorsichtig verband.

Helge konnte gerade noch helfen, Stefan in den Viano zu wuchten, dann drehte er sich weg und erbrach sich neben den Mercedes. Direkt vor Liz Augen. Als er seinen Kopf wieder hob, bemerkte er, dass sie exakt auf der Höhe der Bäume standen, bei denen er die Nahrungsmittel versteckt hatte. Dann erinnerte er sich auch wieder an die Waffen. Er holte beides und warf die Tüten, sowie den Rucksack mit den Waffen, auf die Ladefläche des Amaroks.