Kapitel 7

Matsch

Es fühlte sich gut an. Seine Wärme spendete ihr Trost. Ohne die Augen zu öffnen, konnte sie bereits erahnen, dass der Tag angebrochen war. Sie ließ die Lider geschlossen, um sich nicht vom Licht blenden zu lassen, dass durch die Oberlichter ihres Zimmers fiel. Die Müdigkeit zog sie wieder in ihren Bann und sie konnte seine Hände an ihrer Hüfte spüren. Dann wachte Liz auf. Der Traum fühlte sich so real an, und die Realität, wie eine eisige Morgendusche. Er war fort und würde nicht wieder kommen. Und das war auch gut so, denn Wiederkehrende sorgten nur für noch mehr Tod. Die Erinnerung an den gestrigen Tag war sofort präsent. Sie hatten ihn verwandelt und dann getötet. Ein bitterer Geschmack stieg in ihr auf, aber ihre bösen Träume waren fort. Genauso wie Rich.

Sie schlug die beiden dicken Daunendecken beiseite und ließ eines ihrer Beine aus dem Bett hängen. Obwohl sie mit der langen, grauen VfB-Jogginghose geschlafen hatte, war ihr kalt. Wie hatten die Menschen das vor zweihundert Jahren nur gemacht, fragte sie sich. Sie sehnte sich so nach dem Sommer, oder zumindest nach der Wärme des Kamins im Restaurant. Verdammter Winter. Außerdem fühlte sie sich eklig. Eine Dusche war genauso notwendig wie eine Rasur, um sich das letzte Bisschen Würde vor sich selbst erhalten zu können.

Nach einer Stunde verließ sie wieder das Bad und sah durch den verglasten Eingang der Unterkunft. Direkt auf den frischen Schnee hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien, aber in der Nacht waren sicherlich fünf Zentimeter neuer Schnee hinzugekommen. Sie freute sich auf den Moment, wenn sie Reichenau in Richtung Süden verlassen würden.

„Na, gut geschlafen?“, fragte Stefan, der aus seinem Zimmer getorkelt kam.

„Naja, kalt halt. Wie immer.“

„Joaaa“, gähnte er. „Das wird sich so schnell nicht ändern. Dafür müssten wir schon am Kamin im Restaurant übernachten.“

Helge schnarchte mal wieder die halbe Unterkunft zusammen. Mittlerweile hatten sich die beiden daran gewöhnt.

„Weckst du ihn, Stefan?“, fragte Liz. „Ich hab Hunger, außerdem wollten wir deinen Fußspuren noch nachgehen.“

Stumm lief Stefan den Gang zu Helges Zimmer hinunter und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

„Mensch. Etwas sanfter geht’s auch!“, zischte Liz.

„Was denn? Der hört doch sonst nichts.“

„Klar hör ich was, du Arsch!“, hallte es aus Helges Zimmer.

„Na, immerhin ist er wach“, bemerkte Stefan und schaute Liz an, als könnte er keiner Fliege was zu leide tun.

Nachdem sie sich alle fertig gemacht hatten, standen sie in voller Montur vor dem Eingang. Mit geübten Handgriffen sperrte Helge das neue Bügelfahrradschloss auf und Stefan lief mit vorgehaltenem M-16 hinaus. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft. Er lief einige Schritte nach vorn und beobachtete Helge, der die Unterkunft wieder verriegelte. Der Schnee war unangetastet. Im Umkreis von über dreißig Metern konnte er keine Spuren im Schnee feststellen.

„Hier ist nichts“, stellte er fest und sah Liz an. „Frühstück?“

„Verdammt, ja!“, erwiderte sie in den grobmaschigen Wollschal, den sie sich um den Kopf gewickelt hatte.

Ihre dicke Daunenjacke raschelte, als sie an Stefan vorbei und zum Restaurant lief. Der Campingplatz lag im hinteren Teil Reichenaus. Das Restaurant direkt am Ufer, etwa hundert Meter entfernt von den Unterkünften. Einige der aufgestellten Zelte hatten bereits unter der Last des Schnees nachgegeben, der den Platz ruhiger erscheinen ließ, als er es war. Unter der weißen Decke lagen dutzende Körper. Hauptsächlich Helges Werk. Angestachelt von Whisky und Wodka, hatte er den Platz im Alleingang gesäubert, bis die anderen aufgekreuzt waren und ihn aus seiner Endzeitdepression rissen.

„Jetzt rennt uns die Kleine schon wieder davon“, sagte Helge, der neben Stefan lief.

„Tja, die Gute hat halt ihren eigenen Kopf. Immerhin trägt sie ihre Pistole.“

Gut zwanzig Meter vor dem Restaurant blieb sie unvermittelt neben einem Wohnmobil stehen und starrte auf den Eingang des Restaurants.

„Was siehst du Liz?“, fragte Helge, der sie mittlerweile eingeholt hatte.

„Spuren. Direkt vor dem Eingang.“

Sie hatte Recht. Vor dem Eingang waren die Spuren mehrerer Personen zu erkennen. Die Tür selbst war unbeschädigt. Sie hatten sie, wie auch den Eingang der Unterkunft, mit einem großen Bügelschloss gesichert, das sie beim Plündern aufgetrieben hatten.

„Sieht nicht so aus, als wären es Menschen gewesen“, stellte Stefan fest, der vor den Spuren kniete und merkwürdig erleichtert war, dass sie es nur mit Untoten zu tun hatten.

„Das war‘s dann mit dem Frühstück, Jungs.“

„Okay, dann gehen wir mal auf Zombiejagd“, schnaufte Helge, dessen Magen bereits knurrte.

Die Spuren führten am Restaurant vorbei und an dessen Terrasse entlang. Stefan ging langsam voraus. Irgendwo mussten die doch sein. Liz und Helge liefen ihm hinterher. Es war ein ruhiger Morgen und bis auf vereinzelte Vögel, konnte er nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Er sah auf seine Uhr, die knapp halb elf anzeigte, dann stellte er sich vor das Geländer der Terrasse und stützte sein Gewehr darauf ab. Vielleicht würde ihm sein Fernrohr mehr verraten. Er ließ das Fadenkreuz über die Landschaft gleiten und hörte das Wasser leise im Hintergrund unter die dünne Eisschicht schwappen, die sich zwischen dem Schilf am Ufer bildete. Am Ufer sah er das Rot der angeleinten Plastikboote unter dem Schnee durchscheinen. Dann schwenke er sein Gewehr wieder mehr zur Insel.

Nichts.

Stefan trat zurück und zuckte mit den Achseln. Dann deutete er vor und lief weiter. Im Hintergrund konnten sie das Bellen eines Hundes hallen hören, aber das musste nichts heißen. Am Ende der Terrasse wurden die Spuren wieder deutlicher.

„Also, wenn, dann sind die hier irgendwo direkt in der Umgebung. Das sieht frisch aus!“, bemerkte Helge, in einem für ihn ungewohnten Flüsterton.

Die drei folgten den Spuren weiterhin am Rande des Ufers, in Richtung des Fußballplatzes, der am nördlichen Ende des Campingplatzes lag. Nach einigen Metern hielt Stefan erneut an und lauschte.

„Hört ihr das?“, fragte er.

„Nein, was?“, erwiderten Liz und Helge beinahe zeitgleich.

„Na dieses Plätschern.“

„Ehm, ja, Stefan. Schau mal hier.“

Liz zeigte auf den See.

„Das nennt man See. Ein See plätschert hin und wieder“, bemerkte sie.

„Upsi! Wo kommt der denn her? Wir hätten ja ertrinken können!“, antwortete Stefan ironisch. „Du Dorfbratze, hör doch mal genau hin.“

„Er hat Recht. Ich höre es auch. Das könnten sie sein“, sagte Helge und nickte den Spuren entlang zum Ufer, das durch ein kleines Wäldchen verdeckt wurde.

„Penner!“, sagte Liz während sie Stefan leicht den Ellbogen in die Seite stieß.

„Arschnase!“, zischte Stefan, der einen Schlag mit seinem Gewehrkolben andeutete.

„Hört auf mit den Kindereien!“, brummte Helge, der sich gerade wieder in Bewegung setzte und den Spuren zum Wäldchen folgte.

Er hielt die Schrotflinte vor sich, die Martin hinterlassen hatte und lief vorsichtig als erster auf das unbekannte Stück Land. Stefan und Liz folgten ihm auf den Fuß und sahen sich ebenfalls aufmerksam um. Die fast laublosen Bäume standen so dicht, dass sie ihnen trotzdem die Sicht nahmen. Das Plätschern wurde lauter und war nun direkt vor ihnen auszumachen. Irgendwas steckte im Wasser fest. Ihre Schuhe gaben ein schmatzendes Geräusch von sich, denn der feuchte Weg war sehr schlammig und behinderte die drei dermaßen beim Gehen, dass man meinen könnte, er wolle sie davor bewahren, herauszufinden was vor ihnen lag. Das leise Plätschern wurde zu einem lauten Platschen, und Stefan stieß beinahe Helge um, der plötzlich stehen blieb.

„Da vorn!“, flüsterte er. „Einer steht auf dem Steg, die anderen sind im Wasser.“

Stefan blicke an Helge vorbei und erkannte ebenfalls was er meinte. Ein Untoter stand regungslos auf dem kurzen Holzsteg. Es sah so aus, als würde er die drei Köpfe vor ihm beobachten, die aus dem Wasser ragten. Sie gaben ein abstruses Bild ab. In regelmäßigen Abständen ruderten die Untoten im Wasser mit den Armen und erweckten den Eindruck, schwimmen lernen zu wollen.

Helge und die anderen standen in gut fünfzehn Metern Entfernung hinter einem Baum und beobachteten die Wasserleichen. Helge drehte sich um und zeigte mit dem Zeigefinder auf seinen Mund, um den Beiden klar zu machen, dass sie still sein sollten, während er nach vorne laufen würde. Er schlich geduckt an den noch stehenden Untoten heran. Die Köpfe im Wasser gaben ein wildes Stöhnen von sich, als sie Helge bemerkten und spritzten, bei dem vergeblichen Versuch ans Ufer zu laufen, mit Wasser um sich. Der Stehende rührte sich kein Stück, sondern schwankte nur leicht in der kühlen Brise.

„Was macht er denn, verdammt? Sollen wir ihm helfen?“, flüsterte Stefan zu Liz.

„Nö, lass mal“, erwiderte sie gelassen. „Der weiß schon, was er tut. Hat ja in letzter Zeit oft genug erwähnt, wie vernünftig er ist.“

Helge hatte nicht vor, den Untoten auf dem Steg zu erschießen. Als er direkt hinter ihm stand, trat er ihn stattdessen mit voller Kraft in den Rücken. Ohne auch nur die Spur einer Reaktion zu zeigen, fiel der verweste Körper ins Wasser und rührte sich erst dann, als er in das eiskalte Nass eintauchte. Der Untote schlug wild um sich, versank aber immer tiefer im Wasser.

„Ich finde es ja ehrenwert, dass du deine Munition sparen willst, aber war das nicht ein wenig arg leichtsinnig?“, fragte Stefan, als die beiden ihn erreicht hatten.

„Och du, wenn er sich gerührt hätte, hätte ich ihm meine Kleine hier schon aus der Nähe gezeigt. Außerdem wollte ich wissen, wie sich die Viecher beim Schwimmen anstellen.“

„Nicht sonderlich“, stellte Stefan trocken fest und stellte sich an den Rand des Stegs, um besser sehen zu können.

„Ja, der Matsch am Grund tut sicher sein Übriges“, fügte Helge hinzu.

„Was machen wir jetzt mit den Arschnasen?“, fragte Stefan. „Erschießen? Das wäre ja fast zu einfach.“

Liz stand ratlos da und sah Stefan hinterher, der hinter einem Baum verschwand und mit einem riesigen Stein wieder kam.

„Ist jetzt Spielstunde angesagt, oder wie?“, fragte Liz. „Kommt Jungs. Ich hab Hunger.“

Stefan ignorierte Liz geflissentlich und wuchtete den Stein, wieder am Rand des Stegs stehend, auf Schulterhöhe. Dann drehte er den Kopf zu den Beiden, die bereits wussten was gleich folgen würde, und grinste sie breit an. Die Köpfe im Wasser hielten einen Moment still und blickten Stefan interessiert an.

Stefan holte wie ein Kugelstoßer aus und warf den dicken Stein mit einem angestrengten Ächzer auf den vordersten, der mittlerweile vier Schädel. Gleich beim ersten Wurf traf er den Untoten und freute sich wie ein Schneekönig, als der Kopf mit einem lautem Platsch unter dem Gewicht des Steins zerplatzte.

„BAAAAMM!“, rief Stefan. „Eins zu null für mich!“

„Moooment, nicht so schnell!“, erwiderte Helge und kam wenige Sekunden später mit einem noch größeren Stein zurück.

Helge fiel beim Versuch, den Stein auf Wurfhöhe zu hieven, fast ins Wasser, schaffte es aber dennoch den Stein auf den am nächsten entfernten Kopf zu schleudern. Er traf nicht genau, aber der riesige Fels erwischte zumindest die Seite des Schädels und zertrümmerte die gesamte rechte Gesichtshälfte. Das Wasser färbte sich um die Untoten herum ekelhaft bräunlich, und die beiden übrig gebliebenen Köpfe grunzten wild, während sie mit ihren Mäulern schnappten.

Die nächste halbe Stunde verbrachten die beiden Männer damit, die Untoten mit Steinen zu bewerfen, als wären sie Kinder, die zum ersten Mal mit einer Schleuder auf Vögel schossen. Es stand mittlerweile zwei zu eins für Helge. Der Kopf in etwa sieben Meter Entfernung war einfach kaum zu treffen. Entweder war der Stein zu schwer und sie schafften es nicht, ihn so weit zu schleudern, oder der Stein war zu klein und warf den Untoten im besten Fall nur kurzzeitig um. Stefan hatte seinen nächsten Stein gerade in Stellung gebracht, da gab es einen lauten Knall und beide zuckten erschrocken zusammen. Der letzte Kopf sank, mit einer exakt mittig auf der Stirn platzierten Schusswunde, langsam in die Tiefen des Bodensees hinab.

„So Jungs! Jetzt ist Schluss hier! Auf geht’s. Frühstück!“

„Och Liz, du Spielverderberin“, maulte Stefan, der sich sicher war, mit dem letzten Wurf ausgeglichen zu haben. „Na gut, ich hab auch Hunger. Das war echt anstrengend. Und morgen suchen wir uns dann eine geile Kiste, mit der wir im Schnee driften!“