Kapitel 19

Zeichen

Matteo zog gerade den letzten Strich mit seiner Sprühdose. Er war zufrieden mit seiner Markierung. Wer halbwegs aufmerksam war, konnte sie nicht verfehlen. Er hatte sie direkt hinter der Militärakademie in Livorno auf der Hauptstraße vor dem Fußballfeld aufgesprüht.

„Nun komm schon“, forderte Sekou Matteo mit seiner tiefen, Respekt einflößenden Stimme auf. „Wenn wir hier sterben, hilft das niemandem!“

Um sie herum bildeten sich kleinere Gruppen Untoter. Matteo sah sich um und meinte, sich an den einen oder anderen von ihnen erinnern zu können, als er mit den Zwillingen hier entlang gerannt war. Dann verwarf er den Gedanken. Sie sahen ohnehin alle gleich grausam aus.

Nach ihrer Ankunft am frühen Morgen hatten sie einen ersten Teil der Akademie durchsucht. Als Lohn dafür fanden sie allerhand nützlichen Kram. Unter anderem mehrere Sprühdosen und drei Gewehre. Nun rannten sie auf dem Rückweg wieder an ihr entlang und der Fortuna entgegen. Matteo nutzte das sportliche Boot lieber als das größere Polizeiboot, das zudem auch mehr Sprit verbrauchte. Ihr nächstes Ziel war ein großer Strandabschnitt zwischen Sarzana und Carrara, der einige Kilometer oberhalb von Livorno lag und schon zu Ligurien gehörte. Er lag direkt an der Grenze der Toskana.

Früher fuhr Matteo die Uferstraße oft mit dem Motorrad entlang und kannte sich daher dort ganz gut aus. Er mochte die Gegend. Obwohl Carrara als eines der Zentren für die Bearbeitung von Marmor galt, war die Gegend nicht gerade von Reichtum überflutet. Vielmehr handelte es sich um eine sympathische Arbeitergegend.

Matteo genoss die Fahrt mit dem Boot. Die salzige Luft des Meeres vermittelte ihm Sicherheit und Frieden. Wenig später steuerte Sekou die Fortuna in einiger Entfernung am Kilometer langen Strand entlang. Er wollte Untote nicht unnötigerweise durch den Klang des Motors anlocken, aber er fuhr nah genug, damit sie die Kreaturen erkennen konnten. Tatsächlich stolperten nur wenige im Sand umher und Sekou drosselte den Motor so weit herunter, dass sie gefahrlos vor einem abgelegenen Strandabschnitt ankern konnten.

Matteo beobachtete den Strand. Er sah friedlich aus. Hunderte Meter entfernt standen sechs Silhouetten im Sand, reagierten aber nicht. Sie waren zu weit weg. Dutzende Schirme und weiße Plastikliegen lagen verteilt auf der sandigen Fläche, die in der Breite locker vierzig Meter maß. Hinter dem Strand ragten hohe grüne Sträucher in den Himmel. Kein Traumstrand, aber immerhin noch ein schönes Fleckchen Erde. Weit im Hintergrund, betrachtete Matteo die Ausläufer der Alpen. Er lauschte den sanft rauschenden Wellen und dachte darüber nach, ob es schlau war, sich erneut in Gefahr zu begeben. Die Kreaturen jagten ihm aber keine Angst mehr ein. Allein schon deshalb nicht, weil er aus Überzeugung handelte. Um zu helfen.

„Lass uns an Land gehen“, sagte er zu Sekou.„Hinter dem Strand ist die Hauptstraße. Dort machen wir eine weitere Markierung. Jeder, der die Küste entlang fährt, muss dort vorbei.“

„Wenn das die Stelle ist, von der du denkst, dass es die Richtige ist, dann lass uns gehen. Ich vertraue deinem Instinkt.“

Sie legten ihre Waffen, eine Machete, eine Axt, sowie zwei Pistolen und eine der Sprühdosen, in ein kleines, aufblasbares Kinderboot, dass sie in der Fortuna gefunden hatten. Als sie vom Heck aus ins Wasser stiegen, zogen sie das beladene Miniboot hinter sich her und schwammen an Land.

Es war Mittag und die Sonne ließ die Luft über dem Sand flimmern. Überall konnten sie Zeichen früheren Lebens erkennen. Handtücher wurden von umgekippten Liegen in den Sand gedrückt und moderten vor sich her. Allein die Oberfläche des Sandes, machte einen unberührten Eindruck. Ein gutes Zeichen, dachte Sekou und machte die ersten Schritte aus dem Wasser heraus. Matteo zog das kleine Boot an den Strand und reichte seinem Freund die Waffen.

Eines der vielen Restaurants stand am hinteren Ende der sandigen Fläche. Ein heruntergekommener, grauer Bau mit Wellblechdach. Bei genauerer Betrachtung eigentlich eher eine Imbissbude. Die Eistheke lag umgekippt auf der Terrasse. Braune Flecken auf den Steinplatten deuteten darauf hin, dass tatsächlich einmal Eis in ihr gelagert wurde. Die letzten Stürme hatten heftige Zeichen dafür hinterlassen, dass sich die Natur ihr Gebiet wieder zurückholte. Überall verteilte sich der Sand. Ohne jemanden, der täglich putzte, waren die Gebäude schnell zu Ruinen verkommen.

Die beiden Männer interessierten sich wenig für den Zustand des Strandabschnittes. Sie passierten den zehn Meter breiten Weg zwischen Imbiss und Sandsteinmauer, an der ein langer Fahrradständer montiert war, so leise, aber dennoch so schnell es ihnen möglich war. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Am Ende der Mauer sahen sie überdachte Parkplätze. Grüne Kunststoffnetze spendeten den dort geparkten Wagen Schatten.

Sekou blieb stehen und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund, um Matteo zu signalisieren ruhig zu sein. Die beiden lauschten den Umgebungsgeräuschen. Er hatte ein Schlagen gehört. Neben dem Rascheln der Sträucher hinter dem Parkplatz, hörten sie immer wieder metallisch klingende Schläge von den Parkplätzen. Langsam tasteten sie sich von Fahrzeug zu Fahrzeug.

Matteo stand gerade an einem grauen Volvo 850 und festigte den Griff seiner Machete. Sekou wartete direkt hinter ihm. Irgendwo mussten die Besitzer der Wagen ja schließlich auch noch stecken, dachte Matteo. Plötzlich ertönte der dumpfe Schlag erneut. Direkt über ihnen. Erschrocken riss Matteo den Kopf hoch und war bereit, nach etwas zu schlagen, entdeckte jedoch nur einen losen Metallhaken, den der Wind gegen das Stahlgestell des Parkplatzes wehte. Erleichtert atmete er aus und grinste Sekou an. Doch dessen Blick verhieß nichts Gutes. Mit einem kurzen Stoß drückte Sekou Matteo zur Seite und holte mit der Axt aus.

Matteo taumelte einen Schritt vor und sah mit an, wie Sekou die Axt in den Kopf eines Infizierten trieb, der hinter dem Kotflügel des Volvos kniete. Die Schneide der Axt glitt bis in seinen Hals hinab und richtete fürchterlichen Schaden an. Der Kopf klaffte auf, wie ein vom Blitz getroffener Baumstamm. Matteo atmete durch. Das war knapp.

Ein paar Meter hinter dem erledigten Untoten rührte sich jedoch bereits ein Zweiter. Er stakste ihnen unbeholfen auf seinen Oberschenkelknochen entgegen. Matteo rümpfte angeekelt die Nase und sah sich um, ob noch weitere aus ihren Löchern krochen. Als er sich davon überzeugt hatte, dass es nicht so war, wendete er sich Sekou zu.

„Um den kümmere ich mich. Nicht, dass ich noch aus der Übung komme“

Sekou hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass er sich heraushalten würde.

„Nur zu. Tob dich aus“

Matteo trat dem Untoten gegen den Kopf. Er fiel um wie ein nasser Sack. Anschließend hackte er der Kreatur mit einem gezielten Machetenschlag den Kopf ab.

„Wer trennt denn bitte zwei Untoten die Beine ab und lässt den Rest am Leben?“, fragte Sekou, als er seine Axt an der Jeans des Untoten abwischte, dem er den Schädel gespalten hatte.

„Du erwartest jetzt aber nicht ernsthaft eine Antwort, oder?“, erwiderte Matteo.

Verwirrt ließen sie die beiden Körper zurück und liefen weiter zur Straße. Die verbeulte Seite eines Renault Espace, der am Ende der Parkplätze stand, klärte die Situation dann doch noch auf. Matteo stieß mit der Machete gegen einen der Füße, die vor dem Wagen lagen.

„Sieht so aus, als hätte sie jemand gegen den Renault gequetscht“

Desinteressiert zucke Sekou mit den Schultern.

„Ist doch egal. Hauptsache tot, oder? Komm jetzt, ich habe wenig Lust auf noch mehr von denen.“

Matteo war neugierig und hätte die Gegend am liebsten noch weiter erforscht. Sie war so, wie Matteo sie in Erinnerung hatte. Die Sträucher waren zwar nahezu doppelt so hoch und die Wege deutlich ungepflegter, aber er erkannte sie wieder.

Als sie die breite Hauptstraße erreicht hatten, reichte Sekou Matteo die Sprühdose, der sofort loslegte und mit einem Kreuz begann. Das Zeichen zog sich über beide Spuren hinweg und mündete in einem Pfeil, der zum Strand hinunter zeigte. Wie in Livorno, hinterließ er ebenfalls eine Nachricht.

Matteo schwitzte vor Anstrengung. Dicke Schweißperlen rannen an seiner Stirn hinab. Er sah auf seine Uhr und dachte nach.

„Wir haben jetzt knapp ein Uhr. Eine weitere Markierung würden wir noch schaffen. Was sagst du?“

„An welchen Ort hast du Gedacht? Wollen wir mal bis nach Genua hoch? Ist vielleicht ne Stunde entfernt. Das schaffen wir noch locker mit der Tankfüllung.“

„Ja. Gute Idee“, stellte Matteo fest. „Eine Gegend mit dichter Bevölkerung. Das ist dann aber auch genug. Schließlich müssen wir den Weg auch mindestens einmal die Woche abfahren.“

„Beim nächsten Mal, nehmen wir dann Franco mit“, sagte Sekou mit gespielt ernster Miene. „Nicht, dass der uns die Vorräte wegfrisst, während wir versuchen, Leben zu retten.“

„Du Spaßvogel“, erwiderte Matteo. „Wann sollen wir unsere Route wieder abfahren?“

„Solange wir nicht wissen, welche Wirkung unsere Markierungen erzielen, würde ich nicht zu viel Zeit vergehen lassen. In zwei bis drei Tagen vielleicht?“, fragte Sekou.

„Ja, warum nicht“, antwortete Matteo, der sich aus Gewohnheit den fehlenden Ziegenbart kraulen wollte. „Das überlegen wir uns dann nochmal auf Gorgona.“