Kapitel 13

Chur

Sie durchfuhren die Alpen nun schon eine ganze Weile. Die Sonne stand hoch am Firmament und ließ die Umgebung wärmer erscheinen, als sie es war. Sie kamen der Schneegrenze immer näher und würden ihre Fahrzeuge vermutlich bald durch das gefrorene Weiß steuern. Chur lag direkt vor ihnen und Stefan brachte den Amarok an einer Stelle der Autobahn zum Stehen, an der weit und breit kein Wrack zu sehen war und wartete, bis der Viano neben ihm anhielt.

„Lasst uns was essen! Ich hab nen Bärenhunger und außerdem haben wir uns die Pause nach dem Zirkus am Museum verdient“, sprach Stefan zu seinen Freunden im Viano und strich sich dabei sein lockiges Haare zur Seite.

„Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du ein wenig wie die Erwachsenenversion von Harry Potter aussiehst?“, rief Liz Stefan vom Beifahrersitz entgegen und setzte ein schelmisches Grinsen auf.

Stefan sah sie entsetzt an und holte zum Gegenangriff aus. „Und du bist die junge Version von Heidi Klum in brünett, oder wie?“

„Das war ja jetzt eher ein Kompliment, oder?“, fügte Bastian hinzu, der die Frotzeleien aufmerksam verfolgte und die ungewohnte Gesellschaft sichtlich genoss.

„Hmmm“, stimmte Helge mit ein. „Wie man es nimmt. Aber ja, ich könnte ne ganze Kuh fressen. Machen wir eine Pause.“

Die vier holten Lebensmittel aus dem Wagen und sprangen über die Leitplanke, um sich auf den Hügel dahinter zu setzten. Von dort hatten sie freie Sicht auf Chur. Die Stadt lag ruhig und halb zerstört innerhalb des Bergpanoramas unter ihnen. Stefan kannte das Bild aus Stuttgart. Vereinzelt richteten Brände das Stadtbild zugrunde. Was aber überall zu sehen war, war das Chaos auf den Straßen. Nur wenige davon schienen überhaupt noch befahrbar zu sein. Einige waren komplett dicht, andere wiederum absolut leer. Man musste genau hinsehen, um die Untoten zu erkennen. Kleine bunte Punkte, die bewegungslos im Stadtbild verschwanden. Bis man ihnen zu nahe kam.

Liz verteilte eine Ration Vitamine, Zink und Magnesium an alle. Helge schnitt das Brot, dass sie auf dem Campingplatz in einem selbstgebauten Steinofen gebacken hatten. Bastian flippte fast aus, als er es sah. Immerhin lebte er monatelang ohne die leckeren Kohlehydrate. Sogar an Kaffee hatte Liz gedacht.

„Ob es uns auf der Insel auch an nichts fehlen wird?“, fragte Liz ohne eine Antwort zu erwarten und bot Stefan eine Tasse lauwarmen Kaffee an.

„Danke Liz, aber nein“, erwiderte Stefan. „Wenn ich jetzt ne Tasse Kaffee trinke, muss ich in zwei Minuten scheißen.“

Bastian, der von Stefan während der Fahrt über ihr Ziel aufgeklärt worden war, dachte nach. Im Grunde war es ihm egal, wo es hinging. Er wollte einfach nur in Sicherheit sein und das am besten nicht allein. Er würde seinen neuen Freunden ohnehin überall hin folgen.

„Ihr habt euch da gar kein doofes Ziel ausgesucht“, begann er. „Ich kenne die Insel. Also, ich war noch nie dort, aber ich liebe Italien und Gorgona habe ich zumindest schon einmal bei Google-Maps gesehen. Wenn wir ein hochseetaugliches Boot finden, könnten wir uns auch auf Korsika umschauen und genau unterhalb von Korsika ist ja gleich Sardinien. Irgendwo muss es ja noch Menschen geben. Ich meine, es wird sicherlich viele geben, die wie wir auf der Flucht sind und einen sicheren Ort suchen. Da bietet sich doch gerade Korsika an. Groß aber wenig bevölkert. Überlegt mal. Da leben vielleicht zwei- bis dreihunderttausend Menschen. Vielleicht ist das Virus dort noch nicht ausgebrochen? Und wenn doch, könnte man sich immer noch überlegen, ob man direkt weiter nach Malta fährt. Ich war da mal, das ist eine riesige Festung.“

Helge war erstaunt. Der junge Kerl hatte Grips.

„Eins nach dem Anderen, Junge. Jetzt geht’s erst einmal nach Gorgona und dann sehen wir weiter. Aber du hast Recht. Gorgona ist sicher keine Sackgasse.“

Stefan hatte keine Lust sich an der Diskussion zu beteiligen und zählte beim Essen lieber die zerstörten Gebäude in der Stadt. Sie hatten die ersten Wochen auf Reichenau nur über solche Themen gesprochen. Er war es mittlerweile sogar fast leid. Aber er wusste, dass Bastian bisher keine Gelegenheit hatte, seine Gedanken zu teilen und so mischte er sich auch nicht ein. Bastian kam hingegen erst richtig in Fahrt.

„Vielleicht hatten die Amis ja mehr Glück als wir. Da hat nur jeder dritte Haushalt keine Waffe. Vielleicht haben die Amerikaner die Untoten einfach ausradiert!“

„Puuuh. Das ist ja ne wilde Theorie“, erwiderte Helge. „Also nach all dem, was wir gesehen haben, überrennen die Arschgeigen einfach alles und jeden. Bis die kapiert haben, dass ein Kopfschuss notwendig ist, ist schon die halbe Bevölkerung dahin. Und die Hälfte der Hälfte, steht wieder auf und macht den Rest fertig.“

Bastian sah betrübt auf sein Nutellabrot. Er wollte es nicht wahrhaben, dass die Menschheit ihre beste Zeit hinter sich hatte, aber er sah es ja mit eigenen Augen und in diesem Moment auch in der Stadt unter ihm. Und real war, dass man von niemandem mehr etwas erwarten konnte. Schon gar nicht vom Militär. Und schon gar keine Rettung. Stefan, der im Schneidesitz direkt neben ihm saß, sah zu ihm rüber und hatte plötzlich Mitleid. Bastian war immerhin einige Jahre jünger und hatte sich seiner Naivität noch nicht ganz entledigt.

„Ist dir schon aufgefallen, dass die Untoten mit zunehmender Zeit immer langsamer werden?“, fragte Stefan, wartete aber keine Antwort ab. „Die sparen zwar Energie, indem sie in eine Art Starre verfallen, wenn nichts Lebendiges in der Nähe ist und ihr Tagesbedarf an Kalorien tendiert sicherlich auch nahezu gehen Null, aber die Witterung wird sie früher oder später fertig machen.“

Stefan steckte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund und sprach nuschelnd weiter.

„Was ich sagen will ist, die Zeit spielt für uns. Irgendwann fallen die einfach auseinander. Ob das jetzt in drei, in vier, oder erst in sechs Jahren der Fall ist, keine Ahnung, aber irgendwann ist es soweit. Dann kannst du mit ner Axt durch die Gegend laufen und die Viecher fast gefahrlos köpfen. Ist zumindest meine, beziehungsweise unsere Theorie. Aber sie basiert auf unseren Beobachtungen. Vor frisch Infizierten muss man sich noch am meisten in Acht nehmen.“

Liz nickte stumm. Irgendwann würde sich die Menschheit davon erholen. Sie hoffte nur, dass sie dann nicht alle Fehler wieder von neuem begehen würde.

Die vier aßen zu Ende und genossen die frische Luft. Obwohl die Region aufgrund der geringen dichte an Großstädten sowieso eine sehr klare und frische Luft besaß, war es faszinierend, welche Auswirkungen der fehlende Verkehr und die inaktive Industrie besaß. Ohne diese Belastung schien die Natur regelrecht aufzublühen.

Nachdem Stefan doch noch seinen Kaffee getrunken hatte und wie angekündigt, zwei Minuten später austreten war, setzten die vier ihren Weg fort. In einer Stunde würden sie den San Bernardino Pass erreichen.