Kapitel 3

Gorgona

Wie jeden Morgen, lief Matteo auch heute am kleinen Hafenbecken entlang. Mittlerweile gehörte das genauso zu seinem Morgenritual, wie das Prüfen der Taue, mit denen ihr letztes Boot am verwitterten Steg angeleint war. Auf den morschen Brettern kniend, zog er so fest an den Schiffstauen wie er konnte, aber Sekou hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. In den letzten Tagen hatten sich die Leinen keinen Millimeter gelöst.

Zufrieden stand er wieder auf und lehnte sich an die weiße Brüstung, von der sich der Lack schon vom bloßen Ansehen löste. Das Meer war ruhig und die kühle Luft roch so salzig, wie immer. Normalerweise waren die Winter auf der Insel stürmischer, aber er hatte nichts gegen die laue Brise einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Er freute sich über jedes zusätzliche Grad, damit sie sich das Heizen und damit den kostbaren Diesel sparen konnten.

Aus dem Augenwinkel machte er ein Glitzern am Horizont aus. Er sah es nur für den Bruchteil einer Sekunde und verlor es ebenso schnell wieder aus den Augen, wie es aufgetaucht war. Er wusste, dass es kein Schiff gewesen sein konnte, dennoch beschleunigte sich sein Puls. Es musste sich um die Reflexion der Morgensonne auf dem Wasser gehandelt haben. Das gleichmäßige Rauschen der seichten Brandung beruhigte ihn wieder, aber er konnte den Gedanken an den Tag, als sich die Insel veränderte, dennoch nicht ohne weiteres beiseite schieben. Er wusste es noch, als wäre es erst gestern gewesen, denn die Wärter hatten ihm erlaubt, seinen Besucher bis auf die Fähre zu begleiten, um ihn zu verabschieden. Obwohl die Insel bekannt für einen lockeren Vollzug war, war das ein großes Entgegenkommen der Wärter gewesen. Matteo hatte sich ihr Vertrauen über die letzten Jahre erarbeitet, indem er ihnen nie Scherereien bereitet hatte.

An diesem Tag waren auffällig viele Personen des Sicherheitspersonals ebenfalls mit der Fähre verschwunden. Allein die Notbesetzung blieb auf der Insel zurück. Er schnappte damals nicht viel auf, nahm aber an, dass es mit der Ebola-Epidemie zusammenhängen musste, die seit Monaten in Italien tobte. Helge, sein Besucher, musste ihn über die Dimension der Epidemie erst aufklären, denn auf der Insel gab es nur einen einzigen Rechner mit Internetanschluss und die internationale Presse schwieg vieles tot, um die Panik klein zu halten. Auf der Insel hatte sich niemand wirklich vor dem Virus gefürchtet, da es strenge Kontrollen bei der Ankunft gab und der Knastalltag sowieso von anderen Themen geprägt war.

Matteo konnte den Gedanken an das Boot noch immer nicht beiseite drängen und erinnerte sich an die merkwürdige Nacht zurück, die der Tag des Abschieds von Helge mit sich brachte. Das schrille Dröhnen des Alarms klingelte noch in seinen Ohren und er musste schmunzeln, als er die wilden Flüche Filippos, seinem gebrechlichen Zellengenossen, im Geiste wiedergab. Die Wärter waren auffallend nervös und schafften alle Häftlinge in den umzäunten Außenbereich. Das hatte es das letzte Mal vor einem Jahr gegeben, als einem Wärter aufgefallen war, dass ein Insasse ein Messer aus der Schmiede entwendet hatte. Dieses Mal war es anders, denn die Wärter kamen nicht mehr wieder.

Kurz bevor Panik und Streit ausbrachen, einigten sich einige von ihnen darauf, die Zäune zu überwinden, um der Sache auf den Grund zu gehen. Unter ihnen war auch Matteo. Der Morgen dämmerte bereits, als sie es endlich geschafft hatten die Zäune zu überwinden. Matteo rannte mit der Gruppe in die Bucht hinab und traute seinen eigenen Augen nicht, als er auf das offene Meer hinaus blickte. Hunderte von Schiffen strömten an der Insel vorbei. Sie flüchteten vom Festland, das in Brand stand. Trotz des Dunstes und der Entfernung, konnte er die Rauchschwaden in Livorno, der nächsten Stadt an der Küste, erkennen. Ehe er sich versehen konnte, flüchteten die meisten entkommenen Häftlinge bereits mit den verbliebenen Polizeibooten. Nicht einmal mit Sekous Hilfe war es ihm möglich gewesen, das letzte Schiff zu verteidigen. Er dachte an die anderen Häftlinge, die noch im Gefängnishof fest saßen, und ahnte bereits, dass eine verfrühte Flucht vielleicht nicht die beste Variante war und blieb auf der Insel. Am nächsten Tag kehrte einer der Wächter wieder auf die Insel zurück und erzählte eine völlig verrückte Geschichte. Sein Zustand ließ Matteo allerdings daran glauben, was er zu hören bekam.

Matteo rieb sich im wärmenden Schein der Sonne das Gesicht, um die Erinnerungen wieder kurzzeitig zu verbannen und sah sich an diesem Morgen ein letztes Mal in der kleinen Bucht um. Obwohl sie seit Wochen frei waren, fühlte er sich noch immer wie ein Gefangener. Sein Blick fiel wieder auf das leicht betagte, aber gut gewartete Polizeiboot, auf dem locker zehn Personen Platz fanden. Der himmelblaue Lack funkelte in der Sonne und Matteo fragte sich, ob sie es jemals benutzen würden, um wieder auf das Festland zu gelangen.

Die etwa zwei Quadratkilometer große und sehr bergige Insel war durchaus schön und zum Vorteil ihrer Bewohner auch völlig autark. Die Bezirksverwaltung hatte vor längerer Zeit beschlossen, eine neue Strafanstalt auf der Insel zu errichten und kaufte die ruinösen Immobilien den letzten Inselbewohnern zu stark überhöhten Preisen ab. Bisher existierten nur Pläne und die ineinander verschachtelten Satteldachbauten, von denen sich bereits der terracottafarbene Putz löste, standen nun leer am felsigen Hang der Bucht und warteten vergeblich auf ihren Abriss. Die salzige Meeresluft machte nicht nur diesen Gebäuden zu schaffen. Auch die zehn Meter hohe Stadtmauer, die am Kopf der Bucht thronte und die kleine Stadt damit von den Gebäuden der Strafanstalt trennte, verfiel zusehends.

Matteo setzte seinen Rundgang fort, indem er die Stufen beim Erklimmen, der in den Küstenfels gemauerten Steintreppe, zählte. Zweihundert elf an der Zahl. Diese Angewohnheit hatte er sich aus Langeweile während seines Gefängnisaufenthaltes in Rom angeeignet. Von seinen dreiundvierzig Jahren war Matteo nahezu ein ganzes Jahrzehnt eingebuchtet. Nicht am Stück, aber immer wieder mal. Wie in seinem Club üblich, war sein Vorstrafenregister lang. Illegaler Waffenbesitz, Zuhälterei, Drogen und nun saß er bereits seit sieben Jahren auf Gorgona wegen Mordes fest. Er war bei Gott kein Waisenknabe, lud aber auch oft die Schuld seiner Rockerbrüder auf sich. Das letzte Versäumnis seiner kriminellen Karriere, war jedoch das einzige, das er wirklich bereute. Das ihn sogar veränderte. Er hatte aus Notwehr gehandelt und fragte sich doch in jeder stillen Minute, ob der Junge aus dem verfeindeten Club wirklich geschossen hätte. Nüchtern betrachtet, war er nur Opfer seines Selbsterhaltungstriebs. Für Matteos Seelenleben machte es das aber nicht besser. Aufgrund der illegalen Waffe und seiner Vorgeschichte, wurde er dieses Mal auch richtig verknackt. Er bekam zwanzig Jahre, zog dabei aber das goldene Los Gorgona. Und nun war er wieder frei. Durch Umstände, die er sich selbst noch nicht erklären konnte. Er hatte nicht einmal die Hälfte seiner Strafe abgesessen. Dabei hatte sich Matteo erst kürzlich damit abgefunden, sein Leben wieder aufzunehmen, nachdem er seine gerechte Strafe hinter sich bringen würde. Und nun kam wieder alles anders.

Keuchend kam der stämmige Italiener am Hauptgebäude der Strafanstalt an und stützte sich, nach Atem ringend, an den massiven Kalksteinen der Außenmauer ab, die die Gebäude der Strafanstalt umgaben. Am Ende der Mauer lag sein nächstes Ziel. Ein zwölf Meter hoher Wachturm, indem er Sekou anzutreffen erhoffte, der heute Wachdienst schob. Das innere des Turms war das genaue Gegenteil dessen, was außen anzutreffen war. Eine moderne Stahlkonstruktion mit wabenförmig verschweißten Bodenplatten, die ihn in den oberen Raum brachten. Er öffnete die schwere Stahltür einen Tick zu plötzlich und erschreckte damit Sekou, der in seinem Bürostuhl sitzend, an den Spinden lehnte. Sie standen an der einzigen Rückwand des kleinen, voll verglasten Turms. Der dunkelhäutige Mann riss reflexartig seinen Kopf nach oben und verlor kurzzeitig das Gleichgewicht, fing sich aber mit seinem linken Fuß wieder ein, den er noch rechtzeitig am Rahmen des riesigen Fensters einhake konnte.

„Mann Matteo, klopf doch wenigstens vorher an und erschreck mich nicht zu Tode!“, fauchte er mit seiner tiefen Stimme.

Matteo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und setzte sich auf den abgegriffenen Schreibtisch, der unter seiner Last ein Knarzen von sich gab.

„Sorry, dass ich dich aus deinen feuchten Träumen gerissen habe, aber ich wollte einen kurzen Statusbericht hören. Dachte kurz, als ich in der Bucht stand, ein Boot gesehen zu haben. Ich nehme an, dass du das aus deiner bequemen Position im Blick hattest?“

„Spar dir deinen Spott. Ich halte die Überwachungsnummer hier immer noch für übertrieben. Und ja, ich hatte hier alles im Blick, aber nein, ein Schiff war nicht zu sehen“, antwortete Sekou genervter, als er es eigentlich war.

Matteo blickte den glatzköpfigen Nigerianer an, den er vor fünf Jahren auf Gorgona kennen gelernt hatte. Er konnte seine schnippische Art in letzter Zeit nicht einordnen. Vielleicht setzten ihm die Ereignisse in letzter Zeit doch mehr zu, als er zugeben wollte. Matteo wusste, dass Sekou gern mal den harten Mann spielte, aber wer tat das im Knast nicht? Außerdem gehörte es zum Überlebensinstinkt des ehemaligen Flüchtlings. Sekou bemerkte, dass sein Gegenüber in Gedanken versunken war und stellte den Italiener zur Rede.

„Über was zum Teufel denkst du schon wieder nach? Warte! Ich glaube, ich weiß es! Du willst dir das Boot schnappen und dich in Livorno umsehen, stimmts?“, stellte Sekou fest und zeigte dabei auf die schemenhafte Silhouette am Horizont.

„Nicht direkt, eigentlich mache ich mir“, wollte Matteo ausholen, wurde aber energisch von Sekou unterbrochen.

„Weißt du, Matteo, wenn Gott will, dass wir die Insel verlassen, dann schickt er uns ein deutliches Zeichen. Denk an Venturas Worte. Wenn auch nur die Hälfte davon wahr ist, bewege ich keinen verdammten Fuß von dieser Insel! Ich werde nicht mal meinen verdammten Zeh ins Wasser halten!“

Das Gespräch nahm einen anderen Verlauf ein, als es Matteo lieb war. Er versuchte Sekou zu beschwichtigen.

„Klar denke ich immer wieder über seine Geschichte nach. Um ehrlich zu sein, denke ich jeden einzelnen Tag seit den letzten drei Wochen darüber nach“, antwortete er und ihm wurde dabei bewusst, wie sehr ihn das Ganze wirklich beschäftigte.

Zwar hatten die übrig gebliebenen Häftlinge in den letzten Tagen viel miteinander gesprochen, aber im Grunde fraß dennoch jeder einen großen Teil in sich hinein. Matteo hatte keine Familie mehr, aber einige seiner Mithäftlinge schon und er spürte, wie sich die Stimmung auf der Insel immer weiter anspannte. Letzten Endes wusste er, worauf es hinauslief. Eine Gruppe, die mit dem letzten Boot auf das Festland flüchten und eine Gruppe, die bleiben würde. Sekou hatte bereits klar Stellung bezogen, was Matteo überraschte, denn er selbst war noch unschlüssig. Er hoffte inständig, dass es nicht auch noch einen Kampf um das Boot geben würde, bis jeder seine Seite gefunden hatte. Schon bei den Waffen hatte es erbitterte Wortgefechte gegeben, weil nicht für jeden eine übrig geblieben war. Die Wachen hatten nahezu alles mitgenommen. Nur ein paar Pistolen konnten sie untereinander verteilen.

„Diese Ungewissheit treibt viele von uns langsam in den Wahnsinn“, stellte Matteo fest und wollte Sekou damit noch einmal aus der Reserve locken.

„Mich nicht. Wir sind hier sicher und haben alles, was wir brauchen. Außerdem haben wir bereits alles zu Tode diskutiert. Entweder gehen wir alle, oder keiner. Es ist nur dieses eine beschissene Boot da.“

„Du hast ja Recht, Sekou“, stimmte Matteo ihm zu und rieb sich seinen immer länger werdenden Kinnbart.

Er wollte das ganze Thema nicht noch einmal aufrollen, denn das war bisher der einzige Kompromiss, denn sie auf der Insel gefunden hatten. Entweder würden alle bleiben, oder alle gehen. Ein halbgarer Kompromiss. Und alle wussten das. Er diente nur dazu, jedem Einzelnen eine finale Entscheidung abzuringen, bevor einige wenige vorschnell mit dem letzten Boot flüchten konnten. Der einzige Grund, warum sie sich bisher noch nicht selbst zerfleischt hatten, war der, dass auf dem Boot genug Platz für die gesamte verbliebene Gruppe war.

„Natürlich hab ich Recht. Ich bin hier scheinbar auch der Einzige, der noch halbwegs klar denken kann“, sagte Sekou.

„Naja, im Vergleich zu Ventura zumindest.“

„Wundert dich das? Leichen die Menschen fressen? Aberhunderte Tote? Er hat Zombies gesehen, verdammt! Ein Wunder, dass er überhaupt heil zu uns zurückgekommen ist.“

„Mann, Sekou. Sprich doch nicht ständig von Zombies. Wir sind hier in keinem Romero-Film. Das klingt so lächerlich. Außerdem hat bisher nur Ventura gesehen, mit was wir es zu tun haben.“

„Das klingt lächerlich? Weißt du überhaupt, wo das Wort herkommt? Das ist kein Begriff, den sich irgendeine Pickelfresse ausgedacht hat. Das kommt aus dem Afrikanischen und beschreibt die Totengeister. Trifft doch zu, oder? Ein Zombie ist der, in den Körper eines Verstorbenen, zurückgekehrte Geist, der sich an uns für sein Leid rächen will.“

„Oh Mann, du hast echt zu lange mit Ventura gesprochen und willst mir auch noch was von einem klaren Verstand erzählen? Nichts für ungut Sekou, aber ich glaube dann doch eher an umherwandelnde Virenherde, deren Hirn sich verflüssigt hat.“

„Nenne du sie Infizierte, oder Untote. Ich bezeichne sie als das, was sie vermutlich auch sind. Zombies. Und ich kann definitiv darauf verzichten, einen davon kennenzulernen. Wenn du dir das Festland ansehen willst, dann tu es ohne mich! Aber komm nicht auf die Idee, dir das Boot zu schnappen, bis sich jeder sicher ist, ob er nicht auch mit will.“

Das erstaunte Matteo. Er fühlte sich gekränkt, weil Sekou eigentlich wissen müsste, dass er so etwas nie tun würde. Er schob es auf die momentane Anspannung und beschloss, ebenfalls noch bei dem alten Filippo in der Weinlese vorbeizuschauen. Er verließ den Turm und lief wieder den Weg an der Gefängnismauer entlang. Sekous letzter Satz beschäftigte ihn noch immer. Er war der Meinung, dass Sekou ihn kannte, aber was wusste er eigentlich über ihn, fragte er sich. Er war ein nigerianischer Armutsflüchtling, den seine Familie verstoßen hatte. Außerdem gab er zu, viele kleine Verbrechen begangen zu haben. Autodiebstahl und zuletzt Einbruch mit Personenschaden. Er war also kein Schwerverbrecher, aber das waren sie alle nicht, denn sonst würden sie nicht auf Gorgona sitzen. Mehr wusste er nicht über den großen Afrikaner. Er wurde das Gefühl nicht los, dass es auf der Insel bald noch richtig interessant werden würde.

Der Morgen war bereits vorbei und die Mittagssonne schien vom klaren Himmel auf die trüben Winterfarben der Vegetation hinab. Die Sonnenstrahlen ließen die Pflanzen lebendiger wirken, als sie es waren. Auch erschien Matteo die Insel ruhiger als sonst, was er sich aber mit der ungewöhnlichen Windstille erklärte. Normalerweise trieb der Tramontana um diese Jahreszeit sein Unwesen und sorgte dafür, dass man den Winter auch auf der Insel spüren konnte.

Matteo ließ die Gefängnismauern hinter sich und lief die von der Zeit polierte Pflasterstraße hinauf, in Richtung des Stalls. Bevor er sich zum Weinberg aufmachte, wollte er noch das Vieh füttern. Sie hielten Schweine und Hühner. Matteo sah es als seine Aufgabe an, sich um die Tiere zu kümmern. Die Arbeit beruhigte ihn. Auf der gegenüberliegenden Seite der Insel erkannte er bereits die ersten Weinreben, die der alte Filippo für die nächste Reife zurechtgestutzt hatte. Der sehnige siebzigjährige war in den letzten zwanzig Jahren zum echten Winzer herangewachsen und hütete den Schatz der Insel, als wäre es sein Vermächtnis. Tatsächlich war es das auch. Der von Filippo und einigen anderen Häftlingen produzierte Weißwein, war unter Kennern unter anderem für seinen nussigen Geschmack bekannt. Die Lese sorgte regelmäßig für ein gutes Einkommen, obwohl die Menge mit etwa dreitausend Flaschen nicht besonders hoch war.

Am Fuße des Weinbergs stand eine große, gemauerte, aber unverputzte Gartenlaube, die von den Arbeitern auch gern als Pausenraum genutzt wurde. Dort vermutete er Filippo und lief zum Eingang. Dieses Mal klopfte Matteo an die Tür, trat jedoch, ohne auf die Antwort zu warten, hinein.

„Seit wann klopfst du an, Matteo?“, krächzte die alte Stimme Filippos, der gerade damit beschäftigt war, Etiketten für Weinflaschen zurechtzuschneiden. Er legte die Schere auf den Holztisch und drehte sich zu ihm. Neben ihm saß ein gelangweilter junger Mann. Alessio.

„Schön dich zu sehen! Was treibt dich zu uns?“, fragte der Alte.

„Wollte nur nach dem Rechten sehen. Wie kommt ihr mit dem Beschnitt voran?“

„Naja, es ist noch einiges zu tun, aber Alessio ist eine große Hilfe. In zwei oder drei Wochen dürften wir durch sein und dann ist der Berg bereit für die nächste Saison.“

Alessio sah interessiert auf, als er Matteo erkannte. Der Junge war in den letzten Wochen ziemlich verlottert und ließ sich einen dunklen Vollbart stehen. Wie alle anderen trug er noch immer den anthrazitfarbenen Overall. Als er ihn zum ersten Mal anziehen musste, hasste er ihn. Nun legte er in nicht mehr freiwillig ab. Die Overalls waren praktisch, warm und sehr bequem. Zudem gab es in der Anstalt noch massenweise frischen Ersatz.

„Hey Matteo!“, rief Alessio. „Was gibt es Neues? Wann verschwinden wir endlich von der Insel?“

Matteo verdrehte die Augen. Der Junge war so ungeduldig und energiegeladen wie ein junges Fohlen. Er strich sich seine langen dunklen Haare glatt und rieb sich anschließend seinen Kinnbart. Eine weitere seiner Angewohnheiten.

„Es gibt gar nichts Neues! Das Meer ist ruhig und Sekou hat bis heute Mittag auch nichts Auffälliges während seiner Wache gesehen.“

„Die Jugend von heute ist so ungeduldig geworden“, stellte Filippo fest. „Hilf mir lieber noch die nächsten Tage und warte ab, bis sich jeder entschieden hat, ob er die Insel verlassen möchte, oder nicht. Dann sehen wir weiter.“

Die drei schwiegen sich für einen kurzen Moment an. Matteo betrachtete die Axt, die am Tisch lehnte. Obwohl die Insel sicher war, bevorzugte es Alessio, bewaffnet über die Insel zu laufen.

„Der Alte hat Recht“, sagte Matteo schließlich. „Übe dich noch ein wenig in Geduld. Lange wird es nicht mehr dauern.“

„Wir sind frei verdammt!“, schnaufte Alessio. „Wollt ihr nicht endlich wissen, was auf der Welt abgeht? Was ist los mit euch? Keines unserer Radios empfängt auch nur einen Furz. Ich drehe hier noch durch!“

Der junge Italiener stand auf und fing an wild zu gestikulieren.

„Seit uns die Wachen aus den Zellen geholt haben, haben wir keine scheiß Information bekommen, was in der Welt los ist. Nichts! Bis auf das wilde Gestammel von Ventura und der ist nur noch ein Wrack! Es kann doch nicht sein, dass einfach nichts mehr funktioniert!“

„Jetzt beruhige dich Alessio. Das ist alles gerade einmal ein paar Wochen her. Vielleicht arbeiten die auf dem Festland noch immer daran, die Infrastruktur wieder ans Laufen zu bringen.“

Matteo wünschte sich den letzten Satz nicht gesagt zu haben, denn er klang selbst in seinen Ohren wenig überzeugend.

„Du willst mich doch verarschen, verflucht! Ich hab die Rauchsäulen genauso gesehen, wie alle anderen auch.“

„Beruhigt euch endlich. Wilde Mutmaßungen helfen uns genauso wenig weiter wie blinder Aktionismus. Wir müssen alle Schritte gut planen. Ventura ist zwar ziemlich durch den Wind, aber er wird sich auch nicht alles zusammen fantasiert haben. Ich für meinen Teil, beanspruche auf dem Boot schon einmal keinen Platz für mich. Ich werde hier bleiben. Ich bin jetzt siebzig Jahre alt und habe mein halbes Leben hier verbracht. Ich muss nicht erst aufs Festland, um dann dort zu sterben.“

Alessio sah ein, dass das alles zu nichts führen würde und schluckte seinen Ärger hinunter, was nichts daran änderte, dass er lieber heute als morgen herausfinden wollte, was wirklich vor sich ging.