Kapitel 6

Eindringlinge

Es war noch am frühen Morgen und Alessio saß auf seinem Lieblingsfelsen in der kleinen Bucht, einige hundert Meter hinter den Weinbergen. Niemand außer ihm selbst wusste von diesem Platz, was ihn zu seinem Platz machte. In letzter Zeit saß er öfter hier und wartete auf den Sonnenaufgang.

Er grübelte zu viel und konnte deshalb nicht schlafen. Das Geschnarche der anderen machte es für ihn auch nicht einfacher, seine Ruhe zu finden. Sie schliefen alle noch in ihren Zellen. Zum einen, weil sie dort sicher waren und zum anderen, weil sie dort alle möglichen Einrichtungen an einem Ort hatten. Zudem war der Gefängnistrakt, als einziges modernes Gebäude auf der Insel, gut isoliert und darauf ausgelegt, Energie zu sparen. Der Unterschied zu früher war jedoch der, dass die Zellen mittlerweile offen standen. Alessio hatte sich während der letzten fünf Jahre so sehr an seine Einzelzelle gewöhnt, dass es ihm nichts ausmachte, noch ein paar Tage mehr in ihr zu bleiben.

Nur, wie viele Tage würden das wohl noch sein, fragte sich Alessio. Er saß schon viel zu lange auf dieser verfluchten Insel fest. Der Horizont färbte sich bereits langsam dunkelviolett. Er genoss das Farbenspiel und freute sich bereits auf die ersten wärmenden Strahlen des Morgens. Kalt war ihm nicht, da er seine graue Arbeitsjacke über dem Overall trug. Die Insel war so unheimlich friedlich, dass er sich auch bei aller Anstrengung nicht im Geringsten vorstellen konnte, dass auf dem Festland so schreckliche Dinge passiert waren. Die Erde lebte doch. Hatte er wirklich schon so lange in diesem Gefängnis gesessen, um jeglichen Sinn für die Realität da draußen zu verlieren?

Die Sonne zeigte sich noch immer nicht, tauchte die Wolkenbank am Horizont nun aber in ein immer heller werdendes Rosa. Alessio hörte die Brandung unter ihm und sah teilweise bereits die ersten Wellen, die das Meer in die kleine Bucht warf. Das Spektakel zog ihn noch immer in seinen Bann und es würde nur noch Sekunden dauern, bis er mitansehen konnte, wie sich der glühende Ball in den Himmel erhob.

Die Welt sah so friedlich aus. Er musste heute unbedingt noch einmal versuchen, jemanden dazu zu überreden, mit ihm aufs Festland zu fahren. Vielleicht könnte er Matteo sogar selbst dazu bringen, ihn einfach abzusetzen. Nein, dachte er, das würde er nie machen. Das wäre reine Ressourcenverschwendung, würde er sagen. Wie konnte er es nur anstellen, von hier zu verschwinden? Er war die Ungewissheit leid und unendlich neugierig. Er würde sich erst frei fühlen, wenn er endlich von dieser Insel entkommen war.

Der Himmel loderte in einem Orangeton auf, und ein schmaler, glühender Lichtstreifen erschien am Horizont, der das Meer schlagartig sichtbar werden ließ. Der Tag brach an und Alessio sah sich verträumt um. Hinter ihm lag die lange Straße, die am Weinberg entlang und zum Gefängnistrakt hinunter führte. Links von ihm lag die kleine, flache Bucht und rechts von ihm, ein steiler Felshang, der sich bis weit über seinen Kopf hinweg zog. Auf dem großen Felsen über ihm sah er zwei Möwen, die ihren morgendlichen Flug unter lautem Schnattern starteten. Er folgte ihnen mit seinem Blick. Die beiden Vögel machten einen großen Bogen, und flogen an der Bucht entlang, bis zur hinteren Landzunge, die gerade noch so zu Fuß erreichbar war. Am Ende des felsigen Fortsatzes lag etwas im Wasser. Alessio kniff die Augen zusammen und versuchte, seine Augen auf das Gegenlicht einzustellen, aber er konnte im schwachen Schein der Sonne nur einen schwarzen Umriss erkennen. Es sah aus wie ein Boot. Bei Gott ja, bei der Größe musste das ein Boot sein. Sein Herz machte einen Satz und er sprang auf, um sich das näher anzusehen. Er stürzte die Felsen hinunter und wäre fast auf den glitschigen Steinen ausgerutscht, als er die kieselige Bucht entlanglief. Er musste sich beeilen, nicht, dass das Boot wieder fort geschwemmt werden würde. Das könnte immerhin seine Fahrkarte von hier weg sein, dachte er. Er könnte sich ganz einfach verpissen. Ohne Diskussion, ohne Streit und ohne Abschied. Er hatte die kleine Landzunge bereits erreicht und erkannte den weißen Rumpf, des überraschend großen Motorbootes nun genau. Wie hatte er das nur übersehen können?

Er kannte sich nicht besonders gut aus, aber das geschlossene Boot sah selbst aus hundert Metern Entfernung noch richtig teuer aus. Die Sonne erhellte die Landzunge nun immerhin so deutlich, dass Alessio sich ohne Probleme auf den rutschigen Felsen bewegen konnte. Der etwa vier Meter breite Felsweg fiel am Rand etwa einen halben Meter ab. Der hagere junge Mann verfiel kurz dem Eindruck, der Rumpf des Bootes könnte beschädigt sein, da bemerkte er zu seiner Freude, dass es sich bei dem dunklen Schatten nur um eine Abstandsboje handelte, die am Rumpf festgezogen war.

Der Bug des Bootes wuchs immer weiter in die Höhe, denn er hatte nur noch ein paar Meter vor sich. Er stoppte seien Lauf unvermittelt, denn auf einmal fiel ihm ein, dass er unbewaffnet war. Zum ersten Mal überhaupt, hatte er seine Axt in seiner Zelle vergessen. Ihm wurde gerade klar, dass er völlig unvernünftig handelte. Die Neugierde hatte ihn angetrieben und tat es noch immer. Er wollte seine Chance aber nicht ungenutzt lassen und sah sich um. Irgendwo musste doch zumindest ein großer Knüppel zu finden sein. Nichts. Nicht einmal ein morscher, angeschwemmter Holzscheit. Der glänzende Rumpf war nahezu in Griffweite, aber er beschloss trotzdem erst einmal, das Boot zu umrunden, um nach Beschädigungen zu suchen, die sich das Boot beim Auflaufen auf die Felsen eventuell zugezogen hatte. Er konnte fühlen, wie aufgeregt er war. Die schnatternden Möwen im Hintergrund, sahen interessiert mit an, was sich einige Meter vor ihnen abspielte. Er nahm sie kaum wahr.

Der Bootsrumpf erschien ihm völlig intakt. Auch am Heck waren nur ein paar wenige Kratzer im Lack zu erkennen. Er suchte so konzentriert nach Beschädigungen, dass er den türkisfarbenen, verschnörkelten Schriftzug ganz überlesen hatte. Nun erkannte er, dass das Boot Fortuna hieß. Wie passend, dachte Alessio. Sein Schicksal fügte sich also doch. Es handelte sich um ein modernes Sportboot, dass in seinem Inneren sicherlich Platz für zehn Leute hatte. Alessio musterte die glänzende Reling, die sich um das gesamte Boot zog. Etwas an der Reling hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Nun sah er auch, was es war. Am hinteren Teil des Stahlgestells, in Reichweite des Kapitänsplatzes, war ein Bootshaken festgeschnallt. Er hatte seine Waffe also gefunden.

Wie ein Krebs lief er am Heck des Bootes auf und ab, um jeden Winkel des Decks einsehen zu können. Es schien verlassen zu sein. Er konnte weder Kampfspuren noch Blut erkennen. Venturas Worte kamen ihm in den Sinn.

„Tote, überall Tote. Aber sie lebten! Sie lebten und fraßen!“, hatte er gesagt.

Alessio erschauderte. Vielleicht versteckten sie sich ja im Boot und lauerten auf ihn. Gänsehaut breitete sich auf seinem Arm aus, als er die Aluminiumleiter umfasste, um sich ans Deck zu ziehen. Er hatte sich schon zu weit vor getraut, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

Erst wollte er den Haken holen und dann Krawall schlagen, um die Monster hervorzulocken, falls denn welche an Bord waren. Das war sein Plan. An Deck lagen mehrere leere PET-Wasserflaschen. Auf der linken Seite des Cockpits war eine mit weißem Leder bezogene Eckbank angebracht. Rechts lag das Steuer und der Kapitänssitz. In Gedanken stellte er sich schon vor, wie er am Steuer stand und über die Wellen ritt. Er riss sich aus seinen kindischen Gedanken und begutachtete die transparente Tür, die nach unten führte. Es war stockfinster dort unten. Er schlich ein paar Schritte über das helle Parkett und blieb dann wieder stehen, um zu lauschen. Im Schiffsinneren war kein Laut zu hören. Er wettete mit sich selbst, dass das Schiff leer war und er sich umsonst in die Hose machte. Er musste den Haken dennoch holen, damit er sich nicht so nackt fühlte. Eine solche Angst hatte er schon lange nicht mehr gespürt. Wieso eigentlich? Ventura, der Hund, hatte ihn mit seiner Geschichte ganz verrückt gemacht.

Die Reling war vom Steuer aus erreichbar. Er lief so leise nach vorn, wie er konnte. Vorbei an der dunklen Luke. Er stand nun direkt vor dem Bootshaken und zog ihn mit einem Ruck aus den Halteriemen. Sie gaben ein helles Schnappgeräusch von sich, das er so laut nicht erwartet hatte.

„Verdammt!“, fluchte er leise.

Zu allem Überfluss war der Haken aus federleichtem Aluminium. Im Falle eines Falles, musste er also zustechen. Er schlich mit dem eineinhalb Meter langen Stab wieder hinter die Eckbank und begutachtete die schmale Luke. Sie war zwar transparent, aber verspiegelt. Er konnte seine weit aufgerissenen Augen in der Tür spiegeln sehen.

Obwohl sich da drinnen nichts rührte, vibrierte sein ganzer Körper vor Aufregung.

„Scheiße!“, fluchte er wieder.

Er hasste sich selbst für sein mädchenhaftes Gehabe und zwang seinen Körper, sich zu entspannen. Es handelte sich nur um eine Schiebetür. Alessio lief nun langsam nach vorn und schob sie vorsichtig nach links. Sie gab ein kaum hörbares Schleifen von sich und glitt in die gewünschte Richtung.

Der erste Schritt war geschafft. Jetzt kam der schwierigere Teil. Er steckte den Haken in die dunkle Öffnung und schwang ihn hin und her. Das metallische Klopfen klingelte in seinen Ohren, als der Haken am Rand der Tür aufschlug. Er spannte alle Muskeln an. Wenn dort etwas war, würde es ihn hundertprozentig gleich anfallen, dachte er. Er schwang den Stab noch ein paar Sekunden lang. Dennoch rührte sich nichts aus dem Inneren. Seine Anspannung löste sich ein wenig. Dann hörte er von innen ein kaum wahrnehmbares Schmatzen. Sein Hirn pumpte eine frische Ladung Adrenalin in seine Windungen und stachelte seine Gänsehaut erneut an. Kam das wirklich von drinnen, oder war das nur das Wasser, das am Rumpf auf und ab schwappte? Er war sich nicht sicher. Im Bauch des Bootes lauerte vielleicht doch etwas auf ihn. Wieder hielt er den Haken in die Öffnung und setzte an, um weiteren Lärm zu fabrizieren. Aus heiterem Himmel griff etwas Unbekanntes nach dem Stab und zog ihn ins Dunkel.

„Fuck!“

Er hatte sich zu Tode erschrocken und wich plötzlich zurück. Seine Gedanken liefen Amok. Die Eckbank brachte ihn zum Stolpern und auf einmal konnte er das Ding sehen. Ventura hatte also doch Recht. Die Erkenntnis traf ihn trotz allem unvorbereitet. Alessio starrte auf den zerfallenen Körper und kämpfte gegen seine gelähmten Muskeln an. Der Untote sah grauenhaft aus. Wie war so etwas nur möglich? Sein dunkelblauer Wollpulli war völlig durchlöchert. Offenbar hatte er einige Schüsse aus einer Pistole abbekommen. Die blaue Stoffhose konnte kaum verbergen, dass seine Beine größtenteils nur noch aus fleischigen Fetzen bestanden. Der Untote stürzte auf ihn zu und Alessio rollte sich reflexartig in den Mittelgang. Er musste unbedingt vom Boot herunter und die anderen holen. Alessio rappelte sich auf wie eine Katze und hechtete auf den hinteren Teil des Bugs. Der Infizierte gab ein tiefes Stöhnen von sich und folgte ihm. Panikartig zog sich Alessio mit Hilfe der Reling auf den Absatz des Bugs, sah auf den nur noch Zentimeter entfernten Untoten zurück und sprang mit einem weiten Satz vom Boot. Für den Bruchteil einer Sekunde war er sich sicher, entkommen zu sein. Sein Sprung erfolgte aber so unkoordiniert, dass er auf einem der feuchten Felsen aufkam und ausrutschte. Er schaffte es nicht mehr, sich beim Fallen zu drehen. Dann schlug er sich den Hinterkopf an einem spitzen Vorsprung auf. Er konnte spüren, wie sein eigener Schädel brach und sah Blitze vor seinen Augen aufleuchten. Dann verschwanden die Blitze ebenso, wie das Geräusch der Brandung.


***

Der Untote war nicht allein. Vier weitere nagten an dem kürzlich erschlafften Skelett, das vor dem Bootsrumpf in einer blutigen Salzwasserpfütze lag. Der Infizierte mit dem durchlöcherten Wollpulli versuchte krampfhaft die letzten Stücke der widerspenstigen Haut von Alessios Wange zu reißen. Zu fünft schafften sie es, Alessios Leichnam innerhalb von wenigen Stunden komplett zu zerlegen. Mit einem haarigen Fetzen im Maul, stand der Älteste der Gruppe auf und wankte sanft hin und her. Das leise Stöhnen, dass er von sich gab, hörte sich fast zufrieden an. Die vier anderen rissen, noch immer über dem blutigen Haufen gebeugt, letzte Stücke von den Knochen. Im Hintergrund der grausamen Szenerie schrien die Möwen um ihr Leben. Auch sie konnten fühlen, dass diese Eindringliche der wandelnde Tod waren. Der stehende Infizierte hatte die Vögel bemerkt. Ihr Schreien lockte ihn an und er setzte sich in Bewegung. Mit Schritten in fast menschlicher Geschwindigkeit zog er von dannen.

Neugierig beobachteten die anderen das Ganze und setzten sich ebenfalls in Bewegung. Sie waren noch nicht lange tot, deshalb wurden sie noch nicht allzu sehr von ihrer Leichenstarre gebremst. Ihre Haut war fahl, aber noch nicht verwest. Dunkle, fast schwarze Adern schimmerten durch die dünne Haut der Untoten und das Blut in ihren Augen glänzte bräunlich. Die Umwandlung der fünf geschah auf dem Boot. Bis auf die Frau, die ihre gesamte Familie infizierte, hatten alle Schusswunden. Einer der beiden ähnlich aussehenden Jugendlichen, war am schlimmsten zugerichtet. Ihm fehlten die Wange und ein Teil des Unterkiefers. Nachdem er seine Geschwister und den Vater erschossen hatte, versuchte er es bei sich selbst und erschoss sich mit einem Schuss durch den Mund. Was er nicht wissen konnte war, dass ein Infizierter im Endstadium seiner Umwandlung, mit einem Kopfschuss hingerichtet werden musste. Das Hirn musste zerstört werden und damit der unstillbare Hunger nach Fleisch.

Familie Grenada setzte sich in Bewegung, wie in alten Zeiten. Im Tode wieder vereint. Sie ließen die felsige Bucht hinter sich und erreichten die Straße, die sie zu den Weinbergen führen würde.