6

Das erste Sonnenlicht des Tages glitt wie flüssiges Kupfer über die Gesimse der Rambla de Santa Mónica. Es war Sonntagmorgen, und die Straßen lagen still und verlassen da. Als wir in die schmale Calle del Arco del Teatro einbogen, erlosch mit unseren Schritten allmählich der grauenerregende Lichtstrahl von den Ramblas her, und sowie wir vor dem großen Holzportal standen, waren wir schon in eine Schattenstadt getaucht.

Ich stieg die paar Stufen hinan und ließ den Türklopfer niederfallen. Langsam wie die Wellen auf einem Teich verlor sich das Echo im Inneren. Fermín, in respektvolles Schweigen versunken wie ein Junge, der kurz vor seinem ersten religiösen Zeremoniell steht, schaute mich ängstlich an.

»Ist es nicht doch sehr früh, um anzuklopfen?«, fragte er. »Da wird der Chef sicher sauer.«

»Das ist nicht das Warenhaus El Siglo. Es gibt keine Öffnungszeiten«, beruhigte ich ihn. »Und der Chef heißt Isaac. Sagen Sie nichts, ehe er Sie fragt.«

Er nickte gehorsam.

»Ich sage keinen Piep.«

Zwei Minuten später vernahm ich das Ballett der Räderwerke, Rollen und Hebel, mit denen das Schloss gesteuert wurde, und ging die Stufen wieder hinunter. Das Tor öffnete sich nur eben eine Handbreit, und es erschien das Adlergesicht des Aufsehers Isaac Monfort mit seinem gewohnt beißenden Blick. Seine Augen ruhten zuerst auf mir, glitten dann über Fermín und röntgten, katalogisierten und durchbohrten diesen schließlich gewissenhaft.

»Das muss der berühmte Fermín Romero de Torres sein«, brummelte er.

»Zu Diensten – Ihnen, Gott und …«

Ich stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, und lächelte dem gestrengen Aufseher zu.

»Guten Tag, Isaac.«

»Gut wird der Tag sein, an dem Sie einmal nicht in aller Herrgottsfrühe anklopfen, wenn ich auf dem WC sitze, oder an einem gebotenen Feiertag, Sempere«, erwiderte Isaac. »Los, rein mit Ihnen.«

Er öffnete das Portal um eine weitere Handbreit, so dass wir hineinschlüpfen konnten. Als die Tür hinter uns zuging, hob Isaac die Öllampe vom Boden, und Fermín konnte die mechanische Arabeske dieses Schlosses studieren, das sich in sich selbst zusammenklappte wie die Eingeweide der größten Uhr der Welt.

»Da hätte es ein Dieb nicht leicht«, warf er hin.

Ich bedachte ihn mit einem mahnenden Blick, und rasch hielt er sich den Finger auf den Mund.

»Ausleihen oder zurückbringen?«, fragte Isaac.

»Eigentlich wollte ich Fermín schon lange herbringen, damit er diesen Ort persönlich kennenlernt, von dem ich ihm so viel erzählt habe. Er ist mein bester Freund und heiratet heute Mittag«, erklärte ich.

»Um Gottes willen«, sagte Isaac. »Der Ärmste. Sind Sie sicher, dass ich Ihnen hier nicht Hochzeitsasyl gewähren soll?«

»Fermín gehört zu denen, die aus Überzeugung heiraten, Isaac.«

Der Aufseher musterte ihn von oben bis unten. Fermín beantwortete diese Dreistigkeit mit einem entschuldigenden Lächeln.

»Wie mutig.«

Er führte uns durch den breiten Gang zur Öffnung der Galerie, die in den großen Saal mündete. Ich ließ Fermín ein paar Schritte vorausgehen, damit seine Augen diese mit Worten nicht zu beschreibende Vision selbst entdeckten.


Seine winzige Silhouette tauchte in das große Lichtbündel, das von der Glaskuppel oben herabfiel. Wie ein gischtender Wasserfall stürzte die Helligkeit auf die Winkel des großen Labyrinths aus Gängen, Tunnels, Treppen, Bögen und Gewölben, die aus dem Boden zu sprießen schienen gleich einem riesigen Baumstamm aus Büchern, der sich in einer unmöglichen Geometrie zum Himmel hin öffnete. Fermín blieb am Anfang eines Laufstegs stehen, der wie eine Brücke in die Basis der Struktur hineinführte, und betrachtete offenen Mundes das Schauspiel. Leise trat ich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Willkommen im Friedhof der Vergessenen Bücher, Fermín.«

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
titlepage.xhtml
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_000.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_001.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_075.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_076.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_079.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_002.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_003.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_004.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_005.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_006.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_007.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_008.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_009.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_010.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_011.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_012.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_013.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_014.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_015.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_016.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_017.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_018.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_019.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_020.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_021.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_022.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_023.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_024.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_025.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_026.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_027.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_028.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_029.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_030.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_031.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_032.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_033.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_034.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_035.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_036.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_037.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_038.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_039.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_040.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_041.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_042.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_043.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_044.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_045.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_046.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_047.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_048.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_049.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_050.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_051.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_052.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_053.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_054.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_055.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_056.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_057.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_058.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_059.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_060.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_061.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_062.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_063.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_064.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_065.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_066.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_067.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_068.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_069.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_070.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_071.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_072.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_073.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_074.html