12

Barcelona, 1957

Fermín sprach mit hauchdünner Stimme, den Blick niedergeschlagen. Die Heraufbeschwörung dieser Erinnerungen schien ihm alle Kraft entzogen zu haben, so dass er sich nur mit Müh und Not auf dem Stuhl halten konnte. Ich schenkte ihm ein letztes Glas Wein ein, während er sich mit dem Handrücken die Tränen abwischte. Ich reichte ihm eine Serviette, doch er übersah sie. Die restlichen Gäste des Can Lluís waren schon vor einer Weile gegangen, und vermutlich war es nach Mitternacht, aber niemand hatte uns etwas gesagt, man hatte uns in aller Ruhe sitzen lassen. Fermín schaute mich erschöpft an, als hätte ihm die Enthüllung dieser Geheimnisse, die er so viele Jahre in sich verschlossen hatte, sogar die Lust zu leben ausgerissen.

»Fermín …«

»Ich weiß, was Sie mich fragen werden. Die Antwort lautet nein.«

»Fermín, ist David Martín mein Vater?«

Er schaute mich streng an.

»Ihr Vater ist Señor Sempere, Daniel. Daran dürfen Sie niemals zweifeln. Niemals.«

Ich nickte. Fermín blieb auf seinem Stuhl verankert, abwesend, den Blick im Nirgendwo verloren.

»Und Sie – was ist aus Ihnen geworden, Fermín?«

Er zögerte mit der Antwort, als wäre dieser Teil der Geschichte absolut bedeutungslos.

»Ich bin auf die Straße zurückgegangen. Bei Brians konnte ich nicht bleiben. Und zur Rociíto konnte ich nicht ziehen. Zu niemandem …«

Sein Bericht strandete, und ich nahm ihn an seiner statt wieder auf.

»Sie sind auf die Straße zurückgegangen, ein namenloser Bettler, ohne nichts und niemand auf der Welt, ein Mann, den alle für verrückt hielten und der am liebsten gestorben wäre, hätte er nicht ein Versprechen abgegeben …«

»Ich hatte Martín versprochen, mich um Isabella und ihren Sohn zu kümmern – um Sie. Aber ich war ein Feigling, Daniel. Ich hatte mich so lange versteckt gehalten, ich hatte solche Angst vor dem Zurückkommen, dass Ihre Mutter schon nicht mehr da war, als ich es endlich tat …«

»Darum habe ich Sie in jener Nacht auf der Plaza Real angetroffen? Das war also kein Zufall? Wie lange waren Sie mir denn schon gefolgt?«

»Monate. Jahre …«

Ich stellte mir vor, wie er mir als Kind gefolgt war, wenn ich zur Schule ging, wenn ich im Ciudadela-Park spielte, wenn ich mit meinem Vater vor diesem Schaufenster stehen blieb, um den Füllfederhalter zu betrachten, von dem ich felsenfest überzeugt war, dass er Victor Hugo gehört hatte, wenn ich mich auf die Plaza Real setzte, um Clara vorzulesen und sie, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, mit den Augen zu liebkosen. Ein Bettler, ein Schatten, eine Gestalt, auf die niemand achtete und die von den Blicken gemieden wurde. Fermín, mein Beschützer und mein Freund.

»Und warum haben Sie mir Jahre später die Wahrheit nicht erzählt?«

»Anfänglich wollte ich das, aber dann wurde mir klar, dass ich Ihnen damit eher schaden als nützen würde. Dass nichts die Vergangenheit ändern konnte. Ich beschloss, Ihnen die Wahrheit zu verheimlichen, weil ich dachte, es sei besser, wenn Sie mehr Ihrem Vater und weniger mir glichen.«

Wir hüllten uns in ein langes Schweigen, in dem wir verstohlene Blicke wechselten, ohne zu wissen, was wir sagen sollten.

»Wo ist Valls?«, fragte ich schließlich.

»Kommen Sie mir ja nicht auf den Gedanken …«

»Wo ist er jetzt?«, wiederholte ich meine Frage. »Wenn Sie es mir nicht sagen, finde ich es schon heraus.«

»Und was werden Sie tun? Bei ihm aufkreuzen und ihn umbringen?«

»Warum nicht?«

Fermín lachte bitter.

»Weil Sie eine Frau und ein Kind haben, weil Sie ein Leben haben und Leute, die Sie gernhaben und die Sie gernhaben, und weil Sie alles haben, Daniel.«

»Alles außer meiner Mutter.«

»Die Rache wird Ihnen die Mutter nicht zurückgeben.«

»Das lässt sich leicht sagen. Ihre hat niemand umgebracht …«

Fermín wollte etwas sagen, biss sich aber auf die Zunge.

»Warum, glauben Sie, hat Ihr Vater Ihnen nie vom Krieg erzählt, Daniel? Glauben Sie etwa, er könne sich nicht vorstellen, was geschehen ist?«

»Wenn es so ist, warum hat er dann geschwiegen? Warum hat er nichts unternommen?«

»Ihretwegen, Daniel. Ihretwegen. Ihr Vater hat wie viele Leute, die diese Jahre haben durchleben müssen, alles geschluckt und geschwiegen. Weil sie keinen Mut hatten. Leute von allen Parteien und Farben. Sie begegnen ihnen täglich auf der Straße und nehmen sie nicht einmal wahr. Diese ganzen Jahre über sind sie mit diesem Schmerz in sich lebend verfault, damit Sie und andere wie Sie leben können. Kommen Sie mir nicht auf die Idee, Ihren Vater zu richten. Dazu haben Sie kein Recht.«

Es kam mir vor, als hätte mir mein bester Freund einen Schlag auf den Mund versetzt.

»Seien Sie nicht böse auf mich, Fermín …«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht böse.«

»Ich versuche nur, das alles besser zu verstehen. Erlauben Sie mir eine Frage. Nur eine.«

»Zu Valls? Nein.«

»Nur eine Frage, Fermín. Ich schwöre es. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie nicht zu antworten.«

Brummelnd nickte er.

»Ist dieser Mauricio Valls derselbe Valls, an den ich denke?«

Er nickte.

»Ein und derselbe. Der, der bis vor vier oder fünf Jahren Kulturminister war. Der fast jeden Tag in der Presse erschienen ist. Der große Mauricio Valls. Autor, Verleger, Denker und Messias der nationalen Intelligenzija. Dieser Valls.«

Da ging mir auf, dass ich Dutzende Male in der Presse das Bild dieses Mannes gesehen hatte, dass ich seinen Namen gehört und auf dem Rücken einiger Bücher in unserer Buchhandlung aufgedruckt gesehen hatte. Bis zu diesem Abend war der Name Mauricio Valls einfach einer von vielen unter diesen öffentlichen Figuren gewesen, die zu einer zwar dauernd präsenten, aber verschwommenen Landschaft gehören, auf die man nicht besonders achtet. Hätte mich jemand nach Mauricio Valls gefragt, so hätte ich bis zu diesem Abend geantwortet, er komme mir vage bekannt vor, eine wichtige Figur in diesen elenden Jahren, die ich nie weiter beachtet hatte. Bis zu diesem Abend wäre es mir nie in den Sinn gekommen, eines Tages würde dieser Name, dieses Gesicht für immer zu dem des Mannes werden, der meine Mutter umgebracht hatte.

»Aber …«, protestierte ich.

»Nichts. Sie haben gesagt, eine einzige Frage, und die habe ich Ihnen beantwortet.«

»Fermín, Sie können mich nicht so …«

»Hören Sie mir gut zu, Daniel.« Er schaute mir in die Augen und fasste mich am Handgelenk. »Ich schwöre Ihnen, wenn der Moment gekommen ist, werde ich Ihnen persönlich helfen, diesen Dreckskerl zu finden, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben mache. Dann werden wir abrechnen mit ihm. Aber nicht jetzt. Nicht so.«

Ich schaute ihn zweifelnd an.

»Versprechen Sie mir, keine Dummheit zu begehen, Daniel. Zu warten, bis der Moment gekommen ist.«

Ich senkte den Blick.

»Das können Sie nicht von mir verlangen, Fermín.«

»Ich kann und muss.«

Schließlich nickte ich, und Fermín ließ meinen Arm los.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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