13

Als ich nach Hause kam, war es fast zwei Uhr. Ich wollte eben die Haustür öffnen, da sah ich, dass in der Buchhandlung das Licht an war, ein schwacher Glanz hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer. Ich betrat den Laden vom Hausflur aus und fand meinen Vater am Schreibtisch, wo er die erste Zigarette paffte, die ich ihn in meinem ganzen Leben hatte rauchen sehen. Vor ihm auf dem Tisch lagen ein offener Umschlag und beschriebene Briefbogen. Ich rückte einen Stuhl heran und setzte mich ihm gegenüber. Schweigend und undurchdringlich schaute er mich an.

»Gute Nachrichten?«, fragte ich und deutete auf den Brief.

Mein Vater reichte ihn mir.

»Er ist von deiner Tante Laura aus Neapel.«

»Ich habe eine Tante in Neapel?«

»Die Schwester deiner Mutter, die mit der Familie mütterlicherseits nach Italien gezogen ist, in dem Jahr, in dem du auf die Welt gekommen bist.«

Ich nickte abwesend. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, und ihren Namen hatte ich unter all den Unbekannten, die vor Jahren zur Beerdigung meiner Mutter gekommen waren und die ich danach nie wiedergesehen hatte, nur am Rand zur Kenntnis genommen.

»Sie sagt, sie hat eine Tochter, die in Barcelona studieren will, und fragt, ob sie eine Zeitlang hier wohnen kann, eine gewisse Sofía.«

»Das ist das erste Mal, dass ich von ihr höre«, sagte ich.

»Dann sind wir schon zwei.«

Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass mein Vater die Wohnung mit einer ihm unbekannten Halbwüchsigen teilte.

»Und was wirst du ihr antworten?«

Gleichgültig zuckte er die Schultern.

»Ich weiß auch nicht. Irgendetwas werde ich ihr sagen müssen.«

Fast eine Minute saßen wir schweigend da und sahen uns an, ohne uns an das Thema zu wagen, das uns sehr viel mehr beschäftigte als der Besuch einer entfernten Cousine.

»Ich nehme an, du warst mit Fermín aus«, sagte er schließlich.

Ich nickte.

»Wir sind ins Can Lluís gegangen. Fermín hat sogar die Servietten verschlungen. Beim Eintreten habe ich Professor Alburquerque angetroffen, er hat ebenfalls da gegessen, und ich habe ihm gesagt, er soll doch wieder mal im Laden vorbeischauen.«

Der Klang meiner Stimme, die Banalitäten von sich gab, hatte ein anklagendes Echo. Mein Vater schaute mich angespannt an.

»Hat er dir gesagt, was mit ihm los ist?«

»Ich glaube, es ist die Nervosität, wegen der Hochzeit und dem ganzen Drum und Dran, das ist nichts für ihn.«

»Und das war’s auch schon?«

Ein geübter Lügner weiß, dass die wirkungsvollste Lüge immer eine Wahrheit ist, der man ein entscheidendes Stück genommen hat.

»Na ja, er hat mir Dinge aus alten Zeiten erzählt, als er im Gefängnis war und so.«

»Dann hat er dir vermutlich auch von Anwalt Brians erzählt. Was hat er denn gesagt?«

Ich war mir nicht sicher, was mein Vater wusste oder ahnte, und beschloss, Vorsicht walten zu lassen.

»Er hat mir erzählt, dass er im Kastell auf dem Montjuïc einsaß und mit Hilfe eines gewissen David Martín fliehen konnte, jemand, den du anscheinend gekannt hast.«

Mein Vater hüllte sich in langes Schweigen.

»Niemand hat es mir jemals ins Gesicht zu sagen gewagt, aber ich weiß, dass es Leute gibt, die damals dachten – und noch immer denken –, deine Mutter sei in Martín verliebt gewesen«, sagte er mit einem Lächeln so traurig, dass ich wusste, er zählte sich selbst auch dazu. Mein Vater hatte diese Gewohnheit einiger Menschen, übertrieben zu lächeln, um die Tränen zurückzuhalten. »Deine Mutter war eine gute Frau. Eine gute Ehefrau. Ich möchte nicht, dass du seltsame Dinge von ihr denkst auf Grund dessen, was dir Fermín vielleicht erzählt hat. Er hat sie nicht gekannt. Ich schon.«

»Fermín hat gar nichts angedeutet«, schwindelte ich. »Nur, dass Mama und Martín einander freundschaftlich verbunden waren und dass sie versucht hat, ihn aus dem Gefängnis zu holen, und sich dazu diesen Anwalt genommen hat, Brians.«

»Wahrscheinlich hat er dir auch von einem gewissen Valls erzählt …«

Ich zögerte, ehe ich nickte. Mein Vater erkannte die Verwirrung in meinen Augen und schüttelte den Kopf.

»Deine Mutter ist an der Cholera gestorben, Daniel. Ich werde nie verstehen, warum, aber Brians hat diesen Mann, einen größenwahnsinnigen Bürokraten, eines Verbrechens beschuldigt, für das es weder Indizien noch Beweise gegeben hat.«

Ich sagte nichts.

»Das musst du dir aus dem Kopf schlagen. Du musst mir versprechen, dass du nicht daran denken wirst.«

Ich schwieg weiter und fragte mich, ob mein Vater tatsächlich so naiv war, wie es den Anschein machte, oder ob ihn der Schmerz über den Verlust geblendet und in die Feigheit der Überlebenden getrieben hatte. Ich erinnerte mich an Fermíns Worte und dachte, dass weder ich noch sonst jemand das Recht hatte, ihn zu richten.

»Versprich mir, dass du keine Dummheit begehen und diesen Mann suchen wirst«, beharrte er.

Ich nickte ohne Überzeugung. Er fasste mich am Arm.

»Schwöre es mir. Beim Angedenken an deine Mutter.«

Ich spürte, wie ein Schmerz mein Gesicht peinigte, und merkte, dass ich die Zähne so fest zusammenpresste, dass sie beinahe brachen. Ich wandte den Blick ab, doch mein Vater ließ mich nicht los. Ich schaute ihm in die Augen, und bis zum letzten Moment glaubte ich ihn belügen zu können.

»Ich schwöre dir beim Angedenken an Mama, dass ich nichts unternehmen werde, solange du lebst.«

»Das ist nicht das, worum ich dich gebeten habe.«

»Das ist alles, was ich dir geben kann.«

Mein Vater vergrub den Kopf in den Händen und atmete tief.

»Die Nacht, in der deine Mutter gestorben ist, oben in der Wohnung …«

»Ich erinnere mich ganz genau.«

»Du warst fünf.«

»Viereinhalb.«

»In dieser Nacht hat Isabella mich gebeten, dir nie zu erzählen, was geschehen ist. Sie dachte, es wäre besser so.«

Das war das erste Mal, dass ich ihn meine Mutter bei ihrem Vornamen nennen hörte.

»Ich weiß, Papa.«

Er schaute mir in die Augen.

»Verzeih mir«, murmelte er.

Ich hielt seinem Blick stand; manchmal schien mein Vater zu altern, wenn er mich nur ansah und Erinnerungen wachrief. Ich stand auf und umarmte ihn schweigend. Er zog mich kräftig an sich, und als er in Tränen ausbrach, begannen die Wut und der Schmerz, die er all die Jahre in seiner Seele vergraben hatte, zu sprudeln wie Blut aus einer offenen Wunde. Ohne es erklären zu können, wurde mir klar, dass mein Vater langsam und unerbittlich zu sterben begonnen hatte.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
titlepage.xhtml
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_000.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_001.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_075.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_076.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_079.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_002.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_003.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_004.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_005.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_006.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_007.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_008.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_009.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_010.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_011.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_012.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_013.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_014.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_015.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_016.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_017.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_018.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_019.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_020.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_021.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_022.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_023.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_024.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_025.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_026.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_027.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_028.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_029.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_030.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_031.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_032.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_033.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_034.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_035.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_036.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_037.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_038.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_039.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_040.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_041.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_042.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_043.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_044.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_045.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_046.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_047.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_048.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_049.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_050.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_051.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_052.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_053.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_054.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_055.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_056.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_057.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_058.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_059.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_060.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_061.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_062.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_063.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_064.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_065.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_066.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_067.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_068.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_069.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_070.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_071.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_072.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_073.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_074.html