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Das Orchester fing diesen Moment mit einer Guaracha auf, und Oswaldo Darío de Mortenssen, den das Liebesbriefeschreiben zum Melancholie-Enzyklopädiker gemacht hatte, ermunterte die Gäste, wieder die Tanzfläche einzunehmen, als wäre nichts geschehen. Fermín kam ein wenig niedergeschlagen zur Theke und setzte sich neben mich auf einen Hocker.

»Geht es Ihnen gut, Fermín?«

Er nickte schwach.

»Ich glaube, ein wenig frische Luft würde mir guttun, Daniel.«

»Warten Sie hier auf mich, ich hole unsere Mäntel.«

Wir spazierten durch die Calle Tallers auf die Ramblas zu, da erblickten wir etwa fünfzig Meter vor uns eine vertraute Gestalt, die langsam einherschritt.

»Aber Daniel, das ist doch Ihr Vater!«

»Wie er leibt und lebt. Stockbesoffen.«

»Das Letzte, was ich auf dieser Welt zu sehen erwartet hätte«, sagte Fermín.

»Und ich erst!«

Wir beschleunigten unsere Schritte, bis wir ihn eingeholt hatten. Als er uns erblickte, lächelte er uns aus glasigen Äuglein an.

»Wie spät ist es denn?«, fragte er.

»Sehr spät.«

»Das habe ich mir eben auch gedacht. Hören Sie, Fermín, ein fabelhaftes Fest. Und die Mädchen! Da gab es ja ein paar Hintern, die eine Kriegserklärung wert wären.«

Ich verdrehte die Augen. Fermín hakte meinen Vater unter und lenkte seine Schritte.

»Señor Sempere, ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas zu Ihnen sagen würde, aber Sie leiden an einer akuten Alkoholvergiftung und sagen besser nichts, was Sie später bereuen könnten.«

Mein Vater nickte, plötzlich beschämt.

»Das ist dieser verdammte Barceló, der mir weiß Gott was eingeflößt hat, und ich bin das Trinken nicht gewohnt …«

»Macht nichts. Jetzt schlucken Sie ein Natron, und dann schlafen Sie den Rausch aus. Morgen sind Sie wieder frisch wie eine Rose, und keiner erinnert sich mehr dran.«

»Ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Wir hielten ihn fest, während der Ärmste alles von sich gab, was er getrunken hatte. Ich stützte seine von kaltem Schweiß bedeckte Stirn, und als klar war, dass außer Galle nichts mehr in ihm steckte, setzten wir ihn einen Augenblick auf die Stufen eines Hauseingangs.

»Atmen Sie tief und langsam ein und aus, Señor Sempere.«

Mein Vater nickte mit geschlossenen Augen. Fermín und ich wechselten einen Blick.

»Sagen Sie, wollten Sie nicht bald heiraten?«

»Morgen Nachmittag.«

»Na, dann meinen herzlichsten Glückwunsch.«

»Danke, Señor Sempere. Was meinen Sie, sind Sie so weit in der Lage, ganz allmählich nach Hause zu gehen?«

Mein Vater nickte.

»Los, nur Mut, es kann nichts mehr kommen.«

Ein frischer, trockener Wind wehte und weckte meinen Vater. Als wir zehn Minuten später in die Calle Santa Ana einbogen, war er wieder bei klarem Verstand und verzehrte sich beinahe vor Scham. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem ganzen Leben nie betrunken.

»Davon bitte kein Wort zu niemandem«, flehte er uns an.


Etwa zwanzig Meter von der Buchhandlung entfernt sah ich jemanden im Hauseingang sitzen. Die große Lampe der Casa Jorba an der Ecke zur Puerta del Ángel zeichnete die Gestalt eines jungen Mädchens mit einem Koffer auf den Knien. Als sie uns sah, stand sie auf.

»Wir haben Gesellschaft«, murmelte Fermín.

Mein Vater hatte sie als Erster gesehen. Ich bemerkte etwas Seltsames in seinem Gesicht, eine angespannte Ruhe, die ihn befiel, als wäre er schlagartig wieder nüchtern. Er ging auf das junge Mädchen zu, blieb aber unversehens wie angewurzelt stehen.

»Isabella?«, hörte ich ihn sagen.

Ich befürchtete, der Alkohol trübe ihm weiterhin den Verstand und gleich werde er auf offener Straße zusammenbrechen, und ging einige Schritte voraus. Da sah ich sie.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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