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Am nächsten Tag erwies sich die Leuchtkrippe tatsächlich als zugkräftige Werbung, und zum ersten Mal seit Wochen sah ich meinen Vater lächeln, während er im Geschäftsbuch ein paar Verkäufe notierte. Von den ersten Vormittagsstunden an tröpfelten einige alte Kunden herein, die sich lange nicht mehr hatten blicken lassen, sowie Lesewillige, die uns zum ersten Mal aufsuchten. Ich überließ sie alle meinem Vater und seiner Erfahrung und sah mit Freuden, wie er es genoss, ihnen Titel zu empfehlen, wie er ihre Neugier weckte und ihre Vorlieben und Interessen erahnte. Das versprach ein guter Tag zu werden, der erste seit vielen Wochen.

»Daniel, wir werden die Reihe mit den illustrierten Klassikern für Kinder wieder hervorholen müssen. Die Vértice-Ausgaben mit dem blauen Rücken.«

»Ich glaube, die sind im Keller. Hast du die Schlüssel?«

»Bea hat kürzlich danach gefragt, um irgendwelche Kindersachen runterzubringen. Ich glaube, sie hat sie mir nicht zurückgegeben. Schau doch mal in der Schublade nach.«

»Da sind sie nicht. Ich geh eben mal hoch und suche sie.«

Ich ließ meinen Vater mit einem Herrn allein, der gerade eingetreten war und ein Buch über die Geschichte der Barceloneser Cafés suchte, und ging durch das Hinterzimmer ins Treppenhaus. Unsere Dachgeschosswohnung war nicht nur sehr hell, sondern stärkte durch das viele Treppensteigen auch Seele und Schenkel. Unterwegs begegnete ich der Witwe Edelmira aus dem dritten Stock, einer ehemaligen Tänzerin, die jetzt in Heimarbeit Müttergottes und Heilige malte, um sich das tägliche Brot zu verdienen. Allzu viele Jahre auf den Brettern des Arnau-Theaters hatten ihr die Knie zuschanden gerichtet, und jetzt musste sie sich mit beiden Händen am Geländer festklammern, um ein schlichtes Stück Treppenhaus zu bewältigen. Trotzdem hatte sie immer ein Lächeln auf den Lippen und einige nette Worte bereit.

»Wie geht’s denn deiner hübschen Frau, Daniel?«

»Nicht so hübsch wie Sie, Doña Edelmira. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Wie immer lehnte Edelmira mein Angebot ab und gab mir Grüße für Fermín mit, der stets eine Schmeichelei für sie zur Hand hatte und ihr bei jeder Begegnung unziemliche Anträge machte.

Als ich die Wohnungstür öffnete, roch es noch nach Beas Parfüm und nach dieser Duftmischung, wie sie von Kindern und ihren Requisiten ausgeht. Bea stand immer früh auf und führte Julián in dem funknagelneuen Jané-Wägelchen spazieren, das uns Fermín geschenkt hatte und das alle den Mercedes nannten.

»Bea?«, rief ich.

Die Wohnung war klein, und das Echo kam zurück, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie war schon gegangen. Im Esszimmer stehend, versuchte ich den Gedankengang meiner Frau zu rekonstruieren und auf diese Weise herauszufinden, wo sie die Kellerschlüssel deponiert haben mochte. Sie war sehr viel ordentlicher und methodischer als ich. Zuerst suchte ich in den Buffetschubladen, wo sie Quittungen, zu beantwortende Briefe und Münzen zu verwahren pflegte. Dann ging ich weiter zu den kleinen Tischen, Obstschalen und Regalen.

Nächste Station war die Küche, wo Bea in einer Vitrine Notizen und Gedächtnishilfen hinterließ. Das Glück war mir nicht hold, und so endete ich im Schlafzimmer; ich blieb vor dem Bett stehen und blickte mich analytischen Sinnes um. Bea belegte fünfundsiebzig Prozent von Schrank, Schubladen und anderen Schlafzimmereinrichtungen, mit dem Argument, ich ziehe mich ja sowieso immer gleich an, also reiche ein Eckchen im Kleiderschrank für mich. Die Systematik ihrer Schubladen war von einer Raffinesse, vor der ich kapitulierte. Ein gewisses Schuldgefühl befiel mich, als ich das Reich meiner Frau durchforstete, aber nachdem ich glücklos alle sichtbaren Möbel abgesucht hatte, hatte ich die Schlüssel immer noch nicht gefunden.

Rekonstruieren wir doch den Ablauf, sagte ich mir. Vage erinnerte ich mich an eine Bemerkung von Bea, sie wolle eine Schachtel mit Sommerkleidern hinunterbringen. Das war vor zwei Tagen gewesen. Wenn mich die Erinnerung nicht täuschte, trug sie an jenem Tag den grauen Mantel, den ich ihr zu unserem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich musste lachen über meine Kombinationsgabe und öffnete den Schrank, um unter Beas Kleidern den Mantel zu suchen. Da war er. Wenn alles von Sir Arthur Conan Doyle und seinen Adepten Gelernte stimmte, befanden sich die Kellerschlüssel in einer der Manteltaschen. Ich steckte die Hand in die rechte und stieß auf zwei Münzen und einige Mentholpastillen, wie man sie in den Apotheken geschenkt bekommt. Dann untersuchte ich die andere Tasche und sah meine These mit Befriedigung bestätigt – meine Finger berührten den Schlüsselbund.

Und noch etwas.

In der Tasche befand sich noch etwas. Ich zog die Schlüssel hervor und beschloss zögernd, auch das andere ans Tageslicht zu befördern. Eine von Beas Einkaufslisten konnte es nicht sein, dafür war es zu dick.

Es erwies sich als Kuvert. Ein Brief. Er war an Beatriz Aguilar gerichtet und laut dem Poststempel eine Woche alt. Darauf stand die Adresse von Beas Eltern, nicht die der Wohnung in der Calle Santa Ana. Ich drehte ihn um, und als ich den Namen des Absenders las, fielen mir die Schlüssel aus der Hand.

Pablo Cascos Buendía

Ich setzte mich auf die Bettkante und schaute verwirrt diesen Umschlag an. Pablo Cascos Buendía war in den Tagen, als wir zu turteln begonnen hatten, Beas Verlobter gewesen. Einer begüterten Familie entstammend, die in El Ferrol mehrere Werften und Industriebetriebe besaß, hatte dieser Mensch, den ich so wenig hatte leiden können wie er mich, damals als Leutnant Militärdienst geleistet. Nachdem ihm Bea schriftlich die Auflösung der Verlobung mitgeteilt hatte, hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört. Bis zu diesem Tag.

Was hatte ein Brief jüngsten Datums von Beas ehemaligem Verlobten in ihrer Manteltasche zu suchen? Der Umschlag war geöffnet, aber einen Moment lang hielten mich die Skrupel zurück, den Brief hervorzuziehen. Es war mir klar, dass ich Bea zum ersten Mal nachspionierte, und schon wollte ich den Umschlag wieder in den Mantel zurückstecken und mich verziehen. Mein tugendhafter Moment dauerte wenige Sekunden. Noch ehe ich am Ende des ersten Absatzes angelangt war, verflog jeder Anflug von Schuldgefühl und Scham.

Liebe Beatriz,
 
ich hoffe, es geht dir gut und du bist glücklich in deinem neuen Leben in Barcelona. Obwohl schon einige Monate vergangen sind, habe ich keine Antwort auf meine Briefe bekommen, und manchmal frage ich mich, ob ich mir etwas habe zuschulden kommen lassen, dass du nichts mehr von mir wissen willst. Ich verstehe ja, dass du eine verheiratete Frau und Mutter eines Kindes bist und dass es vielleicht nicht angebracht ist, dir zu schreiben. Dennoch muss ich dir gestehen, dass es mir, soviel Zeit auch verstrichen ist und trotz aller Anstrengung, nicht gelingt, dich zu vergessen, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, dass ich immer noch in dich verliebt bin.
Auch mein Leben hat eine neue Richtung eingeschlagen. Vor einem Jahr habe ich eine Stelle als kaufmännischer Direktor eines wichtigen Verlagsunternehmens angetreten. Ich weiß, wie viel dir Bücher immer bedeutet haben, und zwischen Büchern zu arbeiten gibt mir das Gefühl, dir näher zu sein. Mein Büro befindet sich in der Madrider Filiale, aber meine Arbeit führt mich oft durch ganz Spanien.
Ich denke fortwährend an dich, an das Leben, das wir hätten teilen, an die Kinder, die wir zusammen hätten haben können … Täglich frage ich mich, ob dich dein Mann glücklich machen kann und ob du ihn nicht nur umständehalber geheiratet hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir das bescheidene Leben, das er dir bietet, tatsächlich wünschst. Ich kenne dich genau. Wir sind Kollegen und Freunde gewesen, und zwischen uns hat es keine Geheimnisse gegeben. Kannst du dich an unsere gemeinsamen Nachmittage am San-Pol-Strand erinnern? Kannst du dich an die Pläne, an die Träume erinnern, die wir geteilt, an die Versprechen, die wir uns gegeben haben? Nie habe ich mich mit jemandem so gefühlt wie mit dir. Seit der Auflösung unserer Verlobung war ich mit einigen Mädchen befreundet, doch mittlerweile weiß ich, dass keine an dich heranreicht. Immer wenn ich andere Lippen küsse, denke ich an die deinen, und immer wenn ich eine andere Haut liebkose, spüre ich die deine.
In einem Monat werde ich unser Verlagsbüro in Barcelona besuchen und mit dem Personal eine Reihe von Gesprächen über eine künftige Restrukturierung des Unternehmens führen. Eigentlich hätte ich diese Formalitäten auch per Post und telefonisch erledigen können. Der wirkliche Grund meiner Reise ist kein anderer als die Hoffnung, dich sehen zu können. Ich weiß, du wirst denken, ich sei verrückt, aber besser so, als dass du denkst, ich hätte dich vergessen. Ich komme am 20. Januar und werde im Ritz in der Gran Vía absteigen. Ich möchte dich zu gern sehen, und sei es nur eine Weile, damit ich dir persönlich sagen kann, was ich im Herzen trage. Ich habe für den 21. im Hotelrestaurant auf zwei Uhr einen Tisch reserviert. Dort werde ich dich erwarten. Wenn du kommst, wirst du mich zum glücklichsten Menschen auf Erden machen, und ich werde die Gewissheit haben, dass meine Träume, deine Liebe wiederzuzugewinnen, nicht hoffnungslos sind.
Dich seit je liebend
Pablo

Einige Sekunden lang blieb ich weiter auf dem Bett sitzen, das ich erst vor ein paar Stunden noch mit Bea geteilt hatte. Dann steckte ich den Brief wieder in den Umschlag, und als ich aufstand, hatte ich das Gefühl, ich hätte eben einen Faustschlag in den Magen bekommen. Ich rannte ins Bad und erbrach den Morgenkaffee ins Waschbecken. Dann klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel schaute mich das Gesicht des sechzehnjährigen Daniel an, dessen Hände gezittert hatten, als er Bea zum ersten Mal liebkost hatte.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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