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Die Zelle war ein feuchtdunkles Rechteck mit einem kleinen, in den Fels gehauenen Loch, durch das kalte Luft pfiff. Die Mauern waren übersät von Einkerbungen und Inschriften ehemaliger Mieter. Einige hatten ihren Namen und die Daten ihres Hierseins oder sonst einen Hinweis auf ihre Existenz eingeritzt. Einer hatte sich damit unterhalten, Kreuzworträtsel in die Dunkelheit zu kratzen, doch der Himmel schien keine Notiz davon genommen zu haben. Rostige Eisenstäbe vergitterten die Zelle und hinterließen bei der Berührung einen braunen Schleier an den Händen.

Fermín hatte sich auf einer Pritsche zusammengekauert und versuchte mit einem zerlumpten Stück Stoff, in dem er Decke, Matratze und Kopfkissen in einem vermutete, seine Blöße zu bedecken. Das Halbdunkel hatte einen kupferfarbenen Schimmer wie der Hauch einer verglimmenden Kerze. Nach einer Weile gewöhnten sich die Augen an dieses Dauerdunkel, und die Ohren wurden so fein, dass sie in der Litanei von Tropfen und Echos der Außenluft die leiseste Bewegung von Körpern wahrnahmen.

Er hatte bereits eine halbe Stunde auf seiner Pritsche verbracht, als er am anderen Ende der Zelle undeutliche Umrisse erkannte. Er stand auf, ging langsam näher und stellte fest, dass es ein schmutziger Segeltuchsack war. Kälte und Feuchtigkeit waren ihm allmählich in die Knochen gedrungen, und obwohl der von diesem dunkel gesprenkelten Bündel ausgehende Gestank zu wenig beglückenden Vermutungen einlud, dachte Fermín, darin vielleicht die Gefangenenuniform zu finden, die ihm zu geben sich niemand die Mühe gemacht hatte, und mit etwas Glück sogar eine Decke. Er kniete vor dem Sack nieder und löste am einen Ende den Knoten.

Als er das Segeltuch wegzog, enthüllte der zittrige Widerschein der auf dem Gang flackernden Lampen etwas, was er im ersten Moment für das Gesicht einer Schneiderpuppe hielt, wie sie in Schaufenstern die Anzüge ihrer Schöpfer anpreisen, aber der Gestank und die sofort einsetzende Übelkeit machten ihm klar, dass es sich mitnichten um eine Puppe handelte. Sich mit einer Hand Nase und Mund zuhaltend, zog er das Segeltuch ganz weg und wich bis an die Zellenwand zurück.

Die Leiche schien ein Erwachsener in einem unbestimmten Alter zwischen vierzig und fünfundsiebzig Jahren zu sein und konnte nicht mehr als fünfzig Kilo wiegen. Lange Haare und ein weißer Bart bedeckten einen großen Teil des skeletthaften Oberkörpers. Die knochigen Hände mit langen, krummen Fingernägeln sahen aus wie Vogelklauen. Die Hornhaut in den weit offenen Augen wirkte zerknittert wie die Schale einer reifen Frucht. Der Mund war halb geöffnet und die aufgequollene, schwärzliche Zunge zwischen den fauligen Zähnen verklemmt.

»Ziehen Sie ihm die Kleider aus, bevor er abtransportiert wird«, hörte er eine Stimme aus der gegenüberliegenden Zelle. »Bis zum nächsten Monat werden Sie von niemandem welche bekommen.«

Fermín spähte ins Dunkel und sah zwei leuchtende Augen, die ihn von der Pritsche der anderen Zelle aus beobachteten.

»Nur keine Angst, der Arme kann niemandem mehr etwas antun«, sagte die Stimme.

Fermín nickte und trat wieder zu dem Sack, ohne recht zu wissen, wie er die Operation durchführen sollte.

»Verzeihen Sie bitte«, flüsterte er dem Toten zu. »Ruhen Sie in Frieden, und Gott sei Ihnen gnädig.«

»Er war Atheist«, erklärte die Stimme in der anderen Zelle.

Fermín nickte und vergaß das Zeremoniell. Die Kälte in der Zelle schnitt ihm in die Knochen, so dass sich jede freundliche Geste erübrigte. Er hielt den Atem an und machte sich ans Werk. Die Kleider rochen nach Leiche. Mittlerweile hatte sich die Totenstarre über den ganzen Körper ausgebreitet, und es war schwieriger als vermutet, die Gestalt zu entkleiden. Nachdem er es geschafft hatte, deckte Fermín den Mann wieder mit dem Segeltuchsack zu und verschloss diesen mit einem Seemannsknoten, der selbst für den großen Houdini eine Herausforderung gewesen wäre. Angetan mit diesen stinkenden Lumpen, legte er sich schließlich wieder auf die Pritsche und fragte sich, wie viele Gefangene diese selbe Uniform getragen haben mochten.

»Vielen Dank«, sagte er dann.

»Den habe ich nicht verdient«, antwortete die Stimme auf der anderen Seite des Gangs.

»Fermín Romero de Torres, zu dienen.«

»David Martín.«

Fermín runzelte die Stirn. Der Name kam ihm bekannt vor. Fast fünf Minuten lang jonglierte er mit Erinnerungen und Echos, dann ging ihm ein Licht auf, und er erinnerte sich an geraubte Nachmittage in einem Winkel der Bibliothek in der Calle del Carmen, als er eine Serie Bücher mit anzüglichem Umschlag und Titel verschlungen hatte.

»Martín, der Schriftsteller? Der von Die Stadt der Verdammten

Ein Seufzer im Dunkeln.

»In diesem Land hat keiner mehr Achtung vor Pseudonymen.«

»Verzeihen Sie die Indiskretion, aber meine Verehrung für Ihre Bücher war scholastisch, und von daher weiß ich, dass Sie es waren, der die Feder des berühmten Ignatius B. Samson führte …«

»Zu dienen.«

»Nun, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Señor Martín, sogar unter diesen unglücklichen Umständen, denn ich bin seit vielen Jahren ein großer Bewunderer von Ihnen und …«

»Ob wir wohl endlich den Schnabel halten, ihr Turteltäubchen – hier gibt es Leute, die schlafen möchten«, brüllte eine mürrische Stimme, die aus der Nachbarzelle zu kommen schien.

»Da hat die Sonne des Hauses gesprochen«, mischte sich eine zweite Stimme ein, etwas weiter entfernt auf dem Gang. »Beachten Sie ihn einfach nicht, Martín – wenn man hier einschläft, wird man bei lebendigem Leib von den Wanzen aufgefressen, angefangen bei den Schamteilen. Los, Martín, warum erzählen Sie uns nicht eine Geschichte? Eine von denen mit Chloé …«

»Damit du dir wieder einen abwichsen kannst wie ein Affe, was?«, antwortete die feindselige Stimme.

»Lieber Fermín«, sagte Martín in seiner Zelle, »ich habe das Vergnügen, Ihnen Nr. 12 vorzustellen, die alles schlecht findet, was es auch sei, und Nr. 15, schlaflos, gebildet und offizieller Ideologe der Galerie. Die anderen reden wenig, vor allem Nr. 14.«

»Ich rede, wenn ich etwas zu sagen habe«, meldete sich eine tiefe, eiskalte Stimme, die Fermín der Nr. 14 zuordnete. »Wenn alle hier das täten, hätten wir in der Nacht Ruhe.«

Fermín schätzte diese gesamte so eigenartige Gruppe ab und sagte:

»Guten Abend, alle zusammen. Ich bin Fermín Romero de Torres, und es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.«

»Das Vergnügen ist ganz auf Ihrer Seite«, erwiderte Nr. 12.

»Willkommen – hoffentlich ist Ihr Aufenthalt hier von kurzer Dauer«, sagte Nr. 14.

Fermín warf wieder einen Blick auf den Sack mit der Leiche und schluckte.

»Der war Lucio, die vorherige Nr. 13«, erklärte Martín. »Wir wissen nichts von ihm, der Ärmste war stumm. Eine Kugel hat ihm auf dem Ebro den Kehlkopf zertrümmert.«

»Schade, dass er der Einzige war«, erwiderte Nr. 14.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Fermín.

»Hier stirbt man am bloßen Dasein«, antwortete Nr. 12. »Viel mehr braucht es nicht.«

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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