8

Eines Abends, als ich die Geisterjagd satthatte, verzichtete ich auf meine Sitzung in den Archiven und unternahm mit Bea und Julián einen Spaziergang durch ein reines, sonniges Barcelona, das ich schon fast vergessen hatte. Wir spazierten von zu Hause aus zum Ciudadela-Park. Ich setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie Julián auf dem Rasen mit seiner Mutter spielte. Dabei wiederholte ich bei mir Fermíns Worte. Ein glücklicher Mann, ja, das war ich, Daniel Sempere. Ein glücklicher Mann, der in seinem Inneren einen blinden Groll hatte wachsen lassen, bis es ihn vor ihm selbst graute.

Ich schaute meinem Sohn zu, der sich einer seiner Leidenschaften hingab: auf allen vieren zu kriechen, bis er vollkommen schmutzig war. Bea folgte ihm dichtauf. Ab und zu hielt er inne und schaute zu mir hin. Ein Windstoß hob Beas Rock, und der Kleine lachte. Ich klatschte Beifall, was mir einen vorwurfsvollen Blick von ihr eintrug. Ich fand die Augen meines Sohnes und dachte, bald würde er mich anschauen, als wäre ich der weiseste und beste Mensch der Welt, der auf alles eine Antwort wusste. Da nahm ich mir vor, nie wieder Mauricio Valls’ Namen zu erwähnen oder seinen Schatten zu verfolgen.

Bea setzte sich neben mich, und Julián kroch ihr nach bis zur Bank. Als er bei mir angelangt war, nahm ich ihn auf die Arme und rieb seine Hände an meinen Rockaufschlägen sauber.

»Eben aus der Reinigung zurück«, sagte Bea.

Resigniert zuckte ich die Achseln. Sie lehnte sich an mich und nahm meine Hand.

»Tolle Beine«, sagte ich.

»Finde ich gar nicht lustig. Und das lernt dann dein Sohn. Zum Glück war niemand in der Nähe.«

»Na ja, da hatte sich so ein Opachen hinter einer Zeitung versteckt, der, glaube ich, vor Herzjagen ohnmächtig geworden ist.«

Auf dem Heimweg, uns ein paar Schritte voraus, sprühte Bea Funken.


Nachdem sie an diesem Abend, es war der 20. Januar, Julián zu Bett gebracht hatte, schlief sie auf dem Sofa neben mir ein, während ich einen der alten Romane von David Martín las, den Fermín in den Monaten des Exils nach seiner Flucht aus dem Gefängnis gefunden und dann über die ganzen Jahre hinweg behalten hatte. Wie immer genoss ich jede Wendung, nahm die Architektur jedes Satzes unter die Lupe, da ich dachte, wenn ich die Musik dieser Prosa entschlüsselte, würde ich etwas von dem Mann entdecken, den ich nie kennengelernt hatte und der, wie mir alle versicherten, nicht mein Vater war. An diesem Abend war ich jedoch nicht in der Lage dazu. Noch vor dem Ende eines Satzes flogen meine Gedanken von der Buchseite zu diesem Brief von Pablo Cascos Buendía, in dem er meine Frau am nächsten Tag um zwei Uhr nachmittags ins Ritz bestellte.

Schließlich klappte ich das Buch zu und betrachtete Bea, die neben mir schlief, und ahnte, dass in ihr tausendmal mehr Geheimnisse ruhten als in Martíns Geschichten und seiner unseligen Stadt der Verdammten. Mitternacht war vorüber, als sie die Augen öffnete und meinen forschenden Blick sah. Sie lächelte mir zu, obwohl offenbar etwas an meinem Gesicht eine leichte Unruhe in ihr weckte.

»Woran denkst du?«, fragte sie.

»Daran, wie glücklich ich bin.«

Sie sah mich lange an, Zweifel im Blick.

»Das sagst du so, als glaubtest du es selbst nicht.«

Ich stand auf und reichte ihr die Hand.

»Gehen wir ins Bett«, forderte ich sie auf.

Sie ergriff meine Hand und folgte mir durch den Flur ins Schlafzimmer. Dort legte ich mich aufs Bett und schaute sie schweigend an.

»Du bist seltsam, Daniel. Was ist eigentlich los mit dir? Habe ich irgendwas gesagt?«

Mit einem Lächeln weiß wie die Lüge schüttelte ich den Kopf. Sie nickte und zog sich langsam aus. Beim Entkleiden drehte sie mir nie den Rücken zu, versteckte sich auch nicht im Bad oder hinter der Tür, wie es die vom Regime propagierten Leitfäden für Ehehygiene forderten. Ich schaute ihr gelassen zu und las die Linien ihres Körpers. Sie sah mir in die Augen, schlüpfte in das verhasste Nachthemd und legte sich mit dem Rücken zu mir ins Bett.

»Gute Nacht«, sagte sie mit befangener und, für jemanden, der sie gut kannte, ärgerlicher Stimme.

»Gute Nacht«, brummelte ich.

Ihre Atemzüge verrieten mir, dass sie über eine halbe Stunde brauchte, um einzuschlafen, aber schließlich war die Müdigkeit stärker als mein befremdliches Benehmen. Ich blieb neben ihr liegen und war mir nicht darüber im Klaren, ob ich sie wecken und um Verzeihung bitten oder einfach küssen sollte. Ich tat gar nichts, sondern blieb reglos liegen, verfolgte die geschwungene Linie ihres Rückens und hörte die Schwärze in mir flüstern, in einigen Stunden werde Bea zu einem Rendezvous mit ihrem ehemaligen Verlobten gehen und diese Lippen und diese Haut würden einem anderen gehören, wie sein kitschiger Brief anzudeuten schien.


Als ich aufwachte, war Bea schon weg. Ich hatte erst am frühen Morgen einschlafen können, erwachte unsanft mit den Neun-Uhr-Schlägen der Kirche und zog die erstbesten Kleider an, die ich fand. Draußen erwartete mich ein kalter Montag, gesprenkelt mit Schneeflocken, die in der Luft schwebten und sich wie Spinnen aus Licht an unsichtbaren Fäden auf die Passanten hefteten. Als ich den Laden betrat, stand mein Vater auf dem Schemel, auf den er täglich kletterte, um das Kalenderdatum zu ändern. 21. Januar.

»Dass die Bettlaken an einem kleben, verfängt, glaube ich, nicht mehr, wenn man älter ist als zwölf«, sagte er. »Heute warst du dran mit Aufmachen.«

»Entschuldige. Eine schlimme Nacht. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Zwei Stunden lang bemühte ich mich, Kopf und Hände mit Buchhandlungsaufgaben zu beschäftigen, aber letztlich gab es in meinen Gedanken nur diesen vermaledeiten Brief, den ich mir tonlos immer wieder zitierte. Gegen Mittag kam Fermín heimlich zu mir und bot mir ein Sugus an.

»Heute ist der Tag, nicht wahr?«

»Schweigen Sie, Fermín«, fiel ich ihm so brüsk ins Wort, dass mein Vater die Brauen in die Höhe zog.

Ich flüchtete mich ins Hinterzimmer und hörte sie flüstern. Am Schreibtisch meines Vaters sitzend, schaute ich auf die Uhr. Dreizehn Uhr zwanzig. Ich versuchte, dem Verstreichen der Minuten zu folgen, doch die Uhrzeiger rückten einfach nicht vor. Als ich in den Laden zurückging, sahen mich Fermín und mein Vater besorgt an.

»Daniel, vielleicht möchtest du ja den Rest des Tages freinehmen«, sagte mein Vater. »Fermín und ich kommen schon zurecht.«

»Danke. Ich glaube, ja. Ich habe kaum geschlafen und fühle mich nicht sehr wohl.«

Ich hatte nicht den Mut, Fermín anzuschauen, bevor ich durchs Hinterzimmer entwischte. Mit bleiernen Füßen stieg ich die fünf Stockwerke hinauf. Als ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich im Bad das Wasser laufen. Ich schlurfte zum Schlafzimmer und blieb auf der Schwelle stehen. Bea saß auf der Bettkante. Sie hatte mich nicht eintreten sehen und hören. Ich sah sie in ihre Seidenstrümpfe schlüpfen und sich anziehen, den Blick auf den Spiegel geheftet. Erst nach zwei Minuten wurde sie auf mich aufmerksam.

»Ich wusste nicht, dass du hier bist«, sagte sie halb überrascht, halb gereizt.

»Gehst du aus?«

Sie nickte, während sie ihre Lippen hochrot schminkte.

»Wohin gehst du denn?«

»Ich habe einiges zu erledigen.«

»Du hast dich sehr hübsch gemacht.«

»Ich mag nicht auf die Straße gehen und aussehen, als käme ich grade aus dem Bett.«

Sie legte Lidschatten auf. »Glücklicher Mann«, sagte die Stimme sarkastisch.

»Was musst du denn erledigen?«, fragte ich.

Sie wandte sich um und schaute mich an.

»Was?«

»Ich habe gefragt, was du erledigen musst.«

»Allerlei.«

»Und Julián?«

»Meine Mutter hat ihn abgeholt und geht mit ihm spazieren.«

»Aha.«

Sie trat zu mir, legte ihre Gereiztheit ab und sah mich besorgt an.

»Daniel, was ist mit dir?«

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«

»Warum machst du nicht eine Siesta? Die hast du nötig.«

Ich nickte.

»Gute Idee.«

Sie lächelte schwach und ging mit mir auf meine Seite des Betts. Dort half sie mir, mich hinzulegen, deckte mich mit dem Überwurf zu und küsste mich auf die Stirn.

»Ich komme spät«, sagte sie.

Ich sah sie davongehen.

»Bea …«

Mitten im Flur blieb sie stehen und wandte sich um.

»Liebst du mich?«, fragte ich.

»Natürlich liebe ich dich. Was für eine dumme Frage.«

Ich hörte, wie sich die Tür schloss und sich dann ihre katzenhaften Schritte und die Pfennigabsätze treppab verloren. Ich griff zum Telefon und wartete auf die Vermittlung.

»Das Hotel Ritz bitte.«

Nach einigen Sekunden kam die Verbindung zustande.

»Hotel Ritz, guten Tag, womit können wir Ihnen dienen?«

»Könnten Sie feststellen, ob ein bestimmter Gast bei Ihnen wohnt, bitte?«

»Wenn Sie so freundlich sind, mir den Namen zu nennen.«

»Cascos. Pablo Cascos Buendía. Er sollte eigentlich gestern angekommen sein …«

»Einen Augenblick, bitte.«

Eine lange Minute des Wartens, Geraune, Echos in der Leitung.

»Mein Herr –«

»Ja?«

»Im Moment finde ich keine Reservierung auf den von Ihnen genannten Namen …«

Unendliche Erleichterung befiel mich.

»Könnte es sein, dass die Reservierung auf den Namen einer Firma erfolgt ist?«

»Das haben wir gleich.«

Diesmal brauchte ich nicht lange zu warten.

»Tatsächlich, Sie haben recht. Señor Cascos Buendía. Da habe ich ihn. Suite Continental. Die Reservierung läuft auf den Namen der Ariadna Verlage.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte dem Herrn, dass Señor Cascos Buendías Reservierung auf den Namen der Ariadna Verlage läuft. Wünscht der Herr mit dem Zimmer verbunden zu werden?«

Der Hörer entglitt meiner Hand. Ariadna, Mauricio Valls’ vor Jahren gegründetes Verlagsunternehmen.

Cascos arbeitete für Valls.

Ich knallte den Hörer auf die Gabel und ging auf die Straße hinaus, um mit argwohnvergiftetem Herzen meiner Frau zu folgen.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
titlepage.xhtml
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_000.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_001.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_075.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_076.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_079.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_002.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_003.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_004.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_005.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_006.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_007.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_008.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_009.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_010.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_011.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_012.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_013.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_014.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_015.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_016.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_017.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_018.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_019.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_020.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_021.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_022.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_023.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_024.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_025.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_026.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_027.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_028.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_029.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_030.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_031.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_032.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_033.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_034.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_035.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_036.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_037.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_038.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_039.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_040.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_041.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_042.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_043.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_044.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_045.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_046.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_047.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_048.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_049.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_050.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_051.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_052.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_053.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_054.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_055.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_056.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_057.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_058.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_059.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_060.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_061.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_062.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_063.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_064.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_065.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_066.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_067.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_068.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_069.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_070.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_071.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_072.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_073.html
CR!HJCXF6JK7559SCDSSDMH8REQSJG8_split_074.html