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Zwischen den Besuchen des Herrn mit dem pechschwarzen Haar ließ sich der Genesende ernähren, waschen und sich saubere Kleider überziehen, die ihm zu groß waren. Als er sich endlich wieder auf den Beinen halten und einige Schritte tun konnte, begleitete man ihn an den Strand, wo er sich die Füße vom Wasser umspielen und sich von der Mittelmeersonne liebkosen lassen konnte. Einmal schaute er einen Vormittag lang einigen zerlumpten Kindern mit schmutzigen Gesichtern beim Spielen im Sand zu und dachte, dass er Lust hatte zu leben, wenigstens noch ein bisschen. Mit der Zeit stellten sich die Erinnerung und die Wut wieder ein und damit der Wunsch – aber auch die Angst –, in die Stadt zurückzukehren.

Beine, Arme und übrige Mechanismen begannen wieder einigermaßen normal zu funktionieren. Er gewann das seltsame Vergnügen zurück, ohne Brennen oder beschämende Zwischenfälle in den Wind zu urinieren, und dachte, ein Mann, der ohne Hilfe im Stehen pinkeln könne, sei Manns genug, seine Verantwortlichkeiten auf sich zu nehmen. Spät in dieser Nacht stand er leise auf und ging durch die engen Gassen zu der Grenze der Armenstadt, die von den Bahnschienen bestimmt wurde. Auf der anderen Seite erhoben sich der Wald von Schloten und der Kamm von Engeln und Mausoleen auf dem Friedhof. Noch weiter entfernt, wie auf einem sich die Hügel hinaufziehenden Lichtergemälde, lag Barcelona. Er hörte Schritte hinter sich, und als er sich umwandte, sah er den gelassenen Blick des Mannes mit dem pechschwarzen Haar.

»Sie sind wiedergeboren worden«, sagte er.

»Na, dann bin ich ja mal gespannt, ob es diesmal besser klappt als beim ersten Mal, denn bis jetzt …«

Der Mann mit dem pechschwarzen Haar lächelte.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Ich bin Armando, der Zigeuner.«

Fermín gab ihm die Hand.

»Fermín Romero de Torres, Nichtzigeuner, aber relativ vertrauenswürdig.«

»Lieber Fermín, ich habe den Eindruck, Sie tragen sich mit dem Gedanken, zu denen zurückzugehen.«

»Die Katze lässt das Mausen nicht«, sagte Fermín. »Ich habe einiges Unfertige hinterlassen.«

Armando nickte.

»Verstehe, aber es ist noch zu früh, mein Freund. Haben Sie Geduld. Bleiben Sie noch eine Zeitlang bei uns.«


Die Angst vor dem, was ihn bei seiner Rückkehr erwartete, und die Großherzigkeit dieser Menschen hielten ihn zurück, bis ihm eines Sonntagmorgens eine Zeitung in die Hände fiel, die einer der Jungen im Abfall einer der Strandkneipen der Barceloneta gefunden hatte. Es war schwer zu sagen, wie lange die Zeitung da gelegen hatte, aber sie trug ein Datum drei Monate nach seiner Flucht. Er kämmte die Seiten nach einem Indiz oder einem Namen durch, fand aber nichts. An diesem Nachmittag, als er bereits beschlossen hatte, in der Dämmerung nach Barcelona zurückzugehen, trat Armando zu ihm und teilte ihm mit, einer seiner Leute sei bei der Pension vorbeigegangen, wo er gewohnt hatte.

»Fermín, es ist besser, Sie gehen nicht dorthin, um Ihre Sachen zu holen.«

»Woher kennen Sie denn mein Domizil?«

Lächelnd wich Armando der Frage aus.

»Die Polizei hat dort verbreitet, Sie seien gestorben. Schon vor Wochen ist eine Meldung über Ihren Tod in der Zeitung erschienen. Ich wollte Ihnen nichts sagen, weil mir scheint, während der Genesung über den eigenen Tod zu lesen ist nicht unbedingt hilfreich.«

»Woran bin ich denn gestorben?«

»An natürlichen Ursachen. Sie sind in einen Abgrund gestürzt, als Sie vor der Justiz fliehen wollten.«

»Dann bin ich also tot?«

»Wie die Polka.«

Fermín dachte darüber nach, was sein neuer Status mit sich brachte.

»Und was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin? Ich kann ja nicht ewig hierbleiben und Ihre Güte ausnützen und Sie alle in Gefahr bringen.«

Armando setzte sich zu ihm und steckte sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten an, die nach Eukalyptus rochen.

»Fermín, Sie können tun, was Sie wollen, denn es gibt Sie nicht. Ich würde beinahe sagen, bleiben Sie bei uns – jetzt sind Sie einer von uns, Leuten, die keinen Namen haben und nirgends auftauchen. Wir sind Geister. Unsichtbar. Aber ich weiß, dass Sie zurückgehen und regeln müssen, was Sie hinterlassen haben. Leider kann ich Ihnen keinen Schutz mehr bieten, wenn Sie einmal hier weggegangen sind.«

»Sie haben schon genug für mich getan.«

Armando klopfte ihm auf die Schulter, zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Tasche und gab es ihm.

»Verlassen Sie für eine Weile die Stadt. Lassen Sie ein Jahr vergehen, und wenn Sie wiederkommen, fangen Sie hier an«, sagte er.

Fermín faltete das Blatt auseinander und las:

FERNANDO BRIANS
Anwalt
Calle de Caspe, 12
Penthouse 1a
Barcelona
Tel. 56 43 75

»Wie kann ich bloß gutmachen, was Sie alles für mich getan haben?«

»Wenn Sie Ihre Angelegenheiten geregelt haben, kommen Sie mal her und fragen Sie nach mir. Dann gehen wir in eine Flamencovorstellung von Carmen Amaya, und anschließend erzählen Sie mir, wie Sie es geschafft haben, dort oben wegzukommen. Ich bin gespannt.«

Fermín schaute in diese schwarzen Augen und nickte langsam.

»In welcher Zelle waren Sie denn, Armando?«

»In Nr. 13.«

»Stammen diese eingeritzten Kreuze an der Wand von Ihnen?«

»Im Gegensatz zu Ihnen, Fermín, bin ich gläubig, aber mir ist der Glaube abhandengekommen.«

An diesem Abend hinderte ihn niemand am Gehen, und niemand verabschiedete sich von ihm. Einer unter vielen Unsichtbaren, machte er sich auf zu den Straßen eines Barcelona, das nach Elektrizität roch. In der Ferne sah er die Türme der Sagrada-Familia-Kirche in einer roten Wolkendecke gefangen, die ein biblisches Gewitter verhieß, und ging weiter. Seine Schritte führten ihn zum Busbahnhof in der Calle Trafalgar. In den Taschen des Mantels, den ihm Armando geschenkt hatte, fand er Geld. Er kaufte sich eine Fahrkarte für die längste Strecke, die er fand, und verbrachte die Nacht im Bus, der unter dem Regen über leere Landstraßen fuhr. Das wiederholte er am nächsten Tag, und so gelangte er nach Tagen der Züge, Fußmärsche und Nachtbusse an einen Ort, wo die Straßen keinen Namen und die Häuser keine Nummern hatten und wo sich nichts und niemand an ihn erinnerte.


Er hatte hundert Beschäftigungen und keinen Freund. Er verdiente Geld und gab es aus. Er las Bücher, die von einer Welt sprachen, an die er nicht mehr glaubte. Er begann Briefe zu schreiben, für die er nie ein Ende fand. Er lebte gegen die Erinnerung und die Gewissensbisse an. Mehr als einmal ging er in die Mitte einer Brücke oder trat dicht an eine Schlucht heran und schaute gelassen in die Tiefe. Immer erinnerte er sich im letzten Moment an dieses Versprechen und den Blick des Gefangenen des Himmels. Nach einem Jahr gab er das Zimmer auf, das er über einem Café gemietet hatte, und mit nichts im Gepäck als einem Exemplar von Die Stadt der Verdammten, das er auf einem Trödelmarkt gefunden hatte, möglicherweise dem einzigen Buch Martíns, das nicht verbrannt worden war und das er ein Dutzend Mal gelesen hatte, ging er die zwei Kilometer zum Bahnhof und kaufte die Fahrkarte, die diese ganzen Monate auf ihn gewartet hatte.

»Einmal Barcelona, bitte.«

Der Schalterbeamte reichte ihm die Fahrkarte mit einem verächtlichen Blick:

»Wie kann man bloß«, sagte er, »zu diesen Scheißkatalanen …«

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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