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Das wenigstens besagte die Legende. Diese Anhäufung von Vermutungen und Gerüchten aus dritter Hand war den Gefangenen dank den Machenschaften des vorherigen Direktors zu Ohren gekommen, der nach kaum zwei Wochen im Amt abgesetzt worden und jetzt von Ressentiments gegen diesen Emporkömmling vergiftet war, welcher ihm den Titel gestohlen hatte, für den er den ganzen Krieg lang gekämpft hatte. Der scheidende Direktor erfreute sich keiner familiären Beziehungen und schleppte die verhängnisvolle Last mit, dabei ertappt worden zu sein, wie er in betrunkenem Zustand über den Generalísimo aller Spanier und seine überraschende Ähnlichkeit mit Winnie the Pooh gewitzelt hatte. Bevor er in einem Subdirektorenposten in einem Gefängnis von Ceuta begraben wurde, hatte er seine Zeit dazu genutzt, bei jedem, der es hören wollte, über Mauricio Valls herzuziehen.

Außer jedem Zweifel stand, dass es niemandem gestattet war, von Valls anders als vom Herrn Direktor zu sprechen. Die von ihm selbst in Umlauf gesetzte offizielle Version besagte, dass Don Mauricio ein angesehener Literat war, über einen kultivierten Intellekt und eine in seinen Pariser Studienjahren erworbene exquisite Gelehrsamkeit verfügte und vom Schicksal mit der Mission betraut war, nach diesem Interim im Strafvollzug des Regimes mit Hilfe eines auserwählten Kreises gleichgesinnter Intellektueller das einfache Volk des dezimierten Spaniens zu erziehen und ihm das Denken beizubringen.

Oft enthielten seine Diskurse ausführliche Zitate aus den Schriften, Gedichten oder pädagogischen Artikeln, die er emsig in der nationalen Presse über Literatur, Philosophie und die notwendige Wiedergeburt des westlichen Denkens veröffentlichte. Wenn die Gefangenen nach diesen meisterlichen Darbietungen kräftig applaudierten, ließ der Direktor die Wärter in einer Anwandlung von Großzügigkeit Zigaretten, Kerzen oder sonst einen Luxusgegenstand aus dem Posten Geschenke und Pakete verteilen, die den Gefangenen von ihren Familien geschickt wurden. Die begehrenswertesten Artikel waren vorgängig von den Wärtern konfisziert worden, die sie nach Hause mitnahmen oder manchmal auch unter den Gefangenen verkauften, aber das war immerhin etwas.

Die eines natürlichen oder vage unnatürlichen Todes Gestorbenen, gewöhnlich einer bis drei pro Woche, wurden um Mitternacht abgeholt, ausgenommen an Wochenenden oder gebotenen Feiertagen, an denen die Leiche bis zum Montag oder nächsten Arbeitstag in der Zelle blieb, üblicherweise schon als Gesellschaft des neuen Mieters. Wenn die Gefangenen den Tod eines ihrer Kameraden meldeten, kam ein Wärter, kontrollierte Puls oder Atmung und steckte ihn dann in einen der eigens dafür vorgesehenen Segeltuchsäcke. Danach lag der verschnürte Sack in der Zelle, bis ihn das Bestattungsunternehmen des angrenzenden Friedhofs Montjuïc abholen kam. Niemand wusste, was mit ihnen geschah, und auf eine entsprechende Frage hin hatte Bebo mit gesenktem Blick die Antwort verweigert.

Alle zwei Wochen wurde ein militärisches Schnellstverfahren durchgeführt, und im Morgengrauen wurden die Gefangenen füsiliert. Manchmal schaffte es ein Erschießungskommando wegen des schlechten Zustands der Gewehre oder der Munition nicht, ein lebenswichtiges Organ zu treffen, und danach waren die Klagelaute der in den Graben gefallenen Füsilierten noch stundenlang zu hören. Gelegentlich vernahm man auch eine Explosion, und die Schreie verstummten schlagartig. Die Theorie, die unter den Gefangenen zirkulierte, besagte, einer der Offiziere habe ihnen mit einer Granate den Rest gegeben, aber niemand war sicher, ob das wirklich die Erklärung war.

Ein weiteres Gerücht unter den Insassen lautete, immer am Freitagvormittag empfange der Direktor in seinem Büro Frauen, Töchter, Freundinnen, ja selbst Tanten und Großmütter von Gefangenen. Ohne seinen Ehering, den er in die oberste Schreibtischschublade verbannt hatte, hörte er sich ihre Bitten an, wog ihre Ansuchen ab, reichte ihnen ein Taschentuch für ihre Tränen und akzeptierte ihre Geschenke und Gefälligkeiten anderer Natur, die ihm für das Versprechen besserer Ernährung und Behandlung oder der Revision undurchsichtiger, aber nie wirklich angefochtener Urteile gewährt wurden.

Andere Male servierte ihnen Mauricio Valls einfach Teegebäck und ein Glas Muskateller, und wenn sie trotz der elenden Zeiten und der schlechten Ernährung noch gut aussahen und bekneifenswert waren, las er ihnen eine seiner Schriften vor und gestand, die Ehe mit einer Kranken gleiche dem Leidensweg eines Heiligen, fand tausend Worte für den Abscheu, den er vor seiner Kerkerarbeit empfand, und die Erniedrigung, die es für einen Mann von so hoher Kultur, Raffinesse und Vortrefflichkeit bedeutete, auf diesen schäbigen Posten verbannt worden zu sein, wo es doch sein eigentliches Schicksal war, zur Elite des Landes zu zählen.

Die Veteranen rieten, den Direktor gar nicht zu erwähnen und möglichst nicht an ihn zu denken. Die meisten Gefangenen sprachen lieber über die Familien, die sie zurückgelassen hatten, über ihre Frauen und das Leben, an das sie sich noch erinnerten. Einige hatten Fotos von Verlobten oder Ehefrauen, die sie horteten und mit ihrem Leben verteidigten, wenn jemand sie ihnen wegnehmen wollte. Mehr als einer hatte Fermín erzählt, am schlimmsten seien die ersten drei Monate. Danach, wenn jede Hoffnung verloren sei, vergehe die Zeit wie im Flug, und die Sinnlosigkeit der Tage schläfere die Seele ein.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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