23

Der Lastwagen kämpfte sich im Schneckentempo über die letzten Meter dieser Piste. Zwei Minuten Schlaglöcher und Lastwagenächzen später wurde der Motor abgestellt. Der Gestank, der durch den Sackstoff zu Fermín drang, war unbeschreiblich. Die beiden Totengräber kamen zur Rückseite des Lastwagens. Er hörte den Hebel des Verschlusses aufschnappen – dann wurde der Sack mit einem heftigen Ruck ins Leere geworfen.

Fermín schlug seitlich auf dem Boden auf. Dumpfer Schmerz durchzog seine Schulter. Bevor er reagieren konnte, hoben die Totengräber den Sack wieder vom Boden auf, fassten je an einem Ende an und trugen ihn einige Meter den Hang hinauf. Dann ließen sie ihn erneut fallen, und Fermín hörte, wie sich der eine niederkniete und den Sack aufzuknoten begann. Die Schritte des anderen entfernten sich einige Meter, und ein metallisches Geräusch war zu vernehmen. Fermín versuchte, Luft zu holen, doch der Pestgestank verbrannte ihm die Kehle. Er schloss die Augen. Über sein Gesicht strich kalte Luft. Der Totengräber ergriff den Sack am verschlossenen Ende und zerrte kräftig. Fermíns Körper rollte auf Steine und durch Pfützen.

»Los, auf drei«, sagte einer der beiden.

Vier Hände packten ihn an Knöcheln und Handgelenken. Krampfhaft hielt er den Atem an.

»Sag mal, der schwitzt doch nicht etwa, oder?«

»Wie soll denn ein Toter schwitzen, du Blödmann? Das kommt von der Pfütze. Los, eins, zwei und …«

Drei. Fermín wurde in der Luft geschaukelt – einen Augenblick später flog er und überließ sich seinem Schicksal. In voller Parabel öffnete er die Augen und konnte vor dem Aufprall gerade noch sehen, dass er auf einen im Berg ausgehobenen Graben zustürzte. Im Mondlicht war nichts weiter zu erkennen als etwas Blasses, das den Boden bedeckte. Er war sich sicher, dass es sich um Steine handelte, und gelassen beschloss er in der halben Sekunde, die ihm noch blieb, dass es ihm nichts ausmachte zu sterben.

Es war eine weiche Landung. Er war auf etwas Molliges, Feuchtes gefallen. Fünf Meter weiter oben hielt einer der Totengräber eine Schaufel in der Hand und entleerte sie in die Luft. Weißlicher Staub verstreute sich wie in einem glänzenden Dunst, der seiner Haut erst schmeichelte und sie eine Sekunde später aufzuzehren begann wie eine Säure. Die beiden Totengräber machten sich davon, und Fermín stand auf. Er befand sich in einem offenen Graben voller mit Ätzkalk bedeckter Leichen. Er versuchte, das Feuerpulver abzuschütteln, und schaffte sich, die Hände in die Erde grabend und den Schmerz ignorierend, zwischen den Leichen zum Erdwall hinauf. Oben angelangt, konnte er sich zu einer schmutzigen Pfütze schleppen und sich vom Kalk reinigen. Als er aufstand, sah er gerade noch die Schlusslichter des Lastwagens in der Nacht verschwinden. Einen Moment lang drehte er sich um. Der Graben zu seinen Füßen zog sich dahin wie ein Ozean ineinander verflochtener Leichen. Die Übelkeit peitschte ihn auf die Knie, und er erbrach Galle und Blut auf seine Hände. Der Verwesungsgestank und die Panik ließen ihn kaum atmen. Da hörte er in der Ferne ein Brummen. Als er aufschaute, sah er die Scheinwerfer von zwei Autos näher kommen. Er rannte zur Bergflanke und gelangte zu einem Stück Wiese, von wo aus er zu Füßen des Hügels das Meer und an der Spitze des Wellenbrechers den Hafenleuchtturm sehen konnte.

Oben auf dem Montjuïc erhob sich das Kastell zwischen schwarzen Wolken, die träge dahinzogen und den Mond verhüllten. Der Motorenlärm kam näher. Ohne es sich zweimal zu überlegen, stürzte Fermín den Hang hinunter, schlug hin und kullerte zwischen Stämmen, Stöcken und Steinen dahin, die ihm die Haut in Fetzen vom Leib prügelten. Er spürte keinen Schmerz und keine Angst und keine Müdigkeit mehr, bis er die Straße erreichte, wo er auf die Hangars des Hafens zuzulaufen begann. Er rannte pausen- und atemlos, ohne Gefühl für die Zeit und für seinen Körper, der eine einzige Wunde war.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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