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Nach anderthalb Stunden Musik, Trinken und dreistem Schwofen gestand ich mir eine Atempause zu und ging zur Theke, um etwas Alkoholfreies zu holen, da ich das Gefühl hatte, keinen weiteren Tropfen Rum mit Zitrone mehr hinunterzukriegen, offizieller Drink des Abends. Der Kellner schenkte mir ein Tafelwasser ein, und ich lehnte mich mit dem Rücken an die Theke und beobachtete das Treiben. Erst jetzt sah ich am anderen Ende des Tresens die Rociíto. Sie hielt ein Champagnerglas in den Händen und verfolgte mit melancholischem Ausdruck die Party, die sie auf die Beine gestellt hatte. Nach dem zu schließen, was mir Fermín erzählt hatte, musste sie kurz vor ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag stehen, aber fast zwanzig Jahre im Geschäft hatten zahlreiche Spuren hinterlassen, und selbst in diesem bunten Schummerlicht wirkte die Königin der Calle Escudellers älter.

Ich trat zu ihr und lächelte sie an.

»Rociíto, Sie sind hübscher denn je«, schwindelte ich.

Sie hatte sich in ihre prächtigste Gala geworfen, und man erkannte die Arbeit des besten Friseursalons der Calle Conde del Asalto, und doch hatte ich den Eindruck, sie sei noch nie so traurig gewesen wie an diesem Abend.

»Geht es Ihnen gut, Rociíto?«

»Schauen Sie ihn sich an, bis auf die Knochen abgemagert und kriegt doch nicht genug vom Tanzen.«

Ihre Augen hingen an Fermín, und da wurde mir klar, dass sie in ihm nach wie vor den Helden sah, der sie aus den Klauen eines Bonsaimackers befreit hatte und vermutlich nach zwanzig Jahren Straßenarbeit der einzige Mann war, den kennenzulernen sich gelohnt hatte.

»Don Daniel, ich wollte es Fermín nicht sagen, aber ich geh morgen nicht zur Hochzeit.«

»Was sagst du da, Rociíto? Fermín hat dir einen Ehrenplatz reserviert …«

Sie schaute zu Boden.

»Ich weiß, aber ich kann nicht hingehen.«

»Warum denn?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort ahnte.

»Weil es mir sehr weh tun würde, und ich will, dass Señor Fermín glücklich ist mit seiner Señora.«

Sie hatte zu weinen begonnen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und so umarmte ich sie.

»Ich habe ihn immer geliebt, wissen Sie. Seit ich ihn kennengelernt habe. Ich weiß schon, dass ich nicht die Frau bin für ihn, dass er mich sieht als …, nun, eben, als die Rociíto.«

»Fermín hat dich sehr lieb, das darfst du nie vergessen.«

Sie entzog sich mir und trocknete verschämt die Tränen ab. Dann lächelte sie und zuckte die Schultern.

»Verzeihen Sie, ich bin ein Dummchen, und wenn ich zwei Tropfen trinke, weiß ich nicht mehr, was ich sage.«

»Das macht doch nichts.«

Ich reichte ihr mein Glas Wasser, und sie ergriff es.

»Eines Tages merkt man, dass die Jugend vorbei ist und der Zug abgefahren, wissen Sie.«

»Es gibt immer wieder Züge. Immer.«

Die Rociíto nickte.

»Aus diesem Grund gehe ich nicht zur Hochzeit, Don Daniel. Vor einigen Monaten schon habe ich einen Herrn aus Reus kennengelernt. Ein guter Mensch, Witwer. Ein guter Vater. Er betreibt einen Schrotthandel, und immer wenn er nach Barcelona kommt, besucht er mich. Er hat um meine Hand angehalten. Keiner von uns beiden macht sich Illusionen, wissen Sie. Allein alt zu werden ist sehr hart, und ich weiß, dass ich nicht mehr den Körper habe, um weiter auf der Straße zu arbeiten. Jaumet, der Herr aus Reus, hat mich gebeten, mit ihm zu verreisen. Die Kinder sind bereits ausgeflogen, und er hat sein ganzes Leben lang gearbeitet. Er sagt, er will noch etwas von der Welt sehen, bevor er abtritt, und hat mich gebeten mitzukommen. Als seine Frau, nicht als Wegwerfhure. Das Schiff fährt morgen sehr früh. Jaumet sagt, ein Schiffskapitän hat die Befugnis, auf hoher See zu trauen, und sonst suchen wir uns in irgendeinem Hafen, den wir anlaufen, einen Geistlichen.«

»Weiß es Fermín?«

Als hätte er uns aus der Ferne gehört, blieb Fermín auf der Tanzfläche stehen und schaute zu uns rüber. Er streckte die Arme nach der Rociíto aus und setzte dieses liebebedürftige Trägheitsgesicht auf, mit dem er so viel Erfolg gehabt hatte. Die Rociíto lachte, schüttelte leise den Kopf, und bevor sie für ihren letzten Bolero zu der Liebe ihres Lebens auf die Tanzfläche ging, drehte sie sich um und sagte:

»Passen Sie gut auf ihn auf, Daniel. Fermín gibt es nur einen.«

Das Orchester hatte aufgehört zu spielen, und die Tanzfläche öffnete sich, um die Rociíto durchzulassen. Fermín nahm sie bei den Händen. Langsam ging in der Paloma das Licht aus; zwischen den Schatten wuchs ein Scheinwerfer und zeichnete mit seinem Strahl zu Füßen des Paars einen dunstigen Lichtkreis. Alle anderen traten zur Seite, und langsam setzte das Orchester mit dem traurigsten je komponierten Bolero ein. Fermín umschlang die Taille der Rociíto. Sich in die Augen schauend, fern von der Welt, tanzten die Geliebten dieses für immer verlorenen Barcelona zum letzten Mal in enger Umarmung. Als die Musik verklang, küsste Fermín sie auf die Lippen, und die Rociíto streichelte in Tränen aufgelöst seine Wange und ging langsam auf den Ausgang zu, ohne sich zu verabschieden.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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