Zweiter Teil

  

Aus der Welt der Toten

  

1

  

Barcelona, 1939



Die neuen Gefangenen wurden nachts vom Präsidium in der Vía Layetana in schwarzen Personen- oder Lieferwagen gebracht, die lautlos und ohne dass jemand sie beachtete oder beachten wollte, die Stadt durchquerten. Die Fahrzeuge der politischen Polizei fuhren über die alte Straße auf den Montjuïc, und manch einer erzählte, sowie er auf dem Hügel die Umrisse des Kastells vor den schwarzen, vom Meer heraufkriechenden Wolken gesehen habe, sei ihm klargeworden, dass er nie wieder lebend von da wegkommen werde.

Die Festung war zuoberst auf dem Felsen verankert, zwischen dem Meer im Osten, dem Schattenteppich, den Barcelona im Norden auslegte, und im Süden der endlosen Stadt der Toten, dem alten Friedhof Montjuïc, dessen Gestank den Fels hochkletterte und durch die Spalten im Gestein und die Gitterstäbe der Zellen sickerte. In früheren Zeiten war die Stadt vom Kastell aus mit Kanonenkugeln beschossen worden, aber nur wenige Monate nach dem Fall Barcelonas im Januar und der endgültigen Niederlage im April nistete hier still der Tod, und die in der längsten Nacht ihrer Geschichte gefangenen Barcelonesen schauten lieber nicht zum Himmel empor, um die Silhouette des Gefängnisses oben auf dem Hügel nicht sehen zu müssen.

Den Gefangenen der politischen Polizei wurde beim Eintritt eine Nummer zugeteilt, normalerweise die ihrer künftigen Zelle, in der sie höchstwahrscheinlich auch sterben würden. Für die meisten Mieter, wie einer der Wärter sie gern nannte, war der Weg ins Kastell eine Einbahnstraße. In der Nacht, in der der Mieter Nr. 13 ankam, regnete es in Strömen. Durch die Steinmauern bluteten kleine schwarze Wasseradern, und die Luft stank nach umgegrabener Erde. Zwei Offiziere begleiteten ihn zu einem Raum, in dem nichts weiter als ein Metalltisch und ein Stuhl standen. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die bei abnehmender Leistung des Generators flackerte. Bewacht von einem Posten mit Gewehr, wartete er hier in klatschnassen Kleidern beinahe eine halbe Stunde im Stehen.

Schließlich hallten Schritte, die Tür ging auf, und ein junger Mann, kaum älter als dreißig Jahre, trat ein. Er trug einen frisch gebügelten Wollstoffanzug und roch nach Kölnischwasser. Er sah nicht martialisch aus wie ein Berufsmilitär oder Polizeioffizier, sondern hatte weiche Züge und ein freundliches Gesicht. Dem Gefangenen fielen sein Gebaren des jungen Herrn aus gutem Hause und die Herablassung eines Mannes auf, der sich erhaben fühlt über die ihm zugewiesene Stellung und die dazu gehörende Umgebung. Das Auffälligste an seinem Gesicht waren die Augen. Blau, durchdringend, verengt vor Habgier und Argwohn. Nur sie verrieten hinter der Fassade einstudierter Eleganz und leutseliger Gebärde seine wahre Natur.

Runde Brillengläser vergrößerten seinen Blick, und das nach hinten gekämmte pomadisierte Haar gab ihm etwas Affektiertes, was nicht recht zur unheilschwangeren Kulisse passen wollte. Er nahm auf dem Stuhl hinter dem Tisch Platz und klappte das Dossier auf, das er mitgebracht hatte. Nachdem er seinen Inhalt überflogen hatte, hielt er die Hände zusammen, mit den Fingerspitzen das Kinn stützend, und schaute den Gefangenen lange an.

»Verzeihen Sie, ich glaube, da hat es eine Verwechslung gegeben …«

Der Hieb mit dem Gewehrkolben in den Magen benahm dem Gefangenen den Atem, und er stürzte wie ein Knäuel zu Boden.

»Du hast nur zu sprechen, wenn dich der Herr Direktor fragt«, sagte der Posten.

»Aufstehen«, befahl der Direktor mit leicht zitternder Stimme, die das Befehlen noch nicht so richtig gewohnt war.

Der Gefangene rappelte sich wieder hoch und stellte sich dem unbehaglichen Blick des Direktors.

»Name?«

»Fermín Romero de Torres.«

Der Gefangene beobachtete diese blauen Augen und las in ihnen Verachtung und Desinteresse.

»Was ist denn das für ein Name? Willst du mich für dumm verkaufen? Los, den richtigen Namen.«

Der Gefangene, ein mickriges Männchen, reichte dem Direktor seine Papiere. Der Posten riss sie ihm aus der Hand und legte sie auf den Tisch. Der Direktor warf einen raschen Blick darauf und schnalzte lächelnd mit der Zunge.

»Noch einer mit welchen von Heredia …«, murmelte er, bevor er die Dokumente in den Papierkorb warf. »Diese Papiere taugen nichts. Willst du mir nun sagen, wie du heißt, oder muss ich ernst werden?«

Der Mieter Nr. 13 versuchte, einige Worte zu formulieren, doch er brachte nur etwas Unverständliches über die zitternden Lippen.

»Keine Angst, mein Lieber, wir fressen hier keinen auf. Was hat man dir denn erzählt? Es gibt viele Scheißrote, die mit falschen Anschuldigungen um sich werfen, aber wenn die Leute kooperativ sind, behandeln wir sie gut hier, wie Spanier. Los, zieh dich aus.«

Der neue Mieter zauderte einen Augenblick. Der Direktor senkte den Blick, als ob ihm dieses ganze Prozedere lästig fallen und ihn nur die Sturheit des Gefangenen an Ort und Stelle halten würde. Einen Moment später verpasste der Posten dem Mieter einen zweiten Schlag mit dem Gewehrkolben, diesmal in die Nieren, der ihn abermals umwarf.

»Du hast doch gehört, was der Herr Direktor gesagt hat. Splitternackt. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«

Der Mieter Nr. 13 raffte sich auf die Knie auf, und in dieser Stellung schälte er sich aus den blutigen, verschmutzten Kleidern. Als er völlig nackt war, rammte ihm der Posten den Gewehrlauf unter die eine Schulter und zwang ihn aufzustehen. Der Direktor blickte auf und betrachtete angewidert die Verbrennungen auf seinem Rücken, dem Gesäß und einem großen Teil der Schenkel.

»Sieht aus, als wär der Held hier ein alter Bekannter von Fumero«, bemerkte der Posten.

»Halten Sie den Mund«, befahl ihm der Direktor wenig überzeugend.

Ungeduldig schaute er den Gefangenen an, dem die Tränen übers Gesicht liefen.

»Los, flenn nicht und sag mir, wie du heißt.«

Der Gefangene flüsterte abermals seinen Namen.

»Fermín Romero de Torres …«

Angewidert seufzte der Direktor.

»Hör gut zu, mir reißt allmählich der Geduldsfaden. Ich will dir helfen, und ich habe keine Lust, Fumero zu rufen und ihm zu sagen, dass du hier bist …«

Der Gefangene begann zu wimmern wie ein verwundeter Hund und zitterte so heftig, dass der Direktor, dem die Szene deutlich unangenehm war und der die Formalitäten so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte, einen Blick mit dem Posten wechselte und leise fluchend den Namen aufschrieb, den ihm der Gefangene genannt hatte.

»Scheißkrieg«, murmelte er wie zu sich selbst, als der Gefangene nackt durch die Tunnel voller Pfützen in seine Zelle abgeführt wurde.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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