5

Sonntags nach der Messe und der Ansprache des Direktors setzten sich einige Gefangene in einer sonnigen Ecke auf dem Rasen des Grabens zusammen, um eine Zigarette zu rauchen und den Geschichten zu lauschen, die ihnen David Martín erzählte, wenn er die nötige geistige Klarheit aufbrachte. Fermín, der die ganze Serie von Die Stadt der Verdammten gelesen hatte und deshalb fast alle schon kannte, gesellte sich zu ihnen und ließ seinen Träumereien freien Lauf. Oft aber schien Martín nicht in der Lage, auch nur bis fünf zu zählen, so dass man ihn in Ruhe ließ, während er in den Ecken Selbstgespräche zu führen begann. Fermín beobachtete ihn ausgiebig und hielt sich manchmal dicht bei ihm – etwas an diesem armen Teufel griff ihm an die Seele. Mit Tricks und Listen versuchte er, Zigaretten oder sogar einige Stück Zucker für ihn zu beschaffen, die er über alles liebte.

»Fermín, Sie sind ein guter Mensch. Versuchen Sie es nicht zu zeigen.«

Martín hatte immer eine alte Fotografie bei sich, die er gern lange anschaute. Darauf sah man einen weißgekleideten Herrn mit einem etwa zehnjährigen Mädchen an der Hand. Gemeinsam betrachteten sie vom äußersten Rand einer kleinen Holzmole aus, die sich wie ein über glasklares Wasser gespannter Laufsteg über einen Strand zog, den Sonnenuntergang. Wenn ihn Fermín nach dem Foto fragte, schwieg Martín und steckte es lächelnd wieder ein.

»Wer ist das Mädchen auf dem Bild, Señor Martín?«

»Ich weiß es nicht genau, Fermín. Manchmal versagt mein Gedächtnis. Geht es Ihnen nicht auch so?«

»Natürlich. Das geht uns allen so.«

Man munkelte, Martín sei nicht ganz bei Trost, aber Fermín vermutete schon bald, der Arme sei noch verrückter, als die übrigen Gefangenen annahmen. Manchmal war er bei klarerem Verstand als jeder andere, aber oft schien er nicht zu begreifen, wo er sich befand, und sprach von Orten und Menschen, die ganz offensichtlich nur in seiner Phantasie oder Erinnerung existierten.

Oft erwachte Fermín mitten in der Nacht und hörte Martín in seiner Zelle sprechen. Wenn er sich leise den Gitterstäben näherte und die Ohren spitzte, vernahm er ganz deutlich, wie Martín mit jemandem diskutierte, den er Señor Corelli nannte und der, nach Martíns Worten zu schließen, eine ziemlich unheimliche Person zu sein schien.

In einer dieser Nächte zündete Fermín seinen letzten Kerzenstummel an und erhob die Flamme in Richtung der gegenüberliegenden Zelle, um sich zu vergewissern, dass Martín wirklich allein war und dass beide Stimmen, die seines Gegenübers und die dieses Corelli, von ein und denselben Lippen stammten. Martín drehte Runden in seiner Zelle, und als sein Blick auf den Fermíns traf, erkannte dieser sofort, dass ihn sein Gangkollege nicht bemerkte und sich benahm, als ob es die Gefängnismauern nicht gebe und seine Unterhaltung mit diesem Herrn in weiter Ferne stattfinde.

»Beachten Sie ihn überhaupt nicht«, flüsterte Nr. 15 aus dem Schatten. »Es ist jede Nacht dasselbe. Er ist total bescheuert. Aber glücklich dabei.«

Als ihn Fermín am nächsten Morgen nach Corelli und den mitternächtlichen Gesprächen fragte, schaute ihn Martín befremdet an und lächelte bloß verwirrt. Ein andermal, als er wegen der Kälte nicht einschlafen konnte, trat Fermín wieder an die Gitterstäbe und hörte Martín mit einem seiner unsichtbaren Freunde sprechen. Diesmal wagte es Fermín, ihn zu unterbrechen.

»Martín? Ich bin Fermín, der Nachbar von gegenüber. Geht es Ihnen gut?«

Martín trat ebenfalls ans Gitter, und Fermín sah sein tränenüberströmtes Gesicht.

»Señor Martín? Wer ist Isabella? Eben haben Sie von ihr gesprochen.«

Martín schaute ihn lange an.

»Isabella ist noch das einzig Gute auf dieser Scheißwelt«, antwortete er ungewohnt rau. »Gäbe es sie nicht, müsste man diesen Planeten anzünden und so lange brennen lassen, bis nicht einmal die Asche übrig bliebe.«

»Verzeihen Sie, Martín. Ich wollte Sie nicht stören.«

Martín zog sich in die Schatten zurück. Am nächsten Tag fand man ihn zuckend in einer Blutlache. Bebo war auf seinem Stuhl eingeschlafen, und davon hatte Martín profitiert, um seine Handgelenke an der Mauer bis auf die Adern aufzuscheuern. Als er auf der Trage weggebracht wurde, war er kreideweiß, und Fermín dachte, er würde ihn nie wiedersehen.

»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Freund«, sagte Nr. 15. »Jeder andere würde direkt im Sack landen, doch Martín lässt der Herr Direktor nicht sterben. Warum, weiß niemand.«

Fünf Wochen lang blieb David Martíns Zelle leer. Als Bebo ihn in einem weißen Pyjama hertrug wie ein Kind, steckten seine Arme bis zu den Ellbogen in Verbänden. Er erinnerte sich an niemanden und verbrachte die erste Nacht in Selbstgesprächen und Gelächter. Bebo rückte seinen Stuhl vors Gitter, passte die ganze Nacht auf ihn auf und gab ihm Zuckerstücke, die er im Offiziersraum gestohlen und in seinen Taschen versteckt hatte.

»Señor Martín, sagen Sie nicht solche Dinge, Gott wird Sie strafen dafür«, raunte ihm der Wärter zwischen den Zuckerstückchen zu.


In der wirklichen Welt war Nr. 12 Dr. Román Sanahuja gewesen, Chefarzt der inneren Medizin am Klinikum, ein integrer, von Größenwahn und ideologischen Eiterbeulen geheilter Mann, den sein Gewissen und die Weigerung, seine Kollegen zu denunzieren, ins Kastell gebracht hatten. Eine Regel besagte, dass keinem Gefangenen in diesen Mauern ein Beruf oder Vorteil zuerkannt wurde, es sei denn, der betreffende Beruf verschaffe dem Direktor einen Vorteil. Bald zeigte sich, dass ihm Dr. Sanahuja sehr nützlich war.

»Leider Gottes verfüge ich hier nicht über die wünschenswerten medizinischen Mittel«, erklärte ihm der Direktor. »Es ist nun einmal so, dass das Regime andere Prioritäten hat, und es ist kaum von Bedeutung, ob einer von Ihnen in seiner Zelle an Brand verfault. Nach langem Kämpfen habe ich erreicht, dass man mir eine schlecht bestückte Apotheke und einen Quacksalber schickt, der vermutlich nicht einmal in der veterinärmedizinischen Fakultät saubermachen dürfte. Aber so ist das nun mal. Ich weiß, dass Sie, bevor Sie dem Blendwerk der Neutralität verfallen sind, als Arzt ein gewisses Renommee hatten. Aus Gründen, die nichts zur Sache tun, habe ich ein besonderes Interesse, dass uns der Gefangene David Martín nicht vor der Zeit wegstirbt. Wenn Sie sich kooperativ zeigen und mir helfen, ihn in einem annehmbaren Gesundheitszustand zu erhalten, kann ich Ihnen versichern, dass ich Ihnen im Rahmen der Umstände den Aufenthalt an diesem Ort erträglicher machen und persönlich dafür sorgen werde, dass man Ihren Fall überprüft und das Strafmaß mildert.«

Dr. Sanahuja stimmte zu.

»Einige Mitgefangene sollen der Meinung sein, dass Martín einen ziemlichen Dachschaden hat, wie man sich hier ausdrückt. Ist dem so?«, fragte der Direktor.

»Ich bin kein Psychiater, aber meiner bescheidenen Meinung nach ist Martín sichtlich geistesgestört.«

Der Direktor dachte über diese Einschätzung nach.

»Und nach Ihrer ärztlichen Meinung – wie lange, glauben Sie, wird er es schaffen? Zu überleben, meine ich.«

»Das weiß ich nicht. Die Zustände im Gefängnis sind ungesund, und …«

Der Direktor nickte und unterbrach ihn mit einer gelangweilten Handbewegung.

»Und bei Verstand? Wie lange kann Martín Ihrer Meinung nach seine geistigen Fähigkeiten behalten?«

»Nicht sehr lange, nehme ich an.«

»Verstehe.«

Der Direktor bot ihm eine Zigarette an, die der Arzt ablehnte.

»Sie schätzen ihn, nicht wahr?«

»Ich kenne ihn ja kaum«, erwiderte der Arzt. »Er scheint ein guter Mensch zu sein.«

Der Direktor lächelte.

»Und ein miserabler Schriftsteller. Der schlechteste, den dieses Land je gekannt hat.«

»Der Herr Direktor ist anerkannter Literaturexperte. Ich verstehe von diesem Thema nichts.«

Der Direktor schaute ihn frostig an.

»Ich habe schon Leute für geringere Unverschämtheiten drei Monate in Isolationshaft geschickt. Wenige überleben sie, und die Überlebenden kommen schlimmer als Ihr Freund Martín zurück. Glauben Sie nicht, Ihr Titel verschaffe Ihnen irgendein Privileg. In Ihrem Dossier steht, Sie hätten eine Frau und drei Töchter. Ihr Schicksal und das Ihrer Familie hängen davon ab, wie nützlich Sie für mich sind. Ist das deutlich genug?«

Dr. Sanahuja schluckte.

»Ja, Herr Direktor.«

»Danke, Doktor


In regelmäßigen Abständen verlangte der Direktor von Sanahuja, einen Blick auf Martín zu werfen. Die Lästerzungen sagten, er traue dem Gefängnisarzt nicht über den Weg, einem Quacksalber, der nach dem Unterschreiben so vieler Totenscheine vergessen zu haben schien, was Vorbeugemaßnahmen waren, und den er kurze Zeit später entließ.

»Wie geht’s denn unserem Patienten, Doktor?«

»Schwach.«

»Hm. Und seine Dämonen? Führt er immer noch Selbstgespräche und hat Halluzinationen?«

»Zustand unverändert.«

»Im ABC habe ich einen großartigen Artikel meines guten Freundes Sebastián Jurado gelesen, in dem er von der Schizophrenie spricht, der Dichterkrankheit.«

»Ich fühle mich nicht befähigt, diese Diagnose abzugeben.«

»Ihn am Leben zu erhalten aber schon, nicht wahr?«

»Ich versuche es.«

»Tun Sie etwas mehr, als es nur zu versuchen. Denken Sie an Ihre Töchter. So jung. So schutzlos, wo es doch von Schurken und untergetauchten Roten nur so wimmelt.«

Mit den Monaten nahm Dr. Sanahujas Zuneigung für Martín zu, und eines Tages, als sie gemeinsam einen Zigarettenstummel rauchten, erzählte er Fermín, was er von der Geschichte dieses Mannes wusste, dem einige, sich über seine Wahnvorstellungen und seinen Rang als offizieller Gefängnisspinner mokierend, den Spitznamen »der Gefangene des Himmels« verpasst hatten.

Barcelona 03 - Der Gefangene des Himmels
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