ZWEIUNDZWANZIG
Mrs Howard und Steven sprangen beide auf, um dazwischenzugehen, bevor noch Schlimmeres passierte. Unglaublich, Nikki hatte echt versucht, mir an den Kragen zu gehen. Oder sollte ich besser sagen, ihrem alten Körper? Jedenfalls hatte sie angefangen, mich zu hauen, zu zwicken und an den Haaren zu zerren. Dr. Fong rief mir zu, ich solle auf keinen Fall zurückschlagen - nachdem ich es, rein aus Gründen der Selbstverteidigung, versucht hatte. Denn anscheinend hatte sich Nikki nicht ganz so gut von dem Eingriff erholt wie ich und war nach der Operation noch nicht so ganz bei Kräften. Nikki hatten ja schließlich auch nicht die unglaublichen technischen Errungenschaften des Stark Institute für Neurologie und Neurochirurgie zur Verfügung gestanden, als dass sie sich so schnell hätte erholen können wie ich. Sie hatte nur die zärtliche Zuwendung ihrer Mutter und das, was auch immer Dr. Fong ihr geben konnte, immer wenn er von der Arbeit heimkam. Ganz offensichtlich war Nikki noch nicht wieder hundertprozentig sie selbst.
»Aber es geht ihr immerhin gut genug, dass sie ihren Exfreunden Nachrichten schicken kann«, wies ich ihn schnippisch zurecht. Sorry, aber ihre Ohrfeige hatte verdammt wehgetan. Und die anschließenden Kniffe waren auch nicht gerade angenehm gewesen.
Mrs Howard warf Nikki einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie war wegen der Ohrfeige und der folgenden Attacke auf mich ziemlich sauer. »Nicolette Elizabeth Howard«, hatte sie geschrien. »Hör sofort auf, dieses Mädchen zu schlagen, hörst du!« Es war das erste Mal gewesen, dass mich jemand bei meinem vollständigen neuen Namen genannt hatte.
Blöd nur, dass sie gar nicht mich damit gemeint hatte.
»Sieh sie dir doch an, Mom«, hatte Nikki zurückgebrüllt, während Mrs Howard ihre Tochter von mir wegzerrte. »Schau sie dir bloß an! Das ist mein Kleid! Und meine neuen Marc-Jacobs-Stiefel! Und nun schau dir bloß mal an, wie sie meine Augen schminkt. Das sieht ja echt fürchterlich aus!«
Doch Mrs Howard hatte keine Lust, sich das Geschrei ihrer Tochter anzuhören, auch wenn sie gesundheitlich noch nicht so ganz auf dem Damm war. »Nikki, du entschuldigst dich jetzt sofort«, sagte sie resolut. »Du weißt genau, dass man sich so nicht benimmt. Und schon gar nicht bei anderen Leuten zu Hause.«
Widerwillig schob Nikki ihre Unterlippe vor und sah mich verächtlich an. »Entschuldige.«
Das war offensichtlich alles, was ich an Entschuldigung von ihr zu erwarten hatte, dafür dass meine Wange vor Schmerz pulsierte.
Doch Mrs Howard kam zu mir herüber und legte mir einen Arm um die Schulter. »Das tut mir ja so leid, mein Schatz.«
Mein Schatz! Genauso hatte sie Steven genannt. Ihr Arm fühlte sich weich und beruhigend an. Als sie mich ansah, stellte ich fest, dass sie mit keiner Wimper zuckte, anders als meine eigene Mutter, die immer blinzelte. Mrs Howards Blick war fest und ruhig und voller Mitgefühl. »Das ist alles sehr schwer für sie. Aber ich möchte dir danken. Danke … dafür, dass du mir meinen Sohn gebracht hast.«
Dann drückte sie mir einen Kuss genau auf die Wange, auf die Nikki die Ohrfeige gepflanzt hatte.
Obwohl mir klar war, dass es nur Nikkis Körper war, der auf diesen Kuss reagierte, fühlte ich mich doch auf eine Art und Weise getröstet, wie ich es mit meiner eigenen Mom schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr erlebt hatte.
Das war schon seltsam, völlig klar.
Als Nächstes bedachte Nikkis Mutter ihre Tochter mit einem empörten Blick: »Nikki, was bezweckst du eigentlich damit, dass du E-Mails an Leute schreibst? Ich hab dir doch gesagt, dass du im Internet surfen kannst, aber auf keinen Fall Mails schreiben darfst!«
Nikki saß schmollend auf dem Sofa, auf dem Steven sie festhielt, und schaute uns alle grimmig an. »Also wirklich, was soll ich sonst den ganzen Tag tun? Man kann sich nun mal nicht eine Episode nach der anderen von The Hills anschauen. Mir ist so verdammt langweilig!«
»Natürlich ist dir langweilig, meine Süße«, meinte Lulu, die sich jetzt neben sie auf das Sofa setzte und ihren Arm streichelte. Sie versuchte, ihre gute alte Freundin zu beruhigen. Allerdings schien es nicht gerade besonders viel Wirkung zu zeigen. Nikki wirkte nämlich nicht gerade begeistert, Lulu zu sehen. Im Grunde war sie ähnlich begeistert wie bei mir.
Lulu fuhr fort: »Ich kann es echt nicht glauben, dass die dich hier drinnen eingesperrt haben. Aber ich bin sicher, dass sie dich bald rauslassen.«
»Und was soll ich dann tun?«, schnauzte Nikki sie an. »Soll ich etwa bei Gap arbeiten? Schau mich doch an. Ich bin total hässlich und meine Haare sind echt bescheuert. Und was hast du da eigentlich an? Du siehst ja total komisch aus.«
Lulu fasste sich an ihre Chauffeursmütze. »Ich finde mein Outfit süß«, protestierte sie. »Und ich finde auch, dass du süß aussiehst. Rote Haare stehen dir gut. Und du kannst doch eine ganze Menge aus dir machen. Hey, der Mann hier hat dir das Leben gerettet. Bist du denn nicht froh, dass du nicht tot bist?«
»Nein«, sagte Nikki mit fester Stimme. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Cosabella zu. »Cosy.« Sie schnippte mit den Fingern zu dem Hündchen hin, das immer noch mit den anderen Hunden herumtollte. »Cosy!« Frustriert lehnte sie sich zurück. »Oh Mann, das ist echt beschissen. Selbst mein eigener Hund mag die da lieber als mich.« Sie warf mir einen bösen Blick zu. Mit »der da« war ganz offensichtlich ich gemeint.
»Liebling, ich hab’s dir doch gesagt. Wir besorgen dir einen neuen Hund«, versuchte Mrs Howard, sie zu trösten. Sie wirkte erschöpft, und das nicht nur, weil es früh am Morgen war. Allem Anschein nach hatten die beiden dieses Gespräch schon zigmal geführt. »Wichtig ist nur eins: Wir dürfen nicht zulassen, dass Stark rauskriegt, dass du noch am Leben bist. Du musst also damit aufhören, Leuten E-Mails zu schicken. Dr. Fong hat doch so verdammt viel auf sich genommen für dich.«
»Ach ja, genau«, mischte ich mich jetzt ein. Ich sah von Nikki zu Dr. Fong. »Wie kommt es eigentlich, dass ich Sie nie auf der Reha-Station des Instituts gesehen habe?«
Dr. Fong machte einen noch viel müderen Eindruck als Mrs Howard. »Um Nikkis Leben retten zu können«, erklärte er, »musste ich eine kleine List anwenden. Während du operiert wurdest, nahm ich ihr Gehirn und benutzte es für eine der Vorführungen für ausländische Chirurgen, bei der mir einige meiner Kollegen assistierten. Die waren selbstverständlich nicht eingeweiht, woher ich das funktionstüchtige Gehirn für diese Lehrvorstellung hatte. Der Spenderkörper, den wir benutzten - der, der jetzt Nikki gehört -, stammte von einer jungen Frau, die ins Wachkoma gefallen war, nachdem sie in einen Unfall mit einem alkoholisierten Fahrer verwickelt worden war. Unglücklicherweise war die Spenderin selbst dieser unglückselige Fahrer.«
Nikki verdrehte die Augen. »Ja, so ist das«, sagte sie, als ich ihr einen Blick zuwarf. »Du hast den Supermodelkörper bekommen und ich den von einer besoffenen Autofahrerin.«
»Na, wenigstens bist du am Leben, Nikki«, schaltete sich ihr großer Bruder ein.
Nikki verzog das Gesicht. »Mann, halt dich da raus, Steven.«
»Als wir die Operation erfolgreich hinter uns gebracht hatten«, fuhr Dr. Fong fort, »war es zwingend notwendig, dass wir Nikki sofort woanders hinbrachten, solange sie noch nicht bei Bewusstsein war, damit sie nach dem Aufwachen keine Fragen stellte, die womöglich Verdacht erregen könnten. Deshalb fälschte ich Papiere, aus denen hervorging, dass man sie in ein anderes Krankenhaus verlegt hatte, und zwar näher an ihrem Zuhause. In Wahrheit aber hatte ich sie hierhergebracht und den Sanitätern ein Schweigegeld bezahlt, damit sie den Mund hielten. Ihre Mutter hat sie dann die ganze Zeit gepflegt.«
»Was ich aber nicht verstehe, ist, warum Stark sie eigentlich überhaupt umbringen lassen wollte«, warf Christopher jetzt ein.
»Genau«, pflichtete Nikki ihm bei und warf Christopher einen anerkennenden Blick zu. Offensichtlich gefiel ihr, was sie da sah, denn sie warf verführerisch eine rote Haarsträhne zurück. Na ja, mal ehrlich, wahrscheinlich würde jedes Mädchen auf Christopher abfahren, oder? Ganz besonders wenn man wie sie so lange in diesem Haus eingesperrt gewesen war. Aber wenn sie sich jetzt irgendwie an ihn ranmachen würde, dann sähe ich mich definitiv gezwungen, ihr die Nase zu brechen. »Weshalb sollten die von Stark mich umbringen wollen, wo ich doch so viel für sie getan habe? Also wirklich, nur weil ich zufällig mitgekriegt habe, wie die von diesem bescheuerten Spiel sprachen …«
Christopher horchte plötzlich auf. »Welches Spiel denn?«
»Na, dieses Computerspiel«, sagte Nikki. »Dieses neue. Travelquest oder so.«
»Journeyquest«, korrigierte ich sie. »Du meinst diese neue Version, Realms
»Genau«, meinte Nikki und sah nun nicht mehr verführerisch, sondern rätselnd aus. »Na ja, vielleicht hab ich ja wirklich zufällig was Wichtiges mitgekriegt … Irgendetwas, was geheim bleiben sollte. Zumindest hat Robert Stark das so gesagt, als ich darauf zu sprechen kam.«
Christopher und ich tauschten nervöse Blicke. Oh-oh.
Selbst Lulu verstand, dass das kein gutes Zeichen war. Sie zog ihre Hand von Nikkis Arm zurück.
»Nikki«, rief sie und holte tief Luft. »Hast du denn Mr Stark gesagt, dass du sein Geheimnis kennst?«
»Klar«, meinte Nikki achselzuckend. »Ich wollte doch wissen, wie viel ihm das wert ist, dass ich die Klappe halte. Und es war ihm eine ganze Menge wert, wie sich herausstellte.« Bei dieser Erinnerung lachte sie herzhaft auf. Dann verfinsterte sich ihr Gesicht wieder und sie richtete ihren Blick auf mich. »Pech, dass du jetzt diejenige bist, die von der Kohle profitiert, stimmt’s? Wofür hast du es ausgegeben? Hoffentlich für was Schönes.«
»Welches Geld denn?«, fragte ich, nun ernsthaft verblüfft. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest …«
Aber ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl dabei. Ein Gefühl, das die anderen im Raum offenbar mit mir teilten, den betretenen Gesichtern nach zu schließen.
»Na, das Geld«, redete Nikki weiter, »das Stark mir versprochen hat, dafür dass ich meinen Mund halte und nichts über den Stark Quark sage! Ich hab bisher keinen Cent davon gesehen. Denn unmittelbar danach hatte ich ja meinen Unfall.«
Dr. Fong, der ganz offenbar zum ersten Mal von dieser Sache hörte, schlug stöhnend die Hände vors Gesicht.
Ich warf Christopher einen Blick zu, der mit wissendem Lächeln meinte: »Ich hab’s dir ja gesagt. Es gibt keine Unfälle.«
Ich schluckte. Und zwar ziemlich schwer. Das hatte er tatsächlich so gesagt. Aber deshalb brauchte er doch jetzt nicht gleich so selbstzufrieden aus der Wäsche zu gucken. Immerhin ging es hier um das Leben eines Mädchens. Ein Mädchen, das noch vor Kurzem mit dem Körper herumlief, in dem ich jetzt steckte, und das in dem Loft lebte, in dem ich jetzt wohne … Ein Mädchen, dessen Hund sie nicht mal mehr erkennt.
Es war wirklich unsagbar traurig. Fast musste ich schon heulen, wenn ich sie nur ansah, wie sie da so auf der Couch saß, ganz stolz auf etwas, wodurch sie ihr Leben ruiniert hatte.
Nein, wodurch sie ihr Leben beendet hatte.
»Ach, Nikki«, sagte Mrs Howard mit einem tiefen Seufzer. Sie hatte sich vor Entsetzen beide Hände über den Mund geschlagen.
Ihr Sohn allerdings hatte einiges mehr zu sagen als nur den Namen seiner Schwester.
»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, Nikki«, fuhr er sie jetzt barsch an, »dass Stark vielleicht versucht hat, dich umzubringen, statt dich wie gefordert zu bezahlen? Was du da getan hast, nennt man Erpressung.«
Nikki verdrehte die Augen. »Mann, Steven, du hattest schon immer Sinn für Dramatik. Es geht doch nur um ein doofes Computerspiel.«
»Es geht um Software im Wert von einer Milliarde Dollar«, verbesserte Christopher sie. »Und selbst wenn du das Gesicht von Stark warst, warst du nicht unersetzlich.« Er nickte mir zu. »Siehst du? Sie haben dich bereits ersetzt. Und zwar mit ihr.«
Nikki starrte mich fassungslos an. Dabei fing ihre Unterlippe plötzlich ganz leicht an zu zittern. Allmählich schien sie zu begreifen. Wurde aber auch Zeit.
»Denen war die Software wichtiger als du«, fuhr Christopher schonungslos fort. So schonungslos, dass ich ihn am liebsten angeschrien hätte, er solle sofort aufhören. Einfach nur aufhören. Das war alles zu viel für mich. Ich war so unsäglich müde. Ich wollte nur noch ins Bett kriechen und schlafen und warten, bis alles vorüber war. Doch mir war natürlich klar, dass ich das unmöglich tun konnte. »Zumindest war das der Plan gewesen. Doch Dr. Fong hat dir das Leben gerettet.«
Zum ersten Mal machte Nikki jetzt einen richtig verängstigten Eindruck. Sie sah erst mich an, dann Christopher. Endlich blickte sie Lulu an.
»Ihr habt mich also gefunden«, meinte sie, »und das nur wegen dieser E-Mail? Wegen einer E-Mail, die ich an Justin geschickt habe?«
»Ja, meine Süße«, sagte Lulu sanft und nahm sie bei der Hand. »Deine Mom hat recht. Du musst vorsichtiger sein.«
»Genau«, bekräftigte nun auch Christopher. »Und wir müssen unbedingt wissen, ob … ob du noch an andere Leute E-Mails geschickt hast. Weil sie so herausfinden könnten, wo du dich versteckst, sofern sie inzwischen bereits draufgekommen sind.«
Nikki kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Nur ein paar«, gab sie kleinlaut zu. »Aber keinem, der irgendwie von Bedeutung ist.«
»Wem hast du noch geschrieben, Nikki?«, drängte Mrs Howard sie. Sie klang ebenso verängstigt wie ihre Tochter. »Sag uns einfach nur, an wen du noch Mails geschickt hast.«
»Na ja, bloß an … an … an Brandon Stark«, hauchte Nikki.
Das Herz rutschte mir in die Hose. Brandon. Klar. Natürlich mailte sie Brandon. Vor dem Unfall waren die beiden schließlich ein Paar gewesen. Warum nur hatten wir Brandon mitgebracht? Es war uns so harmlos vorgekommen. Er war ja nicht bei Bewusstsein gewesen - Brandon war eigentlich fast immer im Alkoholkoma, wenn ich es mir recht überlegte.
Als er das letzte Mal aus solch einem Koma aufwachte, lief er herum und flehte mich an, dass wir doch wieder ein Paar werden.
Bei dieser Erinnerung fing mein Herz, das gerade noch beinahe vor Schreck ausgesetzt hätte, wie wild an zu rasen. Kein Wunder, dass Brandon sich mir gegenüber so seltsam benommen hatte. Einerseits bekam er Mails von jemandem mit Namen NikkiH, in denen stand, wie sehr sie ihn vermisste. Andererseits begegnete er mir in Fleisch und Blut … Und es half ihm sicher nicht weiter, dass ich manchmal ein wenig mit ihm flirtete …
Na gut, also dass ich mächtig mit ihm flirtete.
Na toll. Und jetzt war er da draußen in der Limousine. Das war echt das Letzte, was wir brauchen konnten, dass Brandon hier hereinplatzte und herausfand, dass Nikki Howard - die echte Nikki Howard, von der sein Vater dachte, er habe sie getötet - noch am Leben war.
»Ich geh mal nach draußen und seh nach ihm«, sagte ich mit einem Kloß im Hals. Ich war sicher nicht die Einzige, die sich in die Hose machte, weil wir ausgerechnet den Sohn des Mannes, der für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich war, hierhergeführt hatten.
Ich sprang auf und rannte aus dem Zimmer raus in die große Eingangshalle. Gerade wollte ich die Haustür öffnen, als sich etwas um meine Kehle schloss, und plötzlich merkte ich, wie ich gegen die Wand gepresst wurde. So heftig, dass es mir die Luft aus den Lungen presste.
Drohend stand Brandon Stark vor mir, mit Bartstoppeln am Kinn. Mit seinem rechten Arm hielt er meine Kehle umklammert und drückte mich gegen eines der Entengemälde von Dr. Fong.
»Mach bloß keinen Mucks«, zischte Brandon. »Wenn du schreist oder irgendein Geräusch machst, dann schwöre ich dir, ich verrate meinem Vater umgehend, wo er die echte Nikki Howard finden kann.«