VIER
Tja, das erklärte wenigstens, warum er mir die ganze Zeit so finstere Blicke zugeworfen hatte.
Was er auch weiterhin tat, nachdem ich ihn mit hoch in mein Loft genommen hatte. Nicht dass ich ihm daraus einen Vorwurf machte. Ich wusste nicht so recht, was ich zu ihm sagen sollte. Nervös rannte ich hin und her und machte ihm einen Espresso mit unserer Deluxe-Cappuccino/Espresso-Maschine, die mir Lulu erst vor Kurzem erklärt hatte. Aber eher, weil mir sonst nichts einfiel. Ich meine, ich hatte noch nie in meinem Leben einen großen Bruder gehabt. Und schon gar nicht einen großen Bruder, der total sauer auf mich war, weil ich unsere Mutter aus den Augen verloren hatte. Offensichtlich war Nikki für sie verantwortlich, solange er Dienst hatte.
Er schien nicht allzu begeistert von dem Espresso zu sein, doch wenigstens hatte er jetzt endlich die Erklärung mit dem Gedächtnisverlust geschluckt. Na ja, zumindest ansatzweise. Lulu war mir in der Hinsicht eine riesige Hilfe gewesen. Sie war nämlich in genau dem Moment aus ihrem Zimmer gestolpert, als ich die Espressomaschine in Gang setzen wollte. (Und zwar mit nichts bekleidet als mit einem hauchzarten pfirsichfarbenen Hemdchen und French Knickers. Ihr Haar sah irgendwie ziemlich verrückt aus, weil sie offensichtlich gerade erst aufgewacht war, obwohl es bereits zwei Uhr nachmittags war - was für sie ehrlich gesagt noch recht früh ist.) Lulu warf nur einen kurzen Blick auf den uniformierten Mann, der eine Menge Raum einnahm in unserem Wohnzimmer (nicht dass er fett gewesen wäre, er war einfach nur groß und muskulös und … na ja, die Art von Kerl, die eben viel Raum einnahm). Und dann sagte sie: »Aber Hall-loooo, wen haben wir denn da?« und strahlte über das ganze Gesicht.
Ich wollte ihr schon zuraunen: Nicht jetzt, Lulu, denn ich wusste nur zu genau, was sie vorhatte. Lulu machte sich innerlich bereit, alles zu tun, damit Steven sich in sie verliebte. So wie bei allen süßen Typen, die ihr über den Weg liefen. Dafür zu sorgen, dass süße Typen sich in sie verliebten, war eins von Lulus liebsten Hobbys, neben Shoppen, Mojitos trinken und gelegentlich ein paar Songs für ein Album aufnehmen, das nie fertig zu werden schien.
Aber ich hätte mir gar keine Gedanken zu machen brauchen. Denn Steven - Nikkis Bruder - war völlig desinteressiert. Er sagte nur »Hi« zu Lulu und fing dann wieder mit derselben Leier an wie schon im Aufzug nach oben, echt nervig. Ständig fragte er mich: »Amnesie? So wie das die Leute in den Soaps immer kriegen?«
»Nicht ganz«, versicherte ich ihm. Obwohl, so wie ich das verstanden habe, gibt es so etwas eigentlich gar nicht wirklich. Na gut, natürlich gibt es Amnesien, aber nicht so, wie es bei Nikki Howard angeblich gewesen war. Leute stoßen sich nicht einfach den Kopf und vergessen dann nur einen Teil ihres Wissens, sondern sie vergessen alles, wenn sie unter Gedächtnisverlust leiden. Einschließlich ihres eigenen Namens und des Landes, in dem sie leben. Manchmal vergessen sie sogar, wie man sich die Schuhe zubindet.
»Und du willst mir also erzählen, du erinnerst dich nicht, dass du versprochen hast, dich um Mom zu kümmern, während ich weg bin«, fing Steven wieder an, »dass du aufpassen wolltest, dass sie ihre Miete pünktlich zahlt und dass mit dem Hundesalon alles glattläuft?« Dabei ignorierte er Lulu komplett, die jetzt in ihrem seidig glänzenden Outfit und mit Slippern mit Federn an ihm vorbeistolzierte.
Ein Hundesalon? Nikki Howards Mutter war Inhaberin eines Hundesalons? Es wäre ganz schön gewesen, wenn man mir das mitgeteilt hätte - genau wie die Tatsache, dass Nikki einen Bruder in der Navy hatte -, und zwar ein wenig früher als, sagen wir, gerade jetzt. Das Einzige, was man mir jemals mitgeteilt hatte, war, dass Nikki eine emanzipierte Minderjährige war, die sich mit ihrer Familie nie so recht verstanden hatte.
Aus diesem Grund warf ich Lulu nun einen finsteren Blick zu, als sie auf einen der Barhocker in der Küche hopste. Dabei achtete sie übrigens peinlich darauf, ihre sprühgebräunten Beine so übereinanderzuschlagen, dass Steven einen möglichst guten Blick darauf hatte. Allerdings achtete Lulu überhaupt nicht auf mich, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den gut aussehenden blonden jungen Mann in Uniform gerichtet, der mitten in unserem Wohnzimmer stand.
»Äh«, setzte ich an, während ich mit der Espressomaschine kämpfte. Was besser war, als sich auf den Ärger zu konzentrieren, der hier brodelte. Nett von Nikki übrigens, dass sie eine ganze Schublade voll mit Zeitungsausschnitten hatte, in denen sie erwähnt war, aber kein einziges Foto von ihrer eigenen Familie besaß. »Bis du mir das vorhin sagtest, wusste ich noch nicht einmal, dass ich einen Bruder habe. Die Antwort lautet also folglich: Nein, ich kann mich nicht erinnern, dir das je versprochen zu haben. Ich weiß auch nichts von Mom und ihrem Hundesalon, wenn du es genau wissen willst.«
»Sag mal, was für einen Rang hast du eigentlich?«, fragte Lulu nun. Dabei musterte sie Steven eingehend von oben bis unten, der mit verschränkten Armen dastand, was seinen Bizeps unter seiner Uniform schön zur Geltung kommen ließ. Lulu schien ihren Fuß nicht mehr stillhalten zu können, sodass einer ihrer Federslipper ständig auf und ab hüpfte, was mir ziemlich auf die Nerven ging. Das machte sie natürlich absichtlich, um Stevens Blick auf ihre frisch enthaarten Beine zu lenken.
Doch Steven ignorierte sie weiterhin.
»Und was ist mit den ganzen Nachrichten, die ich dir hinterlassen habe«, erkundigte er sich bei mir. »Fandest du es besser, sie schlichtweg zu ignorieren?«
»Ich bekomme haufenweise Nachrichten von Typen, die ich nicht kenne«, erklärte ich ihm. Es war fürchterlich. »Sie behaupten alle, dass sie mit mir verwandt sind und dass ich ihnen wegen irgendwas Geld schulde. Ich hab schon vor langer Zeit aufgehört damit, mir Nikkis - äh, ich meine natürlich, mir meine Nachrichten anzuhören.«
»Na toll«, knurrte Steven. Er wandte sich ab und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar… Haar, das von derselben Farbe und Textur war, so stellte ich fest, wie das Haar auf meinem eigenen Kopf. Nur dass man sein Haar nicht mit ein paar honigblonden Strähnchen verschönert hatte. »Das ist ja fantastisch. Hast du die noch? Ich meine diese ganzen Nachrichten. Vielleicht hat Mom ja versucht, dich zu erreichen, und hat dir eine Nachricht hinterlassen, um dir mitzuteilen, wohin sie verschwunden ist.«
»Bist du vielleicht so was wie ein Offizier?«, löcherte Lulu Steven weiter, wobei ihr Fuß immer noch nervös auf und ab wippte. Mir fiel auf, dass sie sich eine Pediküre hatte machen lassen - ihre Nägel waren rosa wie ein Paar Ballettschuhe. Keine Ahnung, woher ich solche Dinge weiß, wo ich doch noch vor drei Monaten den Unterschied zwischen den verschiedenen Nagellackfarben nicht hätte sagen können - und wenn man mir eine Pistole an die Schläfe gehalten hätte. »Erteilst du den Leuten den ganzen Tag Befehle? Ich lass mir von Männern gern was befehlen. Das ist so verdammt sexy.«
»Entschuldige«, sagte ich und meinte damit gleichzeitig meine nervige Mitbewohnerin und das, was ich ihm gleich sagen würde. Denn es tat mir tatsächlich leid. Beides. »Ich habe die ganzen Nachrichten von Nikki - äh, meine ganzen Nachrichten gelöscht. Aber« - ich schob eine winzige Espressotasse unter den entsprechenden Ausgießer und drückte auf die Taste mit dem kleinen Tassensymbol - »ich bin mir sicher, dass sie noch einmal anrufen wird. Okay?«
Steven schüttelte den Kopf und sah erschöpfter aus denn je. Er ließ sich auf einem der Barhocker in der Küche nieder, weil er sich scheinbar kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Lulu sah erleichtert aus, denn er hatte sich nur zwei Hocker neben dem ihren hingesetzt. Offenbar entging ihr das subtile Signal, dass er ausgerechnet den Stuhl gewählt hatte, der am weitesten von ihrem entfernt war. Sie begab sich unverzüglich in eine aufrechtere Position, um ihren Brustbereich besser zur Geltung bringen zu können. Gleichzeitig warf sie ihm ihr strahlendstes Lächeln zu, das er jedoch geflissentlich ignorierte.
»Du leidest tatsächlich unter Amnesie«, sagte er nun zu mir. Ihm stand die schiere Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Ich hatte solches Mitleid mit ihm, dass mein Herz sich verkrampfte. »Mom ruft nie ein zweites Mal an. Sie hat immer schon bloß ein einziges Mal angerufen, und das war’s dann. Warum, denkst du, bin ich hier, um zu sehen, ob sie sich bei dir gemeldet hat, statt zu Hause in Gasper auf einen Anruf von ihr zu warten?«
Lulu hatte völlig vergessen, dass sie Steven eigentlich dazu bringen wollte, sich in sie zu verlieben, und verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke. »Hast du da gerade was von G-Gasper gesagt?«, brachte sie keuchend zwischen ein paar Hustern hervor.
Steven sah sie jetzt doch mal kurz an, dann blickte er wieder zurück zu mir. »Du hast ihr nie davon erzählt?«, meinte er. Das klang eher wie eine Feststellung denn wie eine Frage. Sie brachte mich dazu, zu zögern, als ich den Espresso mit der vollendeten Schaumkrone vor ihn hinstellte.
»Äh … offensichtlich nicht«, erklärte ich. Ich hatte selbstverständlich keine Ahnung, wovon er nun wieder sprach, da ich ja nicht wirklich seine Schwester war. Seine Schwester war tot. Oder zumindest befand sich ihr Gehirn, eingelegt in Formaldehyd, in einem Glasbehälter irgendwo im tiefsten Inneren des Stark Institutes für Neurologie und Neurochirurgie, obwohl der Rest von ihr mit meinem Gehirn durch die Gegend lief, ihre Kreditkarten benutzte und ihrem Bruder Espresso servierte.
Somit war sie also tot genug.
Nur dass ich das ihrem Bruder ja schlecht sagen konnte.
Steven blickte mich über seinen dampfenden Espresso hinweg an, als könne er nicht so recht glauben, was er da eben gehört hatte.
»Sekunde«, meinte er und blickte mich mit seinen blauen Augen ungläubig an. »Du kannst dich nicht mal an dein Zuhause erinnern?«
Zögerlich schüttelte ich den Kopf. Ich wollte ihm nicht wehtun. Denn wenn man ehrlich war, machte er den Eindruck, als hätte man ihm schon ziemlich oft wehgetan.
Andererseits konnte ich ihm aber auch nicht ins Gesicht lügen, ganz gleich wie sehr Stark Enterprises mich dazu drängte.
Und auf einmal wusste ich, wo ich diese Augen schon einmal gesehen hatte: nämlich im Spiegel, jedes Mal wenn ich mich darin betrachtete. Er hatte Nikkis Augen.
Nur dass er kein Chanel-Inimitable-Multi-Dimensional-Mascara im Farbton Noir-Black auf den Wimpern trug.
Steven verschränkte die Arme, lehnte sich hinten an den Barhocker und starrte an die Decke. Einen Moment lang überlegte ich, ob ihm wohl dasselbe auffiel wie mir vor ein paar Tagen, als ich nach Hause kam: die zwei kleinen runden Löcher, nicht viel größer als ein Penny, zu beiden Seiten der in die Decke eingelassenen Halogenleuchten. Die waren vorher noch nicht da gewesen und ganz offensichtlich aufgefüllt worden, aber mehr schlecht als recht und anscheinend in Eile, als hätte jemand etwas darin einbauen wollen und dann erfahren, dass eine der Bewohnerinnen des Lofts früher nach Hause kommen würde.
Wozu waren diese Löcher gut? Sie waren zu weit oben, als dass ich jemals raufklettern und sie mir selbst ansehen hätte können - die Decke war mindestens sechs Meter hoch.
Aber sie konnten unmöglich einem bestimmten Zweck dienen - es sei denn, sie hatten etwas mit den ruchlosen Machenschaften von Stark Enterprises zu tun. Oder aber ich war einfach nur paranoid. Als ich Karl nach den Löchern gefragt hatte, checkte er den Wartungskalender und erklärte mir, dass das Ganze nach einer Routineüberprüfung der elektrischen Leitungen aussah.
Elektrische Leitungen, logo.
Vielleicht war diese »Routinekontrolle« aber auch verantwortlich dafür, dass der FM-Transmitter beziehungsweise der Wanzendetektor, den ich mir in einem der Läden für Überwachungsanlagen in Midtown besorgt hatte, nachdem ich die Löcher in der Decke bemerkt und die Paranoia von mir Besitz ergriffen hatte, jedes Mal durchdrehte, wenn ich ihn innerhalb des Lofts anstellte. Entweder war die Bude voll mit Abhörgeräten oder der Detektor selbst war der reinste Schrott. (Allerdings hätte er für den Haufen Geld, den ich dafür hinlegen musste, eigentlich schon sehr gut sein müssen.) Außerdem schlug das Gerät nirgendwo sonst Alarm - in der Schule zum Beispiel.
Doch Steven waren die Löcher anscheinend nicht aufgefallen. Vielmehr machte er den Eindruck, als würde er einzig aus dem Grund an die Decke starren, um die Tränen zurückzuhalten. Tränen, die seiner verschwundenen Mom galten und der Tatsache, dass ich mich noch nicht einmal an unser gemeinsames Zuhause erinnerte.
Ich warf Lulu einen panischen Blick zu und sie legte für eine Millisekunde ihre Vamppose ab und sah ebenso beunruhigt aus wie ich. Was sollen wir bloß tun?, schienen wir uns gegenseitig ratlos mit unseren Blicken zu fragen. Ein großer starker Mann in Militäruniform stand mitten in unserer Girly-Wohnung… und heulte wie ein Baby! Weil er seine Mami verloren hatte!
Oh mein Gott, war das peinlich! Wie konnten mich die von Stark Enterprises nur in solch eine missliche Lage bringen? Es war ja nicht so schlimm, wenn ich den Visagisten oder Nikkis abscheulichen Exfreunden vormachen musste, dass ich sie war und nicht ich.
Aber in diesem Fall war das was ganz anderes! Der arme Kerl. Ich war ja so eine Versagerin! Ich meine, da besuchte ich eine der besten Highschools in ganz Manhattan und war eine Einserschülerin, die Leistungskurse für besonders Begabte besuchte - besser als jeder andere an der Tribeca Highschool konnte ich einen Wanzendetektor in Betrieb nehmen, einen komplexen Satz in einem Satzdiagramm darstellen, den Manolo-Tipp anwenden (was bedeutet, dass man während eines Fotoshootings am Strand auf Zehenspitzen im Wasser steht, damit die Beine länger wirken) und einfache Stringbefehle programmieren.
Aber Nikki Howards Bruder dabei helfen, seine Mom wiederzufinden? Da waren mir die Hände gebunden, und zwar wegen dieser dämlichen Verschwiegenheitsklausel, die meine Eltern auf Veranlassung von Stark unterschreiben mussten. Ich durfte kein Wort sagen - und schon gar nicht hier, in meinem Loft.
Und dann vernahm ich plötzlich ein Geräusch, das von Nikkis Bruder kam. Einen kurzen, atemlosen Moment lang war ich der Auffassung, es sei ein Schluchzen gewesen. Ein einziger Blick auf Lulu verriet mir, dass sie dasselbe dachte wie ich. Ihr war ebenfalls zum Heulen zumute. Es war aber auch zu ergreifend, dass dieser große, starke Kerl wegen seiner Mom weinte.
Es dauerte ein bis zwei Sekunden, ehe wir begriffen, dass Steven überhaupt nicht weinte. Nein, er lachte.
Allerdings nicht wie jemand, der irgendetwas unglaublich komisch fand.
»Du bist schon echt ein fieses Stück, Nik«, brachte er schließlich hervor und wandte den Blick endlich von der Decke ab. Und tatsächlich, da waren Tränen in seinen Augen. Allerdings waren es Tränen der Freude. »Du schämst dich echt so sehr wegen deiner Herkunft, dass du niemandem je ein Wort davon erzählt hast, wo du geboren bist? Nicht einmal deiner besten Freundin?«
Ich blinzelte ihn verwirrt an. Augenblick. Er lachte?
»Moment mal.« Lulu beugte sich auf ihrem Hocker vor. »Du lachst?«
»Aber klar doch«, rief Steven. »Wie kannst du nur so ernst bleiben? Weißt du eigentlich, dass das Mädchen hier immer allen Leuten weismachen wollte, sie komme aus New York, schon als wir noch klein waren? So sehr schämte sie sich, dass sie in Wirklichkeit aus Gasper stammte. Wundert mich gar nicht, dass sie es dir nie erzählt hat.«
Lulu sah zu mir herüber. »Stimmt das, Nikki?«, fragte sie zaghaft. »Du hast den Leuten schon immer erzählt, du wärst von hier?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich aufgebracht. Ich konnte es nicht fassen, dass ich echt geglaubt hatte, Nikkis Bruder würde weinen, obwohl er in Wirklichkeit die ganze Zeit lachte - und zwar über mich! »Ich leide unter Gedächtnisverlust, schon vergessen?«
»Ja, das hat sie getan«, antwortete Steven an meiner Stelle auf Lulus Frage. Nun schenkte er mir keinerlei Beachtung mehr, sondern sah nur Lulu an. »Kann es sein, dass sie dir noch nicht einmal erzählt hat, dass sie einen Bruder hat?«
Lulu schüttelte fassungslos den Kopf. Gleichzeitig war sie hocherfreut, dass er ihr endlich seine Aufmerksamkeit schenkte. Ihre braunen Augen wirkten riesengroß, weil das Make-up von letzter Nacht um ihre Augen herum verwischt war - ziemlich sexy. Mit ihrem zarten Puppengesicht sah sie wie immer bezaubernd aus.
»Neeee«, schnurrte sie. Sie stützte sich mit einem Ellbogen auf der Theke ab und vergrub ihr spitzes Kinn in ihrer Hand, damit sie ihn von unten anhimmeln konnte. »Ich würde mich doch daran erinnern, wenn sie mir erzählt hätte, dass sie mit jemandem wie dir aufgewachsen ist.«
Steven schnaubte verächtlich und warf mir einen angewiderten Blick zu. Typisch, schien er mir zu sagen.
Na toll. Jetzt verbündeten sich meine Mitbewohnerin und mein eigener Bruder schon gegen mich.
Das war echt so was von unfair. Mir wurde die Schuld für Dinge in die Schuhe geschoben, die ich gar nicht verbrochen hatte. Nikki hatte sie verbrochen!
Oder etwa nicht?
»Sieh mal, ich will ja nicht unhöflich sein oder so …«, erklärte ich jetzt. Dabei wusste ich genau, dass es absolut mies war, einen Satz mit diesen Worten zu beginnen. Denn wenn man behauptet: »Ich möchte ja nicht unhöflich sein«, dann wird das, was man gleich sagen wird, logischerweise total unhöflich sein. Das war etwas, was die »Lebenden Toten«, und insbesondere Whitney Robertson, mir beigebracht hatten, denn die schickte all ihren unverschämten Gehässigkeiten stets die Worte »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber …« voraus.
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber hast du dir schon mal überlegt, ob du nicht eine Diät machen solltest? Dein Po ist so riesig, man kommt im Flur ja kaum mehr an dir vorbei. Vielleicht solltest du dir ein Schild an den Hintern tackern, auf dem steht: Achtung, Schwertransport.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber hast du dir schon mal überlegt, beim Sport einen BH zu tragen? Die Dinger schleudert es dermaßen durch die Gegend, dass du irgendwann noch jemandem das Auge damit ausschlägst.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber hast du dir schon mal überlegt, dass die Tatsache, dass zu wenig Mädchen sich für die naturwissenschaftlichen Fächer interessieren, vielleicht daran liegt, dass sie keinen Bock haben, weil du dich ständig darüber aufregst? Vielleicht haben sie ja keine Lust, sich mit Mädchen wie dir abzugeben.«
Doch obwohl Whitneys »Ich will ja nicht unhöflich sein« mich schon so viele Male verletzt hatte, sagte ich jetzt exakt die gleichen Worte - und zwar ausgerechnet zu meinem eigenen Bruder. Na ja, zu Nikkis Bruder.
»… aber woher soll ich eigentlich wissen, dass du bist, wer du behauptest zu sein?«, erkundigte ich mich.
Der Unterschied zwischen Whitney und mir war jedenfalls, dass ich mich für mein »Ich will ja nicht unhöflich sein« schämte. Und das tat ich wirklich.
Trotzdem: Woher wollte ich denn auch wissen, dass Steven tatsächlich Nikkis Bruder war? Ich meine, klar wirkte er ehrlich, und klar, er sah echt fast so aus wie das Gesicht, das ich jeden Tag im Spiegel sah. (Und in einem ganzen Haufen Magazinen, auf Anzeigetafeln, auf Bussen und, okay, so gut wie überall.)
Aber seit Wochen tauchten nun immer wieder irgendwelche Jungs (und auch Mädchen) in der Lobby unseres Hauses auf und erzählten mir lang und breit, dass sie mit mir verwandt wären. Woher sollte ich also wissen, dass der Typ hier jetzt echt war?
Und außerdem, ich meine, ich wusste aufgrund der Reaktionen von so ziemlich jedem (außer Brandon), dass Nikki zu ihrer Zeit ein ganz schönes Biest gewesen sein musste.
Trotzdem fiel es mir schwer, zu glauben, dass sie ihren eigenen großen Bruder aus ihrem Leben verbannt hatte … ganz zu schweigen davon, dass sie ihn ihrer besten Freundin gegenüber nie erwähnt haben sollte. Die warf mir im Übrigen gerade einen absolut erstaunten Blick wegen des »Ich will ja nicht unhöflich sein« zu.
»Nikki!«, kreischte Lulu schrill. »Selbstverständlich ist Steven der, der er behauptet zu sein! Wie kannst du daran nur zweifeln?«
»Na ja«, sagte ich achselzuckend. Ich fühlte mich mies, total mies, weil ich diese Frage hatte stellen müssen. Also echt. Wenn Nikki irgendwo im Loft ein Familienfoto gehabt hätte neben den ganzen Zeitungsausschnitten, in denen es nur um sie selbst ging, dann wäre mir das alles erspart geblieben. Doch nichts von all dem war meine Schuld. »Tut mir leid. Doch du musst zugeben, Lu, dass in letzter Zeit echt viele Typen mit ganz ähnlichen Storys hier ankamen, und ich versuch ja nur…«
Meine Stimme versagte. Der Grund hierfür war, dass Steven seine Brieftasche aus seiner Gesäßtasche hervorgezogen und ein Schulfoto darin aufgeklappt hatte. Darauf war ein junges blondes Mädchen mit Zöpfen und einer Zahnspange zu sehen. Er hielt mir das Foto direkt unter die Nase.
Sekunde. Was ist das denn?