VIER
Tja, das erklärte wenigstens, warum er mir die
ganze Zeit so finstere Blicke zugeworfen hatte.
Was er auch weiterhin tat, nachdem ich ihn mit hoch
in mein Loft genommen hatte. Nicht dass ich ihm daraus einen
Vorwurf machte. Ich wusste nicht so recht, was ich zu ihm sagen
sollte. Nervös rannte ich hin und her und machte ihm einen Espresso
mit unserer Deluxe-Cappuccino/Espresso-Maschine, die mir Lulu erst
vor Kurzem erklärt hatte. Aber eher, weil mir sonst nichts einfiel.
Ich meine, ich hatte noch nie in meinem Leben einen großen Bruder
gehabt. Und schon gar nicht einen großen Bruder, der total sauer
auf mich war, weil ich unsere Mutter aus den Augen verloren hatte.
Offensichtlich war Nikki für sie verantwortlich, solange er Dienst
hatte.
Er schien nicht allzu begeistert von dem Espresso
zu sein, doch wenigstens hatte er jetzt endlich die Erklärung mit
dem Gedächtnisverlust geschluckt. Na ja, zumindest ansatzweise.
Lulu war mir in der Hinsicht eine riesige Hilfe gewesen. Sie war
nämlich in genau dem Moment aus ihrem Zimmer gestolpert, als ich
die Espressomaschine in Gang setzen wollte. (Und zwar mit nichts
bekleidet als mit einem hauchzarten pfirsichfarbenen Hemdchen und
French Knickers. Ihr
Haar sah irgendwie ziemlich verrückt aus, weil sie offensichtlich
gerade erst aufgewacht war, obwohl es bereits zwei Uhr nachmittags
war - was für sie ehrlich gesagt noch recht früh ist.) Lulu warf
nur einen kurzen Blick auf den uniformierten Mann, der eine Menge
Raum einnahm in unserem Wohnzimmer (nicht dass er fett gewesen
wäre, er war einfach nur groß und muskulös und … na ja, die Art von
Kerl, die eben viel Raum einnahm). Und dann sagte sie: »Aber
Hall-loooo, wen haben wir denn da?« und strahlte über das ganze
Gesicht.
Ich wollte ihr schon zuraunen: Nicht jetzt,
Lulu, denn ich wusste nur zu genau, was sie vorhatte. Lulu
machte sich innerlich bereit, alles zu tun, damit Steven sich in
sie verliebte. So wie bei allen süßen Typen, die ihr über den Weg
liefen. Dafür zu sorgen, dass süße Typen sich in sie verliebten,
war eins von Lulus liebsten Hobbys, neben Shoppen, Mojitos trinken
und gelegentlich ein paar Songs für ein Album aufnehmen, das nie
fertig zu werden schien.
Aber ich hätte mir gar keine Gedanken zu machen
brauchen. Denn Steven - Nikkis Bruder - war völlig desinteressiert.
Er sagte nur »Hi« zu Lulu und fing dann wieder mit derselben Leier
an wie schon im Aufzug nach oben, echt nervig. Ständig fragte er
mich: »Amnesie? So wie das die Leute in den Soaps immer
kriegen?«
»Nicht ganz«, versicherte ich ihm. Obwohl, so wie
ich das verstanden habe, gibt es so etwas eigentlich gar nicht
wirklich. Na gut, natürlich gibt es Amnesien, aber nicht so, wie es
bei Nikki Howard angeblich gewesen war. Leute stoßen sich nicht
einfach den Kopf und vergessen dann nur einen Teil ihres Wissens,
sondern sie vergessen alles, wenn sie unter
Gedächtnisverlust leiden. Einschließlich ihres eigenen Namens und
des Landes, in dem sie leben. Manchmal vergessen sie sogar, wie man
sich die Schuhe zubindet.
»Und du willst mir also erzählen, du erinnerst dich
nicht, dass du versprochen hast, dich um Mom zu kümmern, während
ich weg bin«, fing Steven wieder an, »dass du aufpassen wolltest,
dass sie ihre Miete pünktlich zahlt und dass mit dem Hundesalon
alles glattläuft?« Dabei ignorierte er Lulu komplett, die jetzt in
ihrem seidig glänzenden Outfit und mit Slippern mit Federn an ihm
vorbeistolzierte.
Ein Hundesalon? Nikki Howards Mutter war Inhaberin
eines Hundesalons? Es wäre ganz schön gewesen, wenn man mir
das mitgeteilt hätte - genau wie die Tatsache, dass Nikki einen
Bruder in der Navy hatte -, und zwar ein wenig früher als, sagen
wir, gerade jetzt. Das Einzige, was man mir jemals mitgeteilt
hatte, war, dass Nikki eine emanzipierte Minderjährige war, die
sich mit ihrer Familie nie so recht verstanden hatte.
Aus diesem Grund warf ich Lulu nun einen finsteren
Blick zu, als sie auf einen der Barhocker in der Küche hopste.
Dabei achtete sie übrigens peinlich darauf, ihre sprühgebräunten
Beine so übereinanderzuschlagen, dass Steven einen möglichst guten
Blick darauf hatte. Allerdings achtete Lulu überhaupt nicht auf
mich, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den gut aussehenden
blonden jungen Mann in Uniform gerichtet, der mitten in unserem
Wohnzimmer stand.
»Äh«, setzte ich an, während ich mit der
Espressomaschine kämpfte. Was besser war, als sich auf den Ärger zu
konzentrieren, der hier brodelte. Nett von Nikki übrigens, dass sie
eine ganze Schublade voll mit Zeitungsausschnitten hatte, in denen
sie erwähnt war, aber kein einziges Foto von ihrer eigenen Familie
besaß. »Bis du mir das vorhin sagtest, wusste ich noch nicht
einmal, dass ich einen Bruder habe. Die Antwort lautet also
folglich: Nein, ich kann mich nicht erinnern, dir das je
versprochen zu haben. Ich weiß auch
nichts von Mom und ihrem Hundesalon, wenn du es genau wissen
willst.«
»Sag mal, was für einen Rang hast du eigentlich?«,
fragte Lulu nun. Dabei musterte sie Steven eingehend von oben bis
unten, der mit verschränkten Armen dastand, was seinen Bizeps unter
seiner Uniform schön zur Geltung kommen ließ. Lulu schien ihren Fuß
nicht mehr stillhalten zu können, sodass einer ihrer Federslipper
ständig auf und ab hüpfte, was mir ziemlich auf die Nerven ging.
Das machte sie natürlich absichtlich, um Stevens Blick auf ihre
frisch enthaarten Beine zu lenken.
Doch Steven ignorierte sie weiterhin.
»Und was ist mit den ganzen Nachrichten, die ich
dir hinterlassen habe«, erkundigte er sich bei mir. »Fandest du es
besser, sie schlichtweg zu ignorieren?«
»Ich bekomme haufenweise Nachrichten von Typen, die
ich nicht kenne«, erklärte ich ihm. Es war fürchterlich. »Sie
behaupten alle, dass sie mit mir verwandt sind und dass ich ihnen
wegen irgendwas Geld schulde. Ich hab schon vor langer Zeit
aufgehört damit, mir Nikkis - äh, ich meine natürlich, mir meine
Nachrichten anzuhören.«
»Na toll«, knurrte Steven. Er wandte sich ab und
fuhr sich mit einer Hand durchs Haar… Haar, das von derselben Farbe
und Textur war, so stellte ich fest, wie das Haar auf meinem
eigenen Kopf. Nur dass man sein Haar nicht mit ein paar
honigblonden Strähnchen verschönert hatte. »Das ist ja fantastisch.
Hast du die noch? Ich meine diese ganzen Nachrichten. Vielleicht
hat Mom ja versucht, dich zu erreichen, und hat dir eine Nachricht
hinterlassen, um dir mitzuteilen, wohin sie verschwunden
ist.«
»Bist du vielleicht so was wie ein Offizier?«,
löcherte Lulu Steven weiter, wobei ihr Fuß immer noch nervös auf
und ab
wippte. Mir fiel auf, dass sie sich eine Pediküre hatte machen
lassen - ihre Nägel waren rosa wie ein Paar Ballettschuhe. Keine
Ahnung, woher ich solche Dinge weiß, wo ich doch noch vor drei
Monaten den Unterschied zwischen den verschiedenen Nagellackfarben
nicht hätte sagen können - und wenn man mir eine Pistole an die
Schläfe gehalten hätte. »Erteilst du den Leuten den ganzen Tag
Befehle? Ich lass mir von Männern gern was befehlen. Das ist so
verdammt sexy.«
»Entschuldige«, sagte ich und meinte damit
gleichzeitig meine nervige Mitbewohnerin und das, was ich ihm
gleich sagen würde. Denn es tat mir tatsächlich leid. Beides. »Ich
habe die ganzen Nachrichten von Nikki - äh, meine ganzen
Nachrichten gelöscht. Aber« - ich schob eine winzige Espressotasse
unter den entsprechenden Ausgießer und drückte auf die Taste mit
dem kleinen Tassensymbol - »ich bin mir sicher, dass sie noch
einmal anrufen wird. Okay?«
Steven schüttelte den Kopf und sah erschöpfter aus
denn je. Er ließ sich auf einem der Barhocker in der Küche nieder,
weil er sich scheinbar kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Lulu
sah erleichtert aus, denn er hatte sich nur zwei Hocker neben dem
ihren hingesetzt. Offenbar entging ihr das subtile Signal, dass er
ausgerechnet den Stuhl gewählt hatte, der am weitesten von
ihrem entfernt war. Sie begab sich unverzüglich in eine aufrechtere
Position, um ihren Brustbereich besser zur Geltung bringen zu
können. Gleichzeitig warf sie ihm ihr strahlendstes Lächeln zu, das
er jedoch geflissentlich ignorierte.
»Du leidest tatsächlich unter Amnesie«,
sagte er nun zu mir. Ihm stand die schiere Verzweiflung ins Gesicht
geschrieben. Ich hatte solches Mitleid mit ihm, dass mein Herz sich
verkrampfte. »Mom ruft nie ein zweites Mal an. Sie hat immer
schon bloß ein einziges Mal angerufen, und das war’s dann. Warum,
denkst du, bin ich hier, um zu sehen, ob sie sich bei dir gemeldet
hat, statt zu Hause in Gasper auf einen Anruf von ihr zu
warten?«
Lulu hatte völlig vergessen, dass sie Steven
eigentlich dazu bringen wollte, sich in sie zu verlieben, und
verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke. »Hast du da gerade
was von G-Gasper gesagt?«, brachte sie keuchend zwischen ein paar
Hustern hervor.
Steven sah sie jetzt doch mal kurz an, dann blickte
er wieder zurück zu mir. »Du hast ihr nie davon erzählt?«, meinte
er. Das klang eher wie eine Feststellung denn wie eine Frage. Sie
brachte mich dazu, zu zögern, als ich den Espresso mit der
vollendeten Schaumkrone vor ihn hinstellte.
»Äh … offensichtlich nicht«, erklärte ich. Ich
hatte selbstverständlich keine Ahnung, wovon er nun wieder sprach,
da ich ja nicht wirklich seine Schwester war. Seine Schwester war
tot. Oder zumindest befand sich ihr Gehirn, eingelegt in
Formaldehyd, in einem Glasbehälter irgendwo im tiefsten Inneren des
Stark Institutes für Neurologie und Neurochirurgie, obwohl der Rest
von ihr mit meinem Gehirn durch die Gegend lief, ihre Kreditkarten
benutzte und ihrem Bruder Espresso servierte.
Somit war sie also tot genug.
Nur dass ich das ihrem Bruder ja schlecht sagen
konnte.
Steven blickte mich über seinen dampfenden Espresso
hinweg an, als könne er nicht so recht glauben, was er da eben
gehört hatte.
»Sekunde«, meinte er und blickte mich mit seinen
blauen Augen ungläubig an. »Du kannst dich nicht mal an dein
Zuhause erinnern?«
Zögerlich schüttelte ich den Kopf. Ich wollte ihm
nicht
wehtun. Denn wenn man ehrlich war, machte er den Eindruck, als
hätte man ihm schon ziemlich oft wehgetan.
Andererseits konnte ich ihm aber auch nicht ins
Gesicht lügen, ganz gleich wie sehr Stark Enterprises mich dazu
drängte.
Und auf einmal wusste ich, wo ich diese Augen schon
einmal gesehen hatte: nämlich im Spiegel, jedes Mal wenn ich mich
darin betrachtete. Er hatte Nikkis Augen.
Nur dass er kein
Chanel-Inimitable-Multi-Dimensional-Mascara im Farbton Noir-Black
auf den Wimpern trug.
Steven verschränkte die Arme, lehnte sich hinten an
den Barhocker und starrte an die Decke. Einen Moment lang überlegte
ich, ob ihm wohl dasselbe auffiel wie mir vor ein paar Tagen, als
ich nach Hause kam: die zwei kleinen runden Löcher, nicht viel
größer als ein Penny, zu beiden Seiten der in die Decke
eingelassenen Halogenleuchten. Die waren vorher noch nicht da
gewesen und ganz offensichtlich aufgefüllt worden, aber mehr
schlecht als recht und anscheinend in Eile, als hätte jemand etwas
darin einbauen wollen und dann erfahren, dass eine der
Bewohnerinnen des Lofts früher nach Hause kommen würde.
Wozu waren diese Löcher gut? Sie waren zu weit
oben, als dass ich jemals raufklettern und sie mir selbst ansehen
hätte können - die Decke war mindestens sechs Meter hoch.
Aber sie konnten unmöglich einem bestimmten Zweck
dienen - es sei denn, sie hatten etwas mit den ruchlosen
Machenschaften von Stark Enterprises zu tun. Oder aber ich war
einfach nur paranoid. Als ich Karl nach den Löchern gefragt hatte,
checkte er den Wartungskalender und erklärte mir, dass das Ganze
nach einer Routineüberprüfung der elektrischen Leitungen
aussah.
Elektrische Leitungen, logo.
Vielleicht war diese »Routinekontrolle« aber auch
verantwortlich dafür, dass der FM-Transmitter beziehungsweise der
Wanzendetektor, den ich mir in einem der Läden für
Überwachungsanlagen in Midtown besorgt hatte, nachdem ich die
Löcher in der Decke bemerkt und die Paranoia von mir Besitz
ergriffen hatte, jedes Mal durchdrehte, wenn ich ihn innerhalb des
Lofts anstellte. Entweder war die Bude voll mit Abhörgeräten oder
der Detektor selbst war der reinste Schrott. (Allerdings hätte er
für den Haufen Geld, den ich dafür hinlegen musste, eigentlich
schon sehr gut sein müssen.) Außerdem schlug das Gerät nirgendwo
sonst Alarm - in der Schule zum Beispiel.
Doch Steven waren die Löcher anscheinend nicht
aufgefallen. Vielmehr machte er den Eindruck, als würde er einzig
aus dem Grund an die Decke starren, um die Tränen zurückzuhalten.
Tränen, die seiner verschwundenen Mom galten und der Tatsache, dass
ich mich noch nicht einmal an unser gemeinsames Zuhause
erinnerte.
Ich warf Lulu einen panischen Blick zu und sie
legte für eine Millisekunde ihre Vamppose ab und sah ebenso
beunruhigt aus wie ich. Was sollen wir bloß tun?, schienen wir uns
gegenseitig ratlos mit unseren Blicken zu fragen. Ein großer
starker Mann in Militäruniform stand mitten in unserer
Girly-Wohnung… und heulte wie ein Baby! Weil er seine Mami verloren
hatte!
Oh mein Gott, war das peinlich! Wie konnten mich
die von Stark Enterprises nur in solch eine missliche Lage bringen?
Es war ja nicht so schlimm, wenn ich den Visagisten oder Nikkis
abscheulichen Exfreunden vormachen musste, dass ich sie war und
nicht ich.
Aber in diesem Fall war das was ganz anderes! Der
arme Kerl. Ich war ja so eine Versagerin! Ich meine, da besuchte
ich
eine der besten Highschools in ganz Manhattan und war eine
Einserschülerin, die Leistungskurse für besonders Begabte besuchte
- besser als jeder andere an der Tribeca Highschool konnte ich
einen Wanzendetektor in Betrieb nehmen, einen komplexen Satz in
einem Satzdiagramm darstellen, den Manolo-Tipp anwenden (was
bedeutet, dass man während eines Fotoshootings am Strand auf
Zehenspitzen im Wasser steht, damit die Beine länger wirken) und
einfache Stringbefehle programmieren.
Aber Nikki Howards Bruder dabei helfen, seine Mom
wiederzufinden? Da waren mir die Hände gebunden, und zwar wegen
dieser dämlichen Verschwiegenheitsklausel, die meine Eltern auf
Veranlassung von Stark unterschreiben mussten. Ich durfte kein Wort
sagen - und schon gar nicht hier, in meinem Loft.
Und dann vernahm ich plötzlich ein Geräusch, das
von Nikkis Bruder kam. Einen kurzen, atemlosen Moment lang war ich
der Auffassung, es sei ein Schluchzen gewesen. Ein einziger Blick
auf Lulu verriet mir, dass sie dasselbe dachte wie ich. Ihr war
ebenfalls zum Heulen zumute. Es war aber auch zu ergreifend, dass
dieser große, starke Kerl wegen seiner Mom weinte.
Es dauerte ein bis zwei Sekunden, ehe wir
begriffen, dass Steven überhaupt nicht weinte. Nein, er
lachte.
Allerdings nicht wie jemand, der irgendetwas
unglaublich komisch fand.
»Du bist schon echt ein fieses Stück, Nik«, brachte
er schließlich hervor und wandte den Blick endlich von der Decke
ab. Und tatsächlich, da waren Tränen in seinen Augen. Allerdings
waren es Tränen der Freude. »Du schämst dich echt so sehr wegen
deiner Herkunft, dass du niemandem je ein Wort davon erzählt hast,
wo du geboren bist? Nicht einmal deiner besten Freundin?«
Ich blinzelte ihn verwirrt an. Augenblick. Er
lachte?
»Moment mal.« Lulu beugte sich auf ihrem Hocker
vor. »Du lachst?«
»Aber klar doch«, rief Steven. »Wie kannst du nur
so ernst bleiben? Weißt du eigentlich, dass das Mädchen hier immer
allen Leuten weismachen wollte, sie komme aus New York, schon als
wir noch klein waren? So sehr schämte sie sich, dass sie in
Wirklichkeit aus Gasper stammte. Wundert mich gar nicht, dass sie
es dir nie erzählt hat.«
Lulu sah zu mir herüber. »Stimmt das, Nikki?«,
fragte sie zaghaft. »Du hast den Leuten schon immer erzählt, du
wärst von hier?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich
aufgebracht. Ich konnte es nicht fassen, dass ich echt geglaubt
hatte, Nikkis Bruder würde weinen, obwohl er in Wirklichkeit die
ganze Zeit lachte - und zwar über mich! »Ich leide unter
Gedächtnisverlust, schon vergessen?«
»Ja, das hat sie getan«, antwortete Steven an
meiner Stelle auf Lulus Frage. Nun schenkte er mir keinerlei
Beachtung mehr, sondern sah nur Lulu an. »Kann es sein, dass sie
dir noch nicht einmal erzählt hat, dass sie einen Bruder
hat?«
Lulu schüttelte fassungslos den Kopf. Gleichzeitig
war sie hocherfreut, dass er ihr endlich seine Aufmerksamkeit
schenkte. Ihre braunen Augen wirkten riesengroß, weil das Make-up
von letzter Nacht um ihre Augen herum verwischt war - ziemlich
sexy. Mit ihrem zarten Puppengesicht sah sie wie immer bezaubernd
aus.
»Neeee«, schnurrte sie. Sie stützte sich mit einem
Ellbogen auf der Theke ab und vergrub ihr spitzes Kinn in ihrer
Hand, damit sie ihn von unten anhimmeln konnte. »Ich würde mich
doch daran erinnern, wenn sie mir erzählt hätte, dass sie mit
jemandem wie dir aufgewachsen ist.«
Steven schnaubte verächtlich und warf mir einen
angewiderten Blick zu. Typisch, schien er mir zu
sagen.
Na toll. Jetzt verbündeten sich meine Mitbewohnerin
und mein eigener Bruder schon gegen mich.
Das war echt so was von unfair. Mir wurde die
Schuld für Dinge in die Schuhe geschoben, die ich gar nicht
verbrochen hatte. Nikki hatte sie verbrochen!
Oder etwa nicht?
»Sieh mal, ich will ja nicht unhöflich sein oder so
…«, erklärte ich jetzt. Dabei wusste ich genau, dass es absolut
mies war, einen Satz mit diesen Worten zu beginnen. Denn wenn man
behauptet: »Ich möchte ja nicht unhöflich sein«, dann wird
das, was man gleich sagen wird, logischerweise total unhöflich
sein. Das war etwas, was die »Lebenden Toten«, und insbesondere
Whitney Robertson, mir beigebracht hatten, denn die schickte all
ihren unverschämten Gehässigkeiten stets die Worte »Ich will ja
nicht unhöflich sein, aber …« voraus.
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber
hast du dir schon mal überlegt, ob du nicht eine Diät machen
solltest? Dein Po ist so riesig, man kommt im Flur ja kaum mehr an
dir vorbei. Vielleicht solltest du dir ein Schild an den Hintern
tackern, auf dem steht: Achtung, Schwertransport.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber
hast du dir schon mal überlegt, beim Sport einen BH zu tragen? Die
Dinger schleudert es dermaßen durch die Gegend, dass du irgendwann
noch jemandem das Auge damit ausschlägst.«
»Ich will ja nicht unhöflich sein, Em, aber
hast du dir schon mal überlegt, dass die Tatsache, dass zu wenig
Mädchen sich für die naturwissenschaftlichen Fächer interessieren,
vielleicht daran liegt, dass sie keinen Bock haben, weil du dich
ständig darüber aufregst? Vielleicht haben sie ja keine Lust, sich
mit Mädchen wie dir abzugeben.«
Doch obwohl Whitneys »Ich will ja nicht unhöflich
sein« mich schon so viele Male verletzt hatte, sagte ich jetzt
exakt die gleichen Worte - und zwar ausgerechnet zu meinem eigenen
Bruder. Na ja, zu Nikkis Bruder.
»… aber woher soll ich eigentlich wissen, dass du
bist, wer du behauptest zu sein?«, erkundigte ich mich.
Der Unterschied zwischen Whitney und mir war
jedenfalls, dass ich mich für mein »Ich will ja nicht unhöflich
sein« schämte. Und das tat ich wirklich.
Trotzdem: Woher wollte ich denn auch wissen, dass
Steven tatsächlich Nikkis Bruder war? Ich meine, klar wirkte
er ehrlich, und klar, er sah echt fast so aus wie das Gesicht, das
ich jeden Tag im Spiegel sah. (Und in einem ganzen Haufen
Magazinen, auf Anzeigetafeln, auf Bussen und, okay, so gut wie
überall.)
Aber seit Wochen tauchten nun immer wieder
irgendwelche Jungs (und auch Mädchen) in der Lobby unseres Hauses
auf und erzählten mir lang und breit, dass sie mit mir verwandt
wären. Woher sollte ich also wissen, dass der Typ hier jetzt echt
war?
Und außerdem, ich meine, ich wusste aufgrund der
Reaktionen von so ziemlich jedem (außer Brandon), dass Nikki zu
ihrer Zeit ein ganz schönes Biest gewesen sein musste.
Trotzdem fiel es mir schwer, zu glauben, dass sie
ihren eigenen großen Bruder aus ihrem Leben verbannt hatte … ganz
zu schweigen davon, dass sie ihn ihrer besten Freundin gegenüber
nie erwähnt haben sollte. Die warf mir im Übrigen gerade einen
absolut erstaunten Blick wegen des »Ich will ja nicht unhöflich
sein« zu.
»Nikki!«, kreischte Lulu schrill.
»Selbstverständlich ist Steven der, der er behauptet zu sein! Wie
kannst du daran nur zweifeln?«
»Na ja«, sagte ich achselzuckend. Ich fühlte mich
mies, total mies, weil ich diese Frage hatte stellen müssen. Also
echt. Wenn Nikki irgendwo im Loft ein Familienfoto gehabt hätte
neben den ganzen Zeitungsausschnitten, in denen es nur um sie
selbst ging, dann wäre mir das alles erspart geblieben. Doch nichts
von all dem war meine Schuld. »Tut mir leid. Doch du musst
zugeben, Lu, dass in letzter Zeit echt viele Typen mit ganz
ähnlichen Storys hier ankamen, und ich versuch ja nur…«
Meine Stimme versagte. Der Grund hierfür war, dass
Steven seine Brieftasche aus seiner Gesäßtasche hervorgezogen und
ein Schulfoto darin aufgeklappt hatte. Darauf war ein junges
blondes Mädchen mit Zöpfen und einer Zahnspange zu sehen. Er hielt
mir das Foto direkt unter die Nase.
Sekunde. Was ist das denn?